als Vater und Sohn, die uns eine Neurose namens Pflichtgefühl vorgeschrieben hatte.« Aus der Ich-Perspektive dieses Kaspar Nieć – eines etwas ziellos vor sich hin studierenden Taugenichts, der von Menschen, besonders von Frauen, weitaus weniger versteht als von Pferden – und mit nostalgisch-melancholischen Reminiszenzen ans 19. Jahrhundert, die große Epoche der Pferdekutschen, erzählt Marjana Gaponenko ihre makabre Geschichte. Die spielt zwar am Anfang des 21. Jahrhunderts, aber das merkt man oft nur an den diskreten Anspielungen auf Computerspiele und Comicfiguren. In diesem springlebendigen, aspektreichen und bunten, immer von einer gehörigen Portion schwarzen Humors grundierten Roman, der großes Pathos und ganz großes Kino nicht scheut, beides aber mit ätzendem Witz und bissiger Ironie relativiert, mischen sich Gegenwart und Vergangenheit. Und es entsteht, hingetupft mit leichter Hand, ein witzig und süffisant gezeichnetes Gesellschaftsporträt, wie man es in letzter Zeit wohl kaum gelesen hat – äußerst amüsant und zugleich abgrundtief schockierend, von ähnlicher Wirkung wie manche Gemälde von Otto Dix aus den Zwanzigerjahren. Will man sich wirklich an der abgetakelten »Gelsenbar« ein Eis kaufen und ein »Freistil-Damenderby« besuchen? »Sich an ihren Champagnergläsern festhaltend, fieberten die Damen dem Rennen entgegen. Sie würden daran teilnehmen, weil es >a richtige Gaudi< war … Der Geruch abgestandenen Parfüms mischte sich mit den Alkoholausdünstungen der Männer.« Will man Adam mit seinen gebleachten Zähnen beim Weinen zuschauen? »Seine Augen waren mit einem Mal klein und traubenmosttrüb. So sah er auf verblüffende Art Stardust ähnlich, dem uralten Huzulenpony mit fortgeschrittener Mondblindheit.« Auch ob man sich als älterer Mensch mit ersten Anzeichen von Demenz tatsächlich in die Obhut einer Donezker Krankenschwester namens Nadja begeben möchte, wird man sich nach der Lektüre dieses Romans noch einmal überlegen.
Die Sache endet spektakulär. Vater und Sohn liefern sich ein letztes Kutschrennen, die Pferde geraten in Panik, Kaspar kommt unter die Räder. »Nicht nur abgeklemmt, sondern zermalmt waren die Arme.« Als er nach einer Woche im künstlichen Koma wieder zu sich kommt, hat er keine mehr. Kann es für einen leicht schnöseligen Nichtsnutz ein böseres Erwachen geben? Eigentlich nicht. Doch siehe da, irgendwann kriegt Kaspar wieder die Kurve: Er wird weiterleben, zeitweise sogar fröhlich. Es ist nicht ohne Hintersinn, dass diese Nadja mit vollem Namen »Nadjeschda« heißt – auf Russisch bedeutet das »Hoffnung«. Marjana Gaponenko versteht sich darauf, die Höhen eines Menschenlebens ebenso packend und faszinierend zu schildern wie die Tiefen. Und dabei nichts ernster zu nehmen als unbedingt nötig.
Marjana Gaponenko: Das letzte Rennen. Roman. München 2016: C. H. Beck Verlag. 266 S.
Schau heimwärts, Engel! Ein Bibliothekarsroman von Marjana Gaponenko
Am Ende dankt die Autorin unter anderem dem Augustiner-Chorherrenstift Klosterneuburg – und ihrer einäugigen Katze Lilly. Einäugig ist auch der Held ihres jüngsten Romans, der Mediävist, Bibliothekar, Sammler, Katalogisierer und heimliche Gottsucher Ernest Herz. Er hat sich, erschöpft und enttäuscht von seinem ausschweifenden Liebesleben, als Leiter der Bibliothek ins »Stift W.« gerettet, einem verwunschenen und geheimnisvollen, wie Franz Kafkas Sterbeort an der Donau gelegenen Schauplatz skurriler Geschehnisse. Aber das weiß der »Dorfgescheite« noch nicht, wenngleich er bereits ahnt, dass es mit einer beschaulichen, ganz dem Geist und den alten Büchern gewidmeten zweiten Lebenshälfte nichts Rechtes werden wird: »Nun heißt es, sich sammeln, ora et labora, Sodom und Gomorra.« Pünktlich zum elften November, dem Martinstag und Beginn des Karnevals, nimmt die groteske Romanfarce Fahrt auf, und rasch gerät man hinein in einen theologisch fundierten Klosterkrimi, der auch eine Eltern-Sohn-Geschichte ist und eine Migrationsgeschichte dazu. Nicht nur Franz Kafka und Umberto Eco lassen grüßen, auch ein verdächtiger Pudel spukt herum, und nicht ohne Hintersinn zieht ein Dampfer mit der Aufschrift »Ukraina« vorüber.
Marjana Gaponenko ist seit ihrem preisgekrönten Roman Wer ist Martha? (2012) als ernsthafte Schriftstellerin ohne jede Angst vor Kitsch und Kolportage bekannt. Der Dorfgescheite bestätigt diesen Ruf. Ernest Herz stellt bald fest, dass seine Vorstellungen von einer zeitgemäßen Bibliothek vom undurchsichtigen Stiftsprälaten und dessen abgründigem Personalchef Schmalbacher nicht geteilt werden, dass sein Telefunkengerät nur noch »Radio Gabriel« empfangen kann und dass der spektakuläre Suizid seines polnischen Vorgängers Mrozek eine äußerst merkwürdige Vorgeschichte hatte. Irgendwie hängt sie zusammen mit dem Dialogus miraculorum (1219–1223) des Caesarius von Heisterbach, einem Bestseller des Mittelalters, in dem die Darstellungen des Bösen und Unheimlichen, des Lasters und der Hölle die des Erfreulichen und Heiteren bei Weitem überwiegen. Im Aschekasten seines Kachelofens findet Herz ein wertvolles Exemplar dieses Werks, das sein Vorgänger irgendwo entwendet und mit der Inschrift »Lammengel, heile einen blinden Sünder!« versehen hat. Damit kommt das zwischen Bordell und Pilgerherberge gelegene Gast- und Likörhaus »Zum Lamm« ins Spiel. Weiß der junge, zarte und scheue Kellner Raphael, schön wie ein Erzengel und in sich eingemauert wie ein Autist, mehr über den Dialogus des Mönchs von Heisterbach und das grausame Ende des ihm mit Haut und Haaren verfallenen Mrozek? Immer mehr vernachlässigt Ernest Herz seine Bibliotheksarbeit, immer öfter hängt er im »Lamm« herum, immer häufiger werden die Rausch- und Traumsequenzen im Text. Ist der lebenslang seiner katastrophalen Kindheit und Jugend nicht wirklich entronnene »Dorfgescheite«, der mit seinen in der Seniorenresidenz »Zur barmherzigen Dreieinigkeit« dahindämmernden Eltern immer noch nicht fertig ist, ähnlich verrückt geworden wie sein buckliger Vorgänger?
Die Autorin behält den Überblick und führt ihren Roman mit eleganter, alle Hauptmotive plausibel bündelnder Konsequenz an sein denn doch unerwartetes Ende. An dem dann auch klar wird, dass es mit der Einäugigkeit des Protagonisten mehr auf sich hat, als die lapidare Erklärung »Silvester 1985, Böller trifft Kind« besagt, und dass dieser Bibliothekarskrimi auch, wie ein Aufsatz von Ernest Herz in der fiktiven Kulturzeitschrift »Spiritus«, den Titel »Wann das Heilige uns für immer verlässt« tragen könnte. Mehr wird nicht verraten.
Schon dem Roman Das letzte Rennen (2016) wurden seine abseitigen Schauplätze und sein scheinbar randständiges Sujet vorgeworfen. Dem Dorfgescheiten, diesem intelligenten Unterhaltungsroman für Nicht-Einäugige, könnte es ähnlich ergehen. Doch so ist es eben: Vor Überraschungen ist man bei Marjana Gaponenko nie sicher. Ihre überbordende und dennoch sorgsam kalkulierte Fabulierlust ist geblieben, ebenso ihr sensationelles Talent zur knappen, mit wenigen Worten treffenden Figurenzeichnung, ihr schräger, süffisanter Witz und ihr genauer Blick für haarsträubende Details. Und die Ernsthaftigkeit? »An Gott kommt keiner vorbei«, konnte man in den 1960er-Jahren, als der legendäre Schalker Rechtsaußen »Stan« Libuda noch aktiv war, in der Nähe der Gelsenkirchener Glückauf-Kampfbahn lesen. »Außer Libuda.« Marjana Gaponenko hat versucht, an Gott vorbeizukommen. Aber sie blieb hängen – zum Glück für alle, die ebenfalls auf der Suche sind und sich mit gängigen Übereinkünften nicht abfinden wollen.
Marjana Gaponenko: Der Dorfgescheite. Ein Bibliothekarsroman. München 2018: C. H. Beck Verlag. 287 S.
So schmal wie dürftig. Impressionen aus den neuen EU-Ländern
Nicht nur in Österreich ist Karl-Markus Gauß ein angesehener Essayist und gefragter Rezensent. Große Verdienste hat er sich vor allem als Herausgeber der Salzburger Zeitschrift Literatur und Kritik erworben, und seine in mehreren Büchern aus den letzten Jahren nachzulesenden ethnografischen Erkundungen mittel-, ost- und südosteuropäischer Regionen wurden zu Recht gerühmt. Was hat ihn jetzt dazu bewogen, seinen guten Ruf leichtfertig aufs Spiel zu setzen und elf trotz Überarbeitung wenig inspirierte Kürzestfeuilletons, die fast alle in der Wiener Zeitung Der Standard erschienen sind, als eigenständiges Buch zu veröffentlichen? Es handelt sich hier nicht um eine Sammlung von »Wirtshausgesprächen«, wie der Buchtitel verheißt, auch nicht um Reportagen, sondern um ab und zu in ein Wirtshaus führende, aber auch dort meist in gähnender Langeweile und zerstreuter Beliebigkeit endende Prosaminiaturen, in denen manchmal gesucht skurrile Reiseeindrücke und oft nur vermeintlich originelle Beobachtungen aus einigen 2004 der EU beigetretenen Ländern dargeboten werden. Der Autor erzählt von Russen, Polen, Tataren und anderen Minderheiten an den