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Oldersum, wo die Bundesstraße direkt am Innentor der Schleuse vorbeiführte, nahm er Fahrt weg und schaute durch das Brückengeländer auf den Ems-Seitenkanal hinunter. Weiter hinten spielten Kinder auf dem Eis, das so dick war wie selten. Mehrere kleinere Yachten ragten aus der weißen Fläche, eine davon war steuerbords bis zum Gangbord weggesackt, vermutlich vom Eisdruck beschädigt und vollgelaufen. Boelsens eigenes Schiff stand sicher an Land, im Winterlager. Er wusste genau, was ihn diese Aktion gekostet hatte, trotz aller Beziehungen, und verbot sich daher jede Schadenfreude. Die Überholungsarbeiten waren beendet; sobald das Eis weg war, sollte die Aeolus wieder ins Wasser, so schnell wie möglich.

      Noch aber war das Eis da, und darum beneidete er die Kinder: Schöfeln gehörte zu den ostfriesischen Grundsportarten. Boelsen hatte sich vor Jahren schon Schlittschuhe gekauft, in den letzten Wintern aber hatte es nie lange genug gefroren; entweder hatte er gerade keine Zeit gehabt, wenn das Eis freigegeben wurde, oder aber die Flächen waren so voll gewesen, dass er sich geniert hatte, sich vor so vielen Könnern als Anfänger bloßzustellen. Als vor einiger Zeit Pläne bekannt geworden waren, in Leer eine monströse Eishalle zu bauen, hatte auch er zu den Begeisterten gehört. Und jetzt dieser Winter. Ein Hohn. Aber auch ein interessantes Projekt, diese Eishalle, obwohl sie vermutlich nie realisiert werden würde. Ehrgeizig. Natürlich nicht so ehrgeizig wie seine eigenen Pläne. Seine Bowindra – »Boelsens windbetriebene Rotor-Anlagen« – war drauf und dran, ihren ersten wirklich bedeutenden Coup im Ausland zu landen, und zwar nicht irgendwo, sondern in den USA. Am liebsten hätte er sich die Hände gerieben. Zweihundert Anlagen auf einen Streich, das war ein Ding. Wenn das klappte, dann war ein gewaltiger Markt erschlossen. Gerade zur rechten Zeit, denn in Deutschland wurde die Konkurrenz stärker, und auch die Dänen schliefen nicht. Und warum sollte das nicht klappen? An ihm sollte es jedenfalls nicht liegen.

      Kurz hinter Terborg bog er auf die Straße direkt unterm Deich ein. Für ihn als Logaer verlief die zwar eigentlich zu weit westlich, aber er wollte lieber den Mittagstrubel in Neermoor und die Käuferkolonnen beim Emspark vermeiden. Außerdem fuhr er gern dicht an der Ems entlang, auch wenn der Fluss hier gänzlich hinter dem hochragenden Deich verborgen war. Aber er wusste ja, dass der Fluss da war, und das war schließlich die Hauptsache.

      Beim Sautelersiel nahm er wieder Gas weg, begutachtete den zugefrorenen Vorfluter. Es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass er selbst für seine Verhältnisse zu bummelig fuhr. Boelsen streckte sich hinterm Steuer und gab Gas.

      Den Schlag spürte er zuerst im Lenkrad. Hinter ihm knallte es, der Wagen zuckte leicht nach rechts. Boelsen glaubte, Schneegriesel an seinem Hinterkopf zu fühlen. Dann brauste es eisig herein. Er nahm den Fuß vom Gaspedal und fasste sich in den Nacken. Als der Wagen ausgerollt war, zog er die Handbremse mit der linken Hand an. Die rechte war blutig.

      Er schaltete die Warnblinker ein und stieg aus, taumelte, hielt sich an der Dachkante fest. Zwei Autos fuhren vorbei, Boelsen registrierte missbilligende Blicke.

      Die hintere Seitenscheibe seines Golfs war weg, Glassplitter bedeckten die Rückbank, einige steckten in der Kopfstütze. Wieder griff er sich an Kopf und Hals und zuckte zurück. Schmerz und Schock kamen gleichzeitig. Er lehnte die Unterarme an die Dachkante, legte seine Stirn darauf, drückte die zitternden Knie durch und atmete tief, bis sich der Schwindel legte.

      Als er die Augen wieder öffnete, sah er die kleinen, runden Löcher im Seitenblech unter der gähnenden Fensterhöhle. Schrot, dachte er. Kornemann hätte das gleich gesehen. Dann überlief es ihn heiß. Er schaute zurück, drehte sich um, einmal ganz um die eigene Achse. Da war niemand. Oder? Auf der anderen Straßenseite waren Weiden, davor ein Graben, Büsche, krumme Bäume. Weiter hinten ein Haus, eine Einmündung. Die Straße kannte er, ein geschlängelter Betonplattenweg, der führte quer durch den Hammrich zur Bundesstraße, da hatte er auch schon Grundstücke inspiziert.

      Ob der Schütze da gestanden hatte? Ob er da immer noch stand? Dann sieht er jetzt, dass ich noch lebe, dachte Boelsen. Er stieg ein, startete und fuhr los. Als er seine klebrige Hand vom Griff der Bremse löste, wurde ihm übel.

      9

      Der Kulturspeicher hatte nicht ausgereicht, bei weitem nicht. Also hatte man die Veranstaltung in die Turnhalle des Ubbo-Emmius-Gymnasiums verlegt, und auch die platzte fast aus den Nähten. Drei- bis vierhundert Leute, schätzte Sina Gersema. Im Schätzen war sie geübt, drei Jahre Lokaljournalismus hatten Früchte getragen. Der kleinere Teil der Leute hockte auf den Holzbänken vor dem Podium wie die Vögel auf der Stange, die weitaus meisten standen dahinter. Noch ging es nicht los, man unterhielt sich gruppenweise. Die allgemeine Erregung ließ die Halle brausen und dröhnen.

      Die Diskussionsveranstaltung war schon vor Wochen angesetzt worden. Wie viel Windkraft braucht das Land? – Podiumsdiskussion mit Vertretern der Parteien und Interessengruppen. Kulturprogramm: Nanno Taddigs (Lieder und Lyrik). Veranstalter: Initiative für Ostfriesland (IFO).

      Zwei bis drei Dutzend Leute höchstens, dachte Sina, mehr wären niemals gekommen. Trotz Nanno. Wenn das nicht gerade heute passiert wäre.

      Wie fast alle anderen auch hatte sie aus dem Radio davon erfahren, im Auto, auf dem Weg zu ihrer Mutter, die jetzt ganz allein in Leer lebte. Erst der Sabotageakt an der Windkraftanlage in der Krummhörn, dann das Attentat auf Boelsen. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Die vom Radio offenbar auch nicht. Kein Wort von den schematisierten Täter-Vermutungen, die sonst so leichthändig geäußert wurden. Politisch gibt das überhaupt keinen Sinn, hatte Sina überlegt. Ihre Neugier war stetig gewachsen und hatte sie schließlich hergetrieben. Wie wohl alle anderen auch. Dass sie außerdem ein bisschen gespannt auf Nanno war, wunderte sie selbst. Sie blickte sich um. Hier in Leer, an genau dieser Schule, hatte sie vor sieben Jahren Abitur gemacht, in dieser Halle hatte sie ihre Turnstunden absolviert. Alles hier war noch so wie früher, selbst die Flecken im ausgebesserten Putz neben und über der Heizung waren immer noch nicht übergestrichen. Sina lächelte. Und das linke Geräteraum-Tor schloss auch nicht richtig, genau wie früher. Wenn man sich mit der Schulter dranlehnte, wich es zurück, die untere Torkante schwang aus und schlug einem Knöchel und Waden grün und blau. Da, gerade war es wieder passiert. Sina sah den Mann auf einem Bein hüpfen und wandte sich schnell ab, weil sie ihr Grinsen selbst etwas unpassend fand.

      Sie schlängelte sich durch das Gewühl, suchte nach bekannten Gesichtern, grüßte ehemalige Lehrer. Direkt vor ihr wurde erregt diskutiert, wollige Pulloverrücken bildeten eine Barriere. Eine schmale, ungeduldig tänzelnde Gestalt löste sich aus dem Kreis, der sich augenblicklich wieder schloss, drehte sich mit vor der Brust verschränkten Armen einmal um sich selbst, blickte wie abwesend über die Köpfe.

      Sina strahlte, als sie die Hände ausstreckte: »He, Melli!«

      Sie umarmten sich wie früher, als sie in der Oberstufe Tischnachbarinnen gewesen waren: leicht, ohne Druck, eher knochig als fleischig. Sina erinnerte sich noch gut daran, wie sie Melanie jahrelang hofiert, wie sie um ihre Gunst gebuhlt hatte, wie stolz sie gewesen war, als sie endlich neben ihr hatte sitzen dürfen. Freundlich, aber distanziert hatte Melanie auf ihre Herzlichkeit reagiert. Sina hatte diese Ungleichheit in ihrer damaligen Beziehung schnell erkannt, eigentlich von Anfang an. Böse aber war sie Melanie bis heute nicht, auch wenn es in den letzten Jahren praktisch keinen Kontakt mehr zwischen ihnen gegeben hatte. Gräfin Melli hatte sich anhimmeln lassen und die Vorzüge solcher Verehrung gern genossen, aber nie missbraucht. Auch eine Art von Fairness.

      Verändert hatte sie sich kaum, sah mit sechsundzwanzig eher noch schöner aus als früher, beinahe unwirklich, fand Sina. Melanie überragte Sinas einsfünfundsechzig um eine gute Spanne, ihr weißblondes, langes Haar umrahmte ein schmales Gesicht, das immer noch völlig frei von Make-up war. Ihre betont rustikale Kleidung – grauweißer Wollpul­lover, hellblaue Jeans, schwarze Schnürschuhe – ließ sie aristokratischer denn je wirken. Sogar ihr Lächeln sieht huldvoll aus, dachte Sina. Mit ihrer dunkelbraunen Antiklederhose, ihrer Seidenbluse, der Fransenweste und der leichten Rottönung in ihren schulterlangen feinen, kastanienbraunen Haaren kam sie sich unpassend aufgezäumt vor. Warum nur klammert sich der Mensch an Idole, wenn deren Gegenwart doch nur die eigenen Selbstwertmängel ins Licht zerrt? Lust an der Qual? Und wenn schon. Damals hatte sie das nicht so empfunden, und heute stand sie darüber.

      Für