noch. Da ich die halbe Nacht wach gelegen habe, konnte ich Elijah hören, wie er so leise wie möglich die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer geschlichen ist. Sein Haus ist ein Altbau, die Treppenstufen knarren und die schwere Eingangstür schließt nur dann, wenn man sie geräuschvoll zudrückt, also war es nicht zu überhören. Dass es bereits fünf Uhr früh war, als er nach Hause kam, stört Elijah nicht im Geringsten. Er ist ein Nachtmensch, genau wie Sky.
Als hätte ich die Anwesenheit meiner Freunde im Haus benötigt, bin ich kurz darauf fest eingeschlafen.
Jetzt öffne ich den Kühlschrank und spähe hinein. Ein aufwendiges Frühstück wird es wohl heute nicht geben. Darum entscheide ich mich für Milch und Orangensaft und schütte mir Cornflakes in eine Schale. Im Radio berichtet der Reporter von schweren Waldbränden in Kalifornien und Überschwemmungen in Louisiana. Dabei muss ich an meine Eltern denken, die in einem kleinen Nest in Maine leben. Dort ist die Welt noch in Ordnung. Man kennt sich und trifft sich zu Wohltätigkeitsveranstaltungen oder anderen Gemeindefesten. Das Einzige, was dort passiert, ist, dass sich der Hund des Pfarrers verirrt hat oder die Blumen aus dem Garten von Miss Abernathy, einer alten Dame, die schon ewig dort lebt, wieder einmal gestohlen wurden.
Bevor ich das Haus verlasse, pinne ich Elijah und Sky einen Zettel an den großen Kühlschrank und wünsche ihnen ein schönes Restwochenende.
Da heute Sonntag ist, hält sich der Verkehr in Grenzen und ich komme schnell über die Interstate Richtung Maine. Als ich in den kleinen Ort einbiege, fühle ich mich wieder in meine Teenagerzeit zurückversetzt. Hier hat sich nichts verändert. Der Ort wirkt friedlich und verschlafen. Die Holzhäuser mit ihren Vorgärten verkörpern das Bild eines harmonischen Kleinstadtlebens. Hier könnte nichts Schreckliches passieren und hier gibt es auch keine Männer, die mit zweideutigen Angeboten mein Leben auf den Kopf stellen. Alles dreht sich um Natur, Fischfang und die üblichen Gemeindefeste, auf denen Patchworkdecken, selbst gemachte Marmelade und leckere Kuchen zum Verkauf angeboten werden.
Ich kann mich noch erinnern, wie meine Mutter mich nach einem dieser Feste mit einem Jungen aus meiner Schule knutschend auf der Wiese am Ufer erwischte. Mein Gott, war mir das peinlich! Selbst meine Mom wusste in dem Moment nicht, was sie sagen sollte, und hat sich nur schnaubend abgewandt. Aber die Moralpredigt von ihr, die ich mir später anhören durfte, hat mich wieder auf den Boden der Tatsachen gebracht. Als ich später herausfand, dass es meiner Mom nur um ihren guten Ruf ging und um das, was die Nachbarn wohl denken würden, wurde mir wieder mal gezeigt, wie oberflächlich und klein kariert ihr Denken ist. Zum Glück ist mein Dad in dieser Hinsicht ganz anders.
Auf der ganzen Fahrt grüble ich über Jay nach. Was für ein Mensch er wohl sein mag? Okay, er hat einen Nachtclub, aber das sagt doch nichts über ihn und seinen Charakter aus. Als er mir das delikate Angebot gemacht hat, war ich wie vor den Kopf gestoßen. Ich stelle mir vor, wie meine Mom auf ihn reagieren würde, sollte ich ihn jemals mit nach Hause bringen, was aber sicher nicht passieren wird. Eine Beziehung, wie er sie vorschlägt, setzt sich über alle Konventionen hinweg. Dabei muss ich beinahe grinsen, wenn ich mir vorstelle, wie das erste Treffen mit meiner Mom ablaufen würde: »Mom, Dad, das ist mein Neuer. Aber uns verbindet nur eins: Sex! Und das in einer Form, für die meine Eltern niemals das nötige Verständnis aufbringen würden.
An meinem Ziel angekommen, parke ich den Wagen auf der Straße vor dem Haus. Ich schnappe mir meine Tasche und gehe den kurzen Weg auf den Eingang zu. Hier scheint die ZeitUhr stehen geblieben zu sein.
»Sunday, lange nicht gesehen«, höre ich hinter mir den Nachbarn meiner Eltern. Ein lieber älterer Herr.
»Hallo, Mister Whitfield«, grüße ich ihn.
»Ihre Eltern erwarten Sie schon«, ruft er mir noch nach. Ich nicke und lächle ihn an. Vielleicht liebe ich gerade deshalb Boston so sehr, es ist meine Heimat. Die Stadt ist pulsierend und unkonventionell. Die Nachbarn kümmern sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten und gehen ihren Beschäftigungen nach. In Boston bin ich aufgewachsen und nichts hat mich jemals von dort weggezogen. Na ja, zumindest die ersten 14 Jahre, bis meine Eltern meinten, sie müssten raus aufs Land ziehen, da meinem Dad in Maine der Posten als Gouverneur angeboten wurde. Fast alle meine Freundinnen haben sich Jobs in New York oder an der Westküste gesucht, aber ich nicht. Ich lernte während meines Studiums Sean kennen und keine zwei Monate später zog ich mit ihm in eine kleine Wohnung im East Cambridge District. Damals waren wir glücklich.
Bevor ich auf den Klingelknopf drücken kann, öffnet meine Mom die Haustür.
»Sunday«, begrüßt sie mich und nimmt mich in den Arm. »Wo hast du Sean gelassen? Du wolltest doch gestern schon kommen.« Dabei schaut sie an mir vorbei zu meinem Wagen, als würde er noch nachkommen.
Sean! Ich ringe immer noch mit mir, meinen Eltern von der Trennung und seinem Leben zu erzählen, das er neben unserer Beziehung geführt hat.
»Was ist los?« Meine Mom wirkt betrübt, als ich verletzt das Gesicht verziehe.
»Wir haben uns getrennt«, sage ich leise.
»Was? Aber warum denn? Ich dachte, ihr beide, ihr würdet heiraten«, platzt sie heraus.
Dann schiebt sie mich schnell ins Haus und schließt die Tür hinter mir, nicht, ohne noch einmal einen prüfenden Blick nach draußen zu werfen, ob auch niemand unser Gespräch belauscht hat.
In diesem Moment kommt mein Dad aus dem Wohnzimmer und lächelt mich freudig an.
»Sunday, du kommst gerade richtig. Stell dir vor, der Sohn vom alten Whitfield schmeißt heute Abend eine große Party. Er hat sich verlobt und wir sind eingeladen. Du auch«, teilt er mir, während er mich umarmt.
»Hi, Dad.«
»Adam, das ist jetzt unwichtig«, unterbricht meine Mom unsere Wiedersehensfreude.
Mein Dad tritt einen Schritt zurück und grinst mich immer noch an. »Was ist denn los? Sunday ist da und wird den Rest des Wochenendes hier mit uns verbringen, unsere besten Freude feiern ein Fest und da sagst du, das ist unwichtig?«
Meine Mom atmet hörbar ein und rollt die Augen.
»Sunday hat sich von Sean getrennt«, lässt sie die Bombe platzen. Mein Dad scheint davon unbeirrt zu sein.
»Recht hat sie. Ich konnte den Kerl sowieso nie leiden. Ich weiß nicht, welchen Narren du an ihm gefressen hast, Kerry«, wundert er sich über meine Mom.
Mein Dad legt den Arm um mich und wir betreten das Wohnzimmer. Er war schon immer auf meiner Seite und wenn ich Probleme hatte, war er es, der halbe Nächte mit mir auf der Veranda verbrachte, bis wir eine Lösung gefunden hatten. Ich stelle meine Tasche neben dem Sideboard ab und lasse mich auf die gemütliche Couch fallen. Meine Mom bleibt im Türrahmen stehen.
»Aber ich dachte, die beiden würden heiraten«, gibt sie enttäuscht von sich.
»Kerry, jetzt lass Sunday doch erst mal ankommen«, bestimmt mein Dad.
»Ist er ausgezogen?«, will meine Mom wissen.
Ich drehe mich zu ihr um. »Nein, Mom, ich bin ausgezogen.«
»Und wo wohnst du jetzt?«
Ich kann in jedem Wort von ihr die Enttäuschung hören, die gerade ihren ganzen schönen Plan von der Hochzeit zunichtemacht.
»Die schöne Wohnung«, sagt sie mehr zu sich selbst.
»Ist das dein ganzes Problem, Kerry?«, mischt mein Dad sich ein. Ich höre an seiner Stimme, dass er leicht gereizt ist und sicher später mit meiner Mom noch einige Diskussionen haben wird.
Nach außen hin spielt meine Mutter ihren Freunden die heile Welt vor. Dass das nicht stimmt, zeigt schon der Streit zwischen ihr und meinem Bruder. Es ist schrecklich. Michael hat das Haus verlassen und seitdem haben sie kein Wort mehr miteinander gesprochen. Sie konnte ihm gerade noch verzeihen, dass er nicht in die Fußstapfen meines Dads getreten ist und eine politische Karriere angestrebt hat. Doch als er sein Studium geschmissen und ein Leben als Musiker gewählt hat, das nicht das Geringste einbringt, hat sie ihn aus dem inneren Kreis der Familie ausgeschlossen. Seitdem lebt er in einer