William Hertling

AVOGADRO CORP.


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nur einen schicken Großbildschirm an der Wand hinter ihm. Er ließ seine Hand über den Tisch aus poliertem Hartholz und die Lehnen der Lederstühle gleiten. Das war mehr als nur ein kleiner Schritt von dem Plastikambiente in den Konferenzräumen entfernt, die er für gewöhnlich nutzte.

      David gönnte sich das kleine Vergnügen eines Kaffeerituals. Als er zwei Löffel braunen Zucker in seinen dampfenden Becher gab, lächelte er über den üppig gefüllten Serviertisch, der alles von Kaffee über Saft, bis hin zu kunstvoll arrangierten Häppchen bot. Auch wenn Avogadro von der Idee her ein Unternehmen gleichgestellter Nerds war, hatte es doch Vorzüge, zur Chefetage zu gehören.

      Noch war kein anderer eingetroffen, sodass David durch den Raum schlendern und die Aussicht bewundern konnte. Die Freemont Bridge, die den Willamette River überspannte, war der zentrale Blickfang. Er konnte die Appartementkomplexe im Pearl District sehen und zu seiner Rechten die Innenstadt von Portland. Direkt im Osten konnte er den Mount Hood unter einer dichten Wolkendecke gerade noch erkennen. Die frühe Morgensonne spähte durch die Wolken, warf einen Fächer aus Licht auf die Stadt. Er fragte sich gerade, ob er von hier aus sein eigenes Haus im nordöstlichen Portland sehen konnte, als ihn jemand begrüßte. »Hallo David.«

      Als er sich umdrehte, sah er wie Sean Leonov und Kenneth Harrison den Raum betraten. Sean kam zu ihm herüber, um seine Hand zu schütteln, und stellte ihn Kenneth vor. David war begeistert, den zweiten Mitbegründer von Avogadro kennenzulernen. Dunkelhaarig und lässig war er eine respektable Erscheinung, auch wenn sein Charisma nicht an das von Sean heranreichte.

      Die anderen Führungskräfte begannen nun hereinzuströmen und Sean machte ihn kurz mit jedem von ihnen bekannt. David schüttelte Hände oder nickte ihnen zu, sein Kopf schwirrte ihm von all den Namen und Zuständigkeiten einer jeden Begrüßung.

      Für ein paar Minuten war die Atmosphäre die einer Cocktailparty, wo sich die Leute mit Snacks und Getränken versorgten, während sie sich bekannt machten. Dann nahmen nach und nach alle Platz, wobei sie sich entsprechend der Hackordnung um Sean und Kenneth herum verteilten. Nur ein Sessel am Kopf des Tisches war noch auffallend leer.

      Als die allgemeine Unruhe in der Runde sich schließlich legte, erhob sich Sean. »Ich habe Ihnen David Ryan bereits vorgestellt, den leitenden Projektmanager des ELOPe Projekts. Ich habe David vor zwei Jahren eingestellt, um zu beweisen, dass für unsere AvoMail eine radikale Neuerung möglich ist. Er hat dabei unglaubliches geleistet und ich habe ihn hier zu uns eingeladen, damit er uns einen ersten Einblick in seine Entwicklung gewähren kann. Bereiten Sie sich auf eine Überraschung vor.« Er lächelte zu David hinüber und setzte sich dann.

      »Vielen Dank Sean«, sagte David, stand auf und ging nach vorne. »Und vielen Dank für Ihr Kommen.«

      David aktivierte sein Smartphone mit dem Daumen und zeigte das erste Bild, das Schwarz-Weiß-Foto einer Sekretärin, die ein Blatt in ihrer Schreibmaschine mit Tipp-Ex ausbesserte.

      »Eine unserer ersten Technologien zur Fehlerkorrektur«, sagte er, was im Publikum leises Gelächter auslöste. »Zu seiner Zeit war es recht innovativ. Aber es war nichts im Vergleich zur automatischen Rechtschreibkorrektur.« Im Hintergrund veränderte sich das Bild zu dem eines Mannes, der einen klassischen PC der ersten Generation benutzte.

      »Jahre später wurde, bei steigender Rechenleistung, die Grammatikkorrektur entwickelt. Die ersten Korrekturtools wiesen nur auf Fehler hin, später halfen sie auch dabei, sie zu korrigieren. Rechtschreib- und Grammatikprüfung gab es zunächst in der Textverarbeitung, dann begann ihr Siegeszug durch alle Büroanwendungen, von der Präsentationssoftware bis zum E-Mail-Programm.«

      David machte eine Pause. Der erzählerische Teil seiner Präsentation gefiel ihm.

      Während David sprach, nahm er kurz Augenkontakt mit jeweils einem der Anwesenden auf, bevor er zum nächsten wechselte. »Heute haben sich die Standards in der Geschäftskorrespondenz verändert. Es reicht nicht mehr aus, eine korrekte und grammatikalisch richtige E-Mail zu versenden, um ein effektiver Kommunikator zu sein. Man muss genau wissen, wie der Empfänger denkt und was ihm wichtig ist, um ihn zu überzeugen. Man muss die richtige Kombination aus überzeugender Logik, Argumenten und Emotionen nutzen, um seine Sache vorzubringen.«

      David sah, dass er jetzt die ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. »Sean hat mich vor zwei Jahren an Bord geholt, um ein bisher ungenutztes Konzept in die Realität umzusetzen: Ein Sprachoptimierungstool, das Nutzern helfen sollte, überzeugendere und effektivere Korrespondenz gestalten zu können. Ich stehe heute vor Ihnen, um Ihnen die Resultate zu zeigen.«

      Er wechselte zur nächsten Grafik, ein Verlaufsdiagramm erschien. In den ersten zwölf Monaten haben wir durch Datenerhebung, Sprachanalyse und den Einsatz von Suchalgorithmen die Machbarkeit bewiesen. Danach gingen wir ernsthaft an die Umsetzung des ›E-Mail Language Optimization Projects‹, kurz ELOPe, heran.«

      David klickte wieder und nun zeigte der Wandbildschirm einen Screenshot von AvoMail, Avogadros populärer webbasierter E-Mail-Anwendung. »Aus einer anwenderorientierten Perspektive arbeitet ELOPe wie eine hochentwickelte Rechtschreibprüfung. Während der Nutzer an einer E-Mail arbeitet, beginnen wir ihm Formulierungsvorschläge in der Seitenleiste anzubieten. Hinter den Kulissen findet eine komplexe Analyse statt, um die Absicht des Verfassers zu erkennen und ihm den Weg zu den effektivsten Sprachmustern zu zeigen, wie wir sie bei anderen Nutzern beobachtet haben. Lassen Sie mich Ihnen ein einfaches Beispiel geben, mit dem Sie vermutlich vertraut sind. Haben Sie schon einmal eine Mail von jemandem bekommen, der Sie bittet, sich einen Anhang anzusehen, aber vergessen hat ihn beizufügen? Oder waren Sie vielleicht selbst der Absender?«

      Er hörte gequältes Lachen und ein paar Hände hoben sich im Publikum. »Es ist natürlich ein peinlicher Fehler. Aber niemand macht diesen Fehler heute noch, weil AvoMail auf das Erscheinen von Worten wie ›Anhang‹ oder ›beigefügt‹ achtet und prüft, ob auch wirklich eine Datei vorhanden ist, bevor die Nachricht versendet wird. Durch Sprachanalyse haben wir also die Effektivität des Informationsaustauschs verbessert.«

      Eine Abteilungsleiterin hob die Hand. David bemühte sich vergeblich, sich an ihren Namen zu erinnern, und begnügte sich damit, auf sie zu zeigen.

      »Aber ist das nicht nur ein simples Beispiel, wie man ein einfaches Programm zur Suche von Schlagworten verwendet?«, fragte sie. »Reden wir hier von Schlagwortsuche?«

      »Das ist eine gute Frage«, sagte David, »Aber die Antwort lautet: Nein. Wir stützen uns nicht auf Schlagworte. Ich werde es Ihnen erklären, möchte dazu aber ein komplexeres Beispiel verwenden. Stellen Sie sich einen Manager vor, der die Finanzierung eines Projekts beantragen will. Bevor Gelder fließen, werden die Entscheidungsträger eine Begründung für das Finanzierungsersuchen haben wollen. Wie kommt diese Investition der Firma zugute? Möglicherweise geht es um einen schnelleren Marktzugang oder darum, höhere Erträge zu erzielen. Vielleicht ist das Projekt auch knapp an Mitteln und läuft Gefahr, nicht fertig zu werden.«

      David sah zustimmendes Nicken im Publikum und begann sich ein wenig zu entspannen. Er war froh, dass seine handverlesenen Beispiele bei den Führungskräften ankamen.

      »ELOPe analysiert die Mail und erkennt, dass der Verfasser um eine Finanzierung bittet, weiß, dass sie von einer Begründung begleitet sein sollte, und bietet Beispiele an, wie so eine effektive Begründung aussehen könnte.«

      David wechselte zu einer anderen Darstellung, um sein Beispiel zu veranschaulichen. Das Kurzvideo zeigte, wie ein Nutzer eine Finanzierungsanfrage verfasste, während Argumentationsvorschläge am rechten Bildschirmrand erschienen. Jedes der Beispiele beinhaltete bereits alle Daten aus der eigentlichen Mail, wie etwa den Projektnamen und den Zeitplan. David wartete schweigend die dreißig Sekunden ab, während das Video ablief. Er hörte leise Ausrufe aus dem Hintergrund. Diese Kurzdemo war unglaublich eindrucksvoll. Er lächelte innerlich. Es war Arthur C. Clarke gewesen, der einmal gesagt hatte: Jede Technologie, wenn sie nur ausreichend weit entwickelt ist, ist von Magie nicht mehr unterscheidbar. Nun, dies war Magie.

      David machte eine Pause, damit das Video seine Wirkung entfalten konnte. »Es ist nicht genug, eine Reihe von standardisierten Vorschlägen anzubieten. Unterschiedliche Menschen werden auch durch unterschiedliche