Gisbert Haefs

ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG


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hatte, nahmen alle ihre Kapuzen ab und die Frauen öffneten den mitgebrachten Picknickkorb …

      »Meine Damen und Herren, sehr geehrte Frau Polizeipräsidentin! Mein Name ist Jonathan Freud und ich freue mich, Sie als leitender Psychologe von LiveYourEmotions zu dieser Informationsveranstaltung unseres Hauses begrüßen zu dürfen.« Mit einer Handbewegung ließ der schlanke, silberblonde Mittvierziger den Monitor dunkel werden. »Thema unseres heutigen Abends ist die Kriminalität, ein Thema, so alt wie die Menschheit …«

      Er wartete einen Moment, bis sich das Raunen im Publikum gelegt hatte und alle Gläser an den kleinen Tischen nachgefüllt waren.

      »Was kann ein Start-up wie das unsrige zur Bekämpfung der Kriminalität beitragen, werden Sie sich vielleicht fragen. Nun, wir wissen inzwischen, dass Strafen aus psychologischer Sicht so gut wie nichts bewirken. Verbrechen lassen sich nur dadurch verhindern, dass man sie unmöglich macht: Autodiebstahl ist so gut wie ausgestorben, seitdem sich die Zündung nur per Netzhautscan aktivieren lässt. Shoplifting ist sinnlos geworden, seit sämtliche Waren, ob Kleidung, Musik oder Süßigkeiten, getaggt sind und sich kurz nach Verlassen des Geschäfts desintegrieren, wenn der Code an der Kassenschleuse nicht deaktiviert wird.«

      Doktor Freud hob die Stimme: »Es heißt also, es gar nicht erst zu Straftaten kommen zu lassen, sondern sie bereits im Vorfeld zu verhindern. Das funktioniert bei ›rationalen‹ Straftaten recht gut, nicht aber bei sogenannten hate crimes, wie sie eben eines auf dem Monitor gesehen haben. Und hier kommt unser Unternehmen ins Spiel.« Er machte eine Kunstpause, um sicher zu sein, dass er die allgemeine Aufmerksamkeit hatte.

      »Schon mein Urururgroßvater erkannte, dass wir angeborene sexuelle Präferenzen wie Pädophilie oder tief verwurzelte Lebenseinstellungen wie Rassismus nicht ändern können. Versuche, solche Gesinnungstäter zu ›heilen‹ oder ihnen beizubringen, ihre Gefühle zu kontrollieren, sind immer wieder glorreich gescheitert.« Er öffnete die Hände in einer kleinen hilflosen Geste. »Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich habe mehr als zehn Jahre mit straffällig gewordenen Darknet-Usern gearbeitet. Unsere Erfolgsquote lag im unteren einstelligen Bereich – und das waren wahrscheinlich auch nur Spontanheilungen. Das Darknet und die, die sich darin tummeln, lassen sich einfach nicht mehr kontrollieren.«

      Er stützte die Hände auf das Rednerpult. »Und dann sprach mich Stella Dubois an, eine junge Unternehmerin mit Visionen, heute CEO unseres Unternehmens. Und ich verstand: Wir müssen genau das Gegenteil tun. Das einzige Erfolgsrezept ist, diese Menschen ihre Triebe in einer sozial angemessenen Weise ausleben zu lassen. Dieser Gedanke führte zur Gründung LiveYourEmotions.« Er aktivierte den Monitor erneut.

      »Komm zu Daddy, Kleines.« Der dickliche Mann mit der silbergrauen Kurzhaarfrisur lächelte, und seine Stimme klang einschmeichelnd. Das Mädchen mochte sechs bis sieben Jahre alt sein, Mandelaugen, schwarze Haare, zu Zöpfen geflochten, Schuluniform. Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, näherte es sich dem Sprecher. Der hob die Kleine hoch und setzte sie auf seinen Schoß. Während er mit der einen Hand unter ihren Rock fuhr, nestelte er mit der anderen an seinem Hosenstall …

      Der Bildschirm verdunkelte sich wieder. Doktor Freud lächelte in die Runde. »›Pixie‹ ist unser neuestes Modell, anatomisch korrekt, gefühlsechte, weiche Haut, Echthaar. Es gibt die Kleine natürlich auch in blond oder in der Ausführung ›Johnny‹. An der Mimik müssen wir allerdings noch arbeiten …«

      Das Geraune im Publikum schwoll an.

      »Meine Damen und Herren!« Der Psychologe lehnte sich vor. Seine Stimme klang beschwörend. »Tom und Pixie leiden nicht unter dem, was ihnen angetan wird, aber sie ersparen vielen Menschen großes Leid. Noch beträgt der Stückpreis rund dreihunderttausend Credits, aber mit Ihrer Hilfe wird er in naher Zukunft beträchtlich sinken. Und die Zufriedenheit unserer Testpersonen liegt bei fünfundneunzig Prozent!«

      Er breitete die Arme aus. »Let’s Live Our Emotions! Lassen Sie uns für eine neue, saubere Welt kämpfen, in der jeder seine Gefühle ausleben kann, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen! Befürworten Sie die Einführung unseres Roboprogramms! Lassen Sie uns eine neue Ära einläuten, eine Ära ohne hate crimes, ohne Vergewaltigung, ohne Kindesmissbrauch. Unsere lebensechten Roboter haben das Potenzial dazu! Es liegt in Ihren Händen, meine Damen und Herren von der Ethikkommission …«

      Anmerkung: Kinder-Sex-Roboter werden bereits von dem japanischen Unternehmen Trottla hergestellt. Dessen Gründer Shin Takagi ist ein bekennender Pädophiler: »Wir sollten akzeptieren, dass es unmöglich ist, die Fetische eines Menschen zu verändern. Ich helfe Menschen, ihre Triebe legal und auf ethische Weise auszuleben. Das Leben lohnt sich nicht, wenn man seine Triebe unterdrücken muss.« (Sharkey, Noel et al.: Our Sexual Future with Robots. A Foundation for Responsible Robotics Consultation Report, 2017)

      Von Pixie, dem Kindsroboter, bis zu Tom, dem Ku-Klux-Klan-Spielzeug auf Krankenschein ist es gesetzlich also nur noch ein kleiner Schritt. Die Frage ist, ob wir das wollen …

      

      Ruben Wickenhäuser: Der Fliegende Holländer

      Das Donnern der Bordkanonen rollte durch den Raum, dass die Wände bebten. Der Angriff hatte begonnen.

      Silver legte die Arme auf die Stuhllehnen. So fühlte sich reine, eiskalte Macht an. Macht über Millionen. Low Orbit Ion Cannon 14.2 feuerte mit einer Effizienz, die selbst Silver überraschte. Zahlenkolonnen rasten über den Bildschirm, so schnell, dass man ihnen mit den Augen nicht mehr folgen konnte.

      Erstaunlich, dachte er, sie werden immer schneller.

      Hektisch flackerten die kleinen Mündungen der Kanonen, die die Aktivität der Speichermedien anzeigten, und die Kontrolllampe der Terraverbindung oben im Krähennest des Piratenschiffmodells zeigte nur noch ein durchgehendes Leuchten. Überall auf der Welt begannen Datoren, ausgesuchte Ziele mit sinnlosen Anfragen zu bombardieren. Eine weitere Kanonensalve verkündete das Auslösen der verschlüsselten Datensprengköpfe.

      Auf dem kalten Blau der Zielliste neben der wie irrsinnig tanzenden Zahlenreihe grellten Namen rot auf und erloschen dann. Die ersten Ziele waren unter dem Angriff zusammengebrochen.

      Silver streckte einen Arm aus und legte den Finger auf eine Taste. Nummer drei war tot. Nummer vier. Fünf und sechs. Sieben glomm dunkelrot, Silver gab ihr zehn Sekunden; acht bis zwölf schimmerten warngelb. Nur die dreizehn glomm in unbekümmertem Grasgrün, als wolle sie ihrer Nummer Ehre machen.

      Ein grässlich krächzender Warnton erklang. Neben der Abbildung einer schwebenden Ionenkanone begann ein Warnsignal, zu blinken. Der Sicherheitszeitraum wurde überschritten. Aber Silver drückte nicht auf die Unterbrechertaste. Noch glommen mehrere Ziele dunkelrot. Die musste er auch noch haben. Obwohl er wusste, dass jede Sekunde gefährlicher Leichtsinn war.

      Er drehte den Kopf zu dem Plüschpapagei, der auf seiner Schulter saß, und krächzte wie ein Bauchredner: »Jetzt wird’s Zeit!«

      »Ach, wirklich?«, fragte er die Puppe in seiner normalen Stimme.

      »Allerdings, Käpten.«

      »Sechs Ziele reichen noch nicht.« Von der Dachschräge starrte ihn ein riesiges Porträt von Käpten Sparrow vor der Rauchsäule einer brennenden Galeone an, den zum Stoß erhobenen Säbel in der Rechten. Der Protagonist eines uralten Streifens, Relikt aus einer lang vergangenen Zeit, und für Silver doch immer wieder ein Genuss, ja, mehr als das: Sparrow war seine Identifikationsfigur. Der Filmkapitän schien ihm aufmunternd zuzublinzeln.

      »Feiglinge werden keine Piratenkapitäne«, fügte er hinzu.

      »Dummkopf«, krächzte er sich selbst an.

      Als drei weitere Zielanzeigen vergangen waren, drückte Silver endlich auf die Taste. Sofort erstarb der Warnton, die Zahlenreihe gefror und es machte für einen Augenblick den Eindruck, als wäre die Zeit stehen geblieben. Low Orbit Ion Cannon, dramatischer