»Wenn also zwei Personen einen dieser Workshops gemeinsam besuchen«, sagte David, »dann erfahren sie sehr viel voneinander. Ich weiß nicht, ob das erforscht wurde, aber vermutlich werden zwei Menschen, die an einem Myers-Briggs-Seminar teilgenommen haben, sich mit höherer Wahrscheinlichkeit erfolgreich verabreden. ELOPe tut also nichts weiter, als jeden mit denselben Vorteilen auszustatten, die er sich durch eines der Seminare erworben hätte. Wir ermöglichen es diesen Menschen, bessere Gesprächspartner und Mitarbeiter zu werden. Wer möchte nicht ein interessanter Gesprächspartner sein? Und wer möchte nicht, dass seine Mitarbeiter bessere Kommunikatoren sind?« David sah mit Erleichterung, wie die Anspannung in der Gruppe langsam nachließ.
»Denken Sie daran, dass wir die Grundstimmung dieser Mails auswerten«, fuhr er fort, wobei er vor dem Großbildschirm auf und ab lief. »Es ist nicht nur eine halbherzige Zugabe: Menschen erhalten und erreichen einen anhaltend besseren und kooperativeren Informationsaustausch, wenn unsere Software aktiviert ist. Wir stärken Menschen den Rücken, geben jedem das, was er sonst nur in einem teuren Managementseminar erlernen könnte. Zunächst war es die Rechtschreibkorrektur, die den Graben zwischen Menschen mit guter und schlechter Allgemeinbildung überbrückte. Nun schaffen wir die gleichen Voraussetzungen auch beim Schreiben – wir ermöglichen es allen Menschen, wirkungsvolle, gut formulierte Texte zu erstellen.«
Für eine Minute war es ruhig, dann fragte einer der Abteilungsleiter: »Für wann ist die Veröffentlichung geplant?«
Mit dieser Frage löste sich alle verbliebene Anspannung im Raum. Es wurde für weitere fünfzehn Minuten diskutiert, aber die Themen waren die Details der Implementierung und Fragen zu den Umsatzprognosen. Nach Davids Präsentation führte Sean ihn zur Tür des Konferenzraums, während die Führungskräfte plauderten und sich mit einer weiteren Runde Kaffee und Häppchen versorgten. »Gute Arbeit«, sagte er im vertraulichen Ton, als er ihm die Tür aufhielt. »Ich bin zuversichtlich, dass sie die nächste Phase unterstützen.«
Als die Tür sich hinter ihm schloss, sank David gegen die Wand vor dem Konferenzraum. Die Präsentation hatte ihn ausgelaugt. Dann lachte er leise. Das Beispiel mit der Verabredung war riskant gewesen, aber es war besser, gleich damit anzukommen, anstatt es später zu einem Problem werden zu lassen. Er war sicher, mit der Präsentation das Management auf seine Seite gezogen zu haben. Die Sprachanalyse, die er gestern Nacht mit ELOPe am Text seiner Präsentation gemacht hatte, sagte mit einer Wahrscheinlichkeit von 93% Zustimmung voraus.
»Hören Sie Gary, Sie wissen genauso gut wie ich, dass Optimieren keinen Sinn macht, bis wir wirklich fertig sind.«
Während David in seiner ach so wichtigen Präsentation war, sah sich Mike gezwungen, ihren Ressourcenbedarf Gary Mitchell gegenüber zu verteidigen. Mike fragte sich (und das nicht zum ersten Mal) ob David die Zeit des Meetings mit Gary bewusst so gelegt hatte, dass es mit der Konferenz der Abteilungsleiter kollidierte, damit er zu diesem Termin nicht erscheinen musste. Mike seufzte.
Man konnte ihn jederzeit mit einem schadhaften Programmcode oder einer neuen Datenarchitektur konfrontieren, damit kam er klar. Man konnte ihn vor ein Entwicklerteam setzen, das es zu motivieren galt und alles würde gut werden. Aber er hasste die Abgründe der Firmenpolitik. David schuldete ihm etwas für diese Nummer.
»Wir werden natürlich nur noch einen Bruchteil der Serverleistung benötigen, wenn wir erst optimiert haben. Allerdings können wir es erst dann tun, wenn der Algorithmus komplettiert ist. Wenn wir jetzt versuchen zu optimieren, dann wird das auf Kosten der Effizienz gehen. Das ist das Einmaleins der Informatik.« Es war, als spräche er gegen eine Wand. Die Worte prallten einfach ab.
»Mike, Mike, Mike.«
Mike rollte mit den Augen wegen Garys herablassendem Ton, was nicht weiter auffiel, da Gary sich nicht die Mühe machte, ihn anzuschauen. Mike studierte Gary über den großen Tisch hinweg. Er war in seinen Stuhl zurückgelehnt, die Arme hinter dem Kopf, das weiße Hemd spannte über seinem Bauch, die Backen hingen ihm bis zum Kinn. Er schien die Zimmerdecke ausgiebig zu studieren. Mike vermutete, dass Gary als Abteilungsleiter bei General Motors besser aufgehoben gewesen wäre. Es fehlte nur ein großer Aschenbecher mit einer Zigarre. Er fragte sich einmal mehr, wie in aller Welt Gary bei Avogadro gelandet war.
»Ich weiß, dass euer Projekt eine Sonderfreigabe von Sean für die Produktionsserver hat«, sagte Gary. »Die Server, die Avogadros Tagesgeschäft am Laufen halten, wie ich dich erinnern muss.« Gary mühte sich schließlich in eine aufrechte Position und sah Mike an. Er zeigte mit einem dicken Finger auf ihn, bevor er fortfuhr. »Ihr zieht so verdammt viel Speicher und Bandbreite von den AvoMail Servern ab, dass ich zusätzliche Ressourcen anfordern musste. Ihr denkt vielleicht, dass euer Projekt ein Geschenk des Himmels ist, aber das denkt jedes Forschungs- und Entwicklungsteam. Währenddessen muss ich die Dinge hier am Laufen halten und euer armseliges Experiment frisst unsere Reserven auf.«
»Gary, wir …«
Gary übertönte ihn einfach. »Ganz gleich, was Sean sagt, ich habe das Sagen in dieser Abteilung und ich trage die Verantwortung dafür, dass es keinerlei Ausfälle gibt. Ich sage euch, dass ihr zwei Wochen habt, um eure Serverlast zu reduzieren, oder ich werfe euch von den Produktionsservern runter.«
»Hören Sie, Gary, wir können …«, begann Mike, aber Gary unterbrach ihn sofort wieder.
»Ich will kein Wort mehr hören«, brüllte er. »Wir sind hier fertig. Ich führte diese Diskussion wieder und wieder mit David. Ihr habt zwei Wochen. Richte das David aus. Auf Wiedersehen.« Gary scheuchte ihn mit einer Handbewegung aus seinem Büro wie eine streunende Katze.
Mike verließ Garys Büro, stürmte an seiner verblüfften Sekretärin vorbei und widerstand dem Drang, die Türen hinter sich zuzuschlagen, bevor er sich auf den Weg zurück ins F&E Gebäude machte.
Er stapfte fünf Stockwerke nach unten, noch voll unverbrauchtem Zorn, überquerte eine Straße, lief den Block hinunter und wieder hoch, um schließlich, durch ein Labyrinth von Korridoren, sein eigenes Gebäude zu erreichen.
Er beruhigte sich langsam, während er lief, was einer der Vorteile des weitläufigen Campus war. Avogadro Corp. war so stark expandiert, dass es sich nun über sieben Blocks im nordwestlichen Teil Portlands erstreckte, auf dem ehemaligen Gelände einer alten Spedition. Ein Dutzend Gebäude, die meisten neu, ein paar alt und ständig im Ausbau befindlich.
Da das Unternehmen und seine Profite in den letzten fünfzehn Jahren stetig gewachsen waren, baute man ein neues Gebäude nach dem anderen. So schnell, dass sogar die Mitarbeiter den Überblick verloren, wer oder was gerade wo war. Selbst Mike hatte in den wenigen Jahren, die er für die Firma beschäftigt war, den Bau von drei neuen Gebäuden erlebt. Es war ein ständiger Quell der Neugierde unter den Angestellten zu erkunden, was die verschiedenen Gebäude beherbergten. Während die meisten der Bürokomplexe eigentlich ganz normal waren, gab es auch ein paar skurrile Entdeckungen zu machen, wie etwa das Observatorium auf dem Dach eines der Gebäude, das sich nur für bestimmte, offenbar zufällig ausgewählte Mitarbeiterausweise öffnete. Da gab es angeblich ein Billardzimmer, das zwischen Gebäuden und Etagen wechselte. Mike hatte es sogar selbst gesehen. Ob dieses Zauberkunststück aber durch einen Raum bewerkstelligt wurde, der sich tatsächlich bewegte, ob die Haustechniker nur das Mobiliar bewegten oder ob der Raum womöglich dupliziert wurde, wusste niemand zu sagen. Natürlich konnten auch die Programmierer von Avogadro Rätseln nicht widerstehen und hatten so ziemlich alles gemacht: Vom Verstecken von Wi-Fi-Einwahlknoten, bis hin zu Mobiliar, das mit RFID-Chips versehen war. Die lieferten beim Auslesen seltsame Resultate, die jeden nur noch mehr verblüfften.
Es gab das nicht ganz ernst gemeinte Gerücht unter den Mitarbeitern, dass jemand aus der Geschäftsleitung unter dem Winchester House Syndrom litt. Mike hatte das Winchester House in San Jose einmal besucht, als er noch aufs College ging. Im Auftrag von Sarah Winchester, der Witwe des Waffenmagnaten William Winchester, war es von 1884 bis 1922 ständig um- und ausgebaut worden, da sie glaubte, sterben zu müssen, wenn die Bauarbeiten je abgeschlossen würden. Der Gedanke, dass einer der Bosse von Avogadro unter demselben Aberglauben litt und daher ähnliches mit dem Avogadro Campus machte, zauberte immer ein Lächeln auf sein Gesicht. Im Ganzen betrachtet aber waren, so dachte er, die seltsamen