»Ich ruf dich an«, sagte er. Dann marschierte er los und war nach wenigen Schritten im Gewimmel untergetaucht.
7
Auch Eilert Iwwerks verlor Kornemann schnell aus den Augen. Als er zurückblickte, war Reinhold Boelsen ebenfalls nirgends mehr zu entdecken. Also wandte er sich wieder seinem eigenen Gefolge zu.
Zwölf waren es diesmal, lauter Männer, die ihn von beiden Seiten bedrängten. Iwwerks strich sich über die graue Bartkrause und zupfte am Reißverschluss seiner Lammfelljacke, bis sein dunkelblaues Fischerhemd gut zu sehen war. Wieder hatte er den Spruch vom Menschenfischer Simon Petrus auf der Zungenspitze, diesmal aber verkniff er ihn sich. Die Leute erwarteten etwas anderes von ihm, eine Entscheidungshilfe, eine Bewertung. Und er wollte die Leute nicht enttäuschen.
Iwwerks wusste genau, dass er in Wirklichkeit kein Volkstribun war, aber er hasste diesen Gedanken, weil er es so sehr liebte, in dieser Rolle geliebt zu werden. Er liebte das große Wort und beherrschte es, er wusste genau, was mehrheitsfähig war und wann Opposition mit Sympathie belohnt wurde. Eigentlich war Iwwerks keinen Deut anders als die vielen, die niemandem Böses, Gutes aber vor allem sich selbst wollten. Das aber förderte seine Popularität eher noch, denn alles andere hätten seine Bewunderer als unnormal empfunden.
Bewunderung in großem Maßstab war seine Droge, und wie viele Abhängige war auch er eher zufällig darauf gestoßen. In den sechziger Jahren war er, der damals noch junge Greetsieler Fischer, gegen die Pläne der Holländer, ungeklärte Abwässer in den Dollart zu leiten, Sturm gelaufen. Alle seine Kollegen hatten um ihre Fänge gefürchtet, er hatte den Mund aufgemacht: »Duum drup op de Smeerpijp!« Umweltschutz aus ökonomischen Gründen – das war etwas Neues gewesen, das hatte ihm plötzlich Beifall aus den verschiedensten Ecken von linksökologisch bis nationalistisch eingebracht. Eine Ur-Erfahrung.
»Fischer schmiedet Koalition quer durch alle Lager«, hatte eine Zeitung getitelt. Das war seitdem sein Markenzeichen. Das und sein Fischerhemd.
Eigentlich war er längst kein Fischer mehr. Seine beiden Kutter fuhren mit angeheuerten Besatzungen, und sie fischten auch nicht richtig, sondern fuhren Hobbyangler zu den Fischgründen. Das war zuverlässig einträglich, zumal die Kuttergäste überwiegend in seinen eigenen Pensionen und Hotels geworben wurden. Iwwerks hatte geerbt, Land vor allem, hatte gut dosiert verkauft und klug investiert. Sehr klug sogar. Sein Sinn für das Angesagte erstreckte sich eben auch aufs Geschäft. Kaum jemand wusste, wie reich er inzwischen wirklich war.
Aber jetzt wurde es Zeit. Seine Korona wollte etwas hören. Der Schwarm bestand aus Zufallsguckern und war doch typisch: Jagdfreunde vom Hegering, weitläufige Nachbarn, Gastwirte, Umweltschützer. Die meisten erklärte Windkraftgegner, die Iwwerks auf ihrer Seite wussten. Schließlich hatte er als pflichtbewusster Fremdenverkehrsgewerbler doch oft genug gegen den Verbrauch der einmaligen Küstenlandschaft gewettert, und bei mancher Protestaktion hatte er in der vordersten Reihe gestanden. Dort, wo man nicht übersehen wird.
Kontrovers war nicht die Stoßrichtung dieser neuen Aktion, kontrovers war der Sabotageakt selbst. Fünf der zwölf Männer sprachen sich offen und vehement dafür aus, fünf andere, die weit bedächtiger auftraten, eher dagegen. Nur die Buurmann-Brüder, zwei junge Landwirte aus Cirkwehrum, wetterten lauthals gegen »diesen Schweinkram«. In Cirkwehrum war ein großer Windpark in Planung, und die Buurmanns hatten Land an der richtigen Stelle. Jeder wusste das. Die Aussicht auf persönlichen Profit war eben ein Argument wie jedes andere auch.
»Ich will euch mal was sagen.« Iwwerks brauchte seine Stimme kaum zu heben, die Diskussion war sofort wie abgeschnitten. Gewöhnlich genoss er diesen Moment, in dem alle Blicke erwartungsvoll auf ihm ruhten, genoss die Vorfreude auf seine Droge, den kleinen Rest prickelnder Unsicherheit, ob er wohl wieder den Punkt treffen würde. Diesmal aber war es anders. Ganz anders. Und er musste höllisch aufpassen, dass keinem das auffiel.
»Ihr wisst, wie ich zu diesen Windmühlen stehe«, sagte er. »Und ihr wisst auch, wie wütend ich auf die Politiker bin, die uns immer mehr davon hinstellen. Ich kann jeden verstehen, der sich darüber aufregt. Und ich kann auch jeden verstehen, der seinen Ratsvertretern, die so was beschließen, ’ne Fuhre Mist vor die Tür kippt.« Jetzt erhob er seine Stimme, rief in das aufbrandende Gelächter hinein: »Aber das hier ist was anderes. Hier stecken Werte drin, Investitionen, da hängen Arbeitsplätze dran. Das kann man doch nicht einfach in Klump hauen.«
Augen wurden aufgerissen, Münder zum Protest geöffnet. Schnell sprach er weiter: »Wenn einer mit so was durchkommt, dann ist das, als ob ein Deich bricht. Und dann muss manch einer von uns damit rechnen, dass ihm der Laden angesteckt wird.«
Das saß. Viele Pensionsbetreiber, egal ob haupt- oder nebenberuflich, hatten ihre Gebäude in den letzten Jahren und Jahrzehnten aufgestockt und erweitert, ohne sich übermäßig mit den Bauvorschriften abzugeben. Streit und Anzeigen hatte es reichlich gegeben, aber nie mehr als ein Bußgeld. Der Gedanke an aktive, an handfeste Kritik per Sabotage ließ alle schaudern.
Der Kreis zerstreute sich. Iwwerks spürte die Seitenblicke. Keine Droge heute. Er musste die Sache endlich ins Reine bringen, so viel war klar. Dieser Spagat war nicht mehr lange durchzuhalten.
Nachbar Ihne Kröger blieb noch einen Augenblick an seiner Seite. »Was macht denn deine Tjalk?«, fragte er. »Kommst du voran mit dem Ausbau?«
»Kein Stück.« Iwwerks seufzte. »Liegt ja immer noch in Emden, im Jarssumer Hafen. Was soll ich da schon schaffen?« In Greetsiel besaß er eine Halle, die auch geheizt werden konnte. »Aber solange alles zugefroren ist, kann ich das Boot ja nicht holen. Kaum zu glauben, so viel Eis haben wir seit Jahrzehnten nicht mehr gehabt.«
Iwwerks hatte sich das zwölf Meter lange Holzschiff selbst zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt. Die Substanz war gut, der Zustand zwar nicht original, aber die entstellenden Umbauten hielten sich in Grenzen. Mit etwas Zeit und Geld ließ sich bestimmt ein Schmuckstück daraus machen. Und Zeit und Geld hatte er ja genug.
»Kannst du’s denn nicht mit dem Trailer holen?«
»Hör bloß auf! Dreizehneinhalb Tonnen Gewicht und vier Meter Breite, da brauche ich doch ’nen Schwertransporter mit Sondergenehmigung und Polizeibegleitung. Nee, nee. Außerdem« – er blieb stehen, schob beide Hände in die Jackentaschen und streckte den Bauch vor – »außerdem dauert das keine zwei Wochen mehr, dann taut es rapide. In drei Wochen ist das Eis weg, und dann fahre ich das Schiff alleine rüber. Sollst mal sehen.«
Kröger schaute den Wetterpropheten bewundernd an, ehe er sich verabschiedete.
Iwwerks atmete tief durch.
8
Die Autobahn zwischen Emden und Leer war zwar schon seit längerer Zeit lückenlos fertig, aber Boelsen benutzte sie nicht. Das tat er nie. Längere Strecken legte er mit der Bahn zurück, notfalls mit dem Flugzeug. Seinen Urlaub verbrachte er ohnehin auf dem Wasser, entweder auf einem gecharterten Segelboot irgendwo in der Ägäis oder auf der Aeolus, seinem Dreizehnmeter-Motorkreuzer, irgendwo in den hiesigen Revieren, auf den Flüssen Ems und Weser oder zwischen den Inseln.
Aeolus, der Herr der Winde – den Namen hatte er natürlich bewusst gewählt, und er passte zu ihm wie zu seiner Profession. Besser als das stählerne Schiff selbst mit seinen beiden großvolumigen Dieselmotoren. Irgendwann würde er sich eine Segelyacht zulegen, eine, deren Segel so geschnitten waren, dass er sie auch alleine beherrschen konnte. Herr der Winde. Aber vorerst brauchte er die alte Aeolus noch, denn sie diente auch als schwimmende Tagungsstätte für Geschäftspartner und potentielle Kunden. Mancher Vertrag, der zwischen Bürowänden auf Widerstände stieß, kam an der frischen Seeluft problemlos zur Unterschrift.
Sein Diesel-Golf fuhr mit Rapsöl, und er benutzte ihn fast ausschließlich im Nahbereich, zwischen seinem Haus in Leer-Loga, seiner Firma in Wiesmoor und den Anlagen und Baustellen überall in Ostfriesland. Wenn es in Diskussionen mit Umweltschützern um die Drosselung des individuellen Energieverbrauchs ging, führte er sich gern selbst als Beispiel an. »Wo es Wege zur Einsparung gibt, da müssen wir sie nutzen, und wo es diese Wege noch nicht gibt, da müssen wir sie schaffen.« Boelsen nickte gedankenverloren.