Michael Dissieux

Graues Land


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Strecke gefahren?

      Ich versuche mich zu erinnern, ob ich in den letzten Tagen das Geräusch eines Motors oder rumpelnder Reifen gehört hatte.

      Doch alles, was ich in meiner Erinnerung finde, ist die Stille, welche zu meinem und Sarahs ständigem Begleiter geworden ist.

      Kein Auto. Kein rotes Fahrrad, das den kleinen Daryll den Hügel hinaufbringt, damit er mir mit einem erschöpften Lächeln die Zeitung bringen kann. Sein Lächeln war stets eine Spur breiter geworden, wenn ich ihm den einen oder anderen Dollar entgegengehalten hatte.

      Die Welt hat sich weitergedreht.

      Doch in welche Richtung ..?

      Ich fühle mich schläfrig ohne Musik und die Abwechslung der Natur, die ich stets genossen habe. Das, was da an den Wagenfenstern wie eine schauerliche Parade entlangzieht, will ich nicht sehen. Als meine Hand erneut den unweigerlichen Griff zum Radio versucht, denke ich an jenen letzten Abend vor einigen Tagen zurück, an dem ich in das aufgebrachte und erschöpfte Gesicht der jungen Nachrichtensprecherin im Fernsehen geblickt hatte …

      An jenem Abend hatte ich mich beeilt, Sarah zu waschen und für die Nacht frisch einzukleiden. Ich fühlte mich ihr gegenüber lausig, denn jetzt lag sie viel früher in ihrem dunklen Zimmer, als sie es gewohnt war - sofern sie dies überhaupt noch registrierte.

      Doch ich wollte mit meinen täglichen Arbeiten fertig sein, um die Abendnachrichten im Fernsehen anzuschauen.

      Ich wusste nicht, woher dieser Drang kam. Doch die Nachrichten der vergangenen Tage hatten selbst einen alten Narren wie mich nervös gemacht.

      Bislang hatte ich stets in der Annahme gelebt, dass sich alles Schlimme, das man am Abend in den Nachrichten zu sehen bekam, lediglich auf den Rest der Welt beschränkte.

      Nie hätte ich den Gedanken zugelassen, dass sich eines Tages einmal der verpestete Atem einer Welt, die schleichend, aber unabdingbar vor die Hunde ging, die Hügel hinauf durch die Wälder schlängeln würde und unsere eigenen Gedanken mit Furcht durchtränkte.

      Doch genau dies war geschehen.

      Etwa eine Woche ist es her, als eine junge Nachrichtensprecherin, die ich immer schon im Geheimen als bezaubernd und hübsch empfunden hatte, mit ernstem Gesicht von fürchterlichen Anschlägen in Europa berichtete.

      Sie erzählte mit einer Stimme, die all ihre Erotik, die mir stets so an ihr gefallen hatte, vermissen ließ, von einem bislang unbekannten arabischen Terrornetzwerk, das mittels als Schläfer getarnte Attentäter Anschläge mit nuklearen und bakteriellen Atomwaffen in verschiedenen europäischen Großstädten verübt hatte.

      Ich konnte damals nicht wirklich viel mit diesen Meldungen anfangen, denn Gewalt und menschliche Dummheit gehörten schon fast zum festen Bestandteil von Nachrichten aus der Welt jenseits unserer Hügel. Doch das Zittern in der Stimme der jungen, hübschen Frau und ihr Blick, der dem eines eingeschüchterten Kindes glich, hatten mich unweigerlich an den Fernseher gefesselt. Ich fühlte mich wie in einem Albtraum, aus dem man trotz eines fürchterlichen Schreis nicht erwachen wollte.

      Sie sprach von einer kaum vorstellbaren Zahl an Toten.

      Doch erst als ihre bestürzte Stimme berichtete, dass die Städte Montpellier und Enschede nicht mehr existierten, sickerte das ungeheuerliche Ausmaß dieser Anschläge zähen Tropfen gleich in meinen Verstand.

      Natürlich erinnerte ich mich der Attentate vom elften September oder von Oklahoma City. Doch die Bilder der Zerstörung, die sich nur schwerlich ihren Weg in meinen Kopf bahnen konnten und mit wackeliger Kamera aufgenommen waren, ließen diese Verbrechen wie simple Ladendiebstähle erscheinen.

      Der Fokus der Kamera schwenkte über rauchende Krater und eingestürzte Häuser, deren schwelende Stahlträger wie freigelegte Rippen in einen aschegeschwängerten Himmel stießen. Straßen hatten sich in flammende Äcker verwandelt. Überall standen verbrannte Bäume wie schwarze Skelette in einer unwirklichen Gegend, die als Kulisse eines Horrorfilmes hätte dienen können. Hubschrauber flogen in Schwärmen über den schwarzen Himmel, da es keine Straßen und Autobahnen mehr gab. Menschen in rußgeschwärzten Strahlenschutzanzügen stoben hilflos wie winzige Insekten durch das Chaos der Zerstörung. Es schien Nacht zu sein auf den Aufnahmen. Doch glaubte man der am unteren Bildrand eingeblendeten Uhr, so wurden die Bilder zur Nachmittagszeit aufgenommen.

      In der oberen Ecke prangte das Logo `Montpellier´, das fortan die Gräuel von Ground Zero verdrängen würde.

      Es folgten Aufnahmen von Enschede, ebenfalls zur Mittagsstunde aufgenommen, obwohl sich bereits die Nacht über eine zerrissene und rauchende Landschaft gesenkt zu haben schien. Die Kamera hatte Schwierigkeiten den dichten Schleier aus Asche und Ruß zu durchbrechen.

      Doch da hatte ich mich bereits abgewendet, mein Gesicht in den Händen vergraben und versuchte, den rasenden Zug der Gedanken in meinem Kopf zu stoppen.

      Schon Tage zuvor hatte ich in den Abendnachrichten und dem Autoradio von Internetbotschaften und Warnungen einer arabischen Terrorvereinigung gegen die westliche Welt gehört.

      Doch hatte sich mein Empfinden, was das Grauen des Alltages betrifft, wie wohl bei den meisten Menschen in unserem Zeitalter, auf ein Minimum reduziert.

      Zu schreckliche Dinge waren in den letzten Jahren geschehen. Zu viel Blut hatten meine Augen sehen und zu viele Schreie von Sterbenden und Kindern hören müssen.

      Da war Timothy McVeigh, der Oklahoma - Bomber, der 1995 das Alfred P. Murrah Building in Oklahoma City in die Luft sprengen wollte und dabei mehrheitlich Kinder in den Tod riss. Oder der Giftgasanschlag auf die Untergrundbahn von Tokio, ebenfalls 1995. Und natürlich `Nine-Eleven´, wie man heute freimütig den größten Terroranschlag in der Geschichte bezeichnete.

      All diese Ereignisse und Nachrichten hatten uns abstumpfen, vielleicht sogar innerlich sterben lassen, ohne dass wir uns dessen bewusst geworden waren.

      War es also wirklich so verwunderlich, dass Drohungen aus der östlichen, radikalen Welt gegen den Westen nicht mehr den Schrecken in uns entfachen konnten wie wohl noch vor dreißig Jahren?

      Man hört den angespannten Stimmen der Sprecher zu. Doch ihre Worte finden nicht wirklich ihren Weg in die Tiefen unseres verletzlichen Verstandes. Sie prallen am Bollwerk unserer Ignoranz ab.

      Doch an jenem letzten Abend, an dem ich mir die Nachrichten im Fernsehen ansah, war irgendetwas anders.

      Die grauenvollen Bilder aus Frankreich und den Niederlanden entfachten ein bislang namenloses und unbekanntes Feuer von archaischer Angst in mir.

      Ich saß da, in meinem alten, ramponierten Lieblingssessel, dessen altmodischer Bezug schon seit vielen Jahren zerschlissen war, und machte mir zum ersten Mal Gedanken darüber, was es bedeuten könnte, zu sterben.

      Ich dachte über das Ende der Welt nach, so, wie wir sie kannten.

      An diesem Abend sah ich auch zum ersten Mal diesen verdammten Satz aus dem verdammten Buch wie das grelle Licht einer Leuchtreklame vor mir …

      … die Welt hat sich weitergedreht …

      Was auf die Berichte aus Europa folgte, waren die üblichen hektisch einberufenen Versammlungen von Staatsoberhäuptern und Stellungnahmen verschiedenster Menschen, die sich an Wichtigkeit zu übertreffen versuchten, und deren Blicke mir nur noch mehr Angst einflößten. Denn jeder von ihnen wiederholte in seinem Wortlaut lediglich die von der zitternden Kamera aufgenommen Abscheulichkeiten zweier ehemaliger Städte. Eine ratlose Beschreibung des Offensichtlichen. Zu mehr war ihr geschulter Verstand nicht fähig.

      Das Einzige, was mir noch in Erinnerung geblieben war, ist die Rede des amerikanischen Präsidenten, dessen Gesichtszüge schmal und übermüdet wirkten. In seinen Augen hatte ich trotz seiner straffen Haltung eine tiefempfundene Furcht entdecken können. Wenn man so alt geworden ist wie ich, dann erkennt man die Emotionen der Menschen in ihren Augen ohne größere Schwierigkeiten.

      Der Mann