Peter Gerdes

Ebbe und Blut


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»Der Schrotschuss traf das linke hintere Seitenfenster meines Wagens, meine Verletzungen rühren ausschließlich von den Glassplittern her.« Fehlgegangener Mordanschlag, gezielte Warnung oder verirrter Schuss eines Jägers – Boelsen ließ es offen, sparte sich jede Schuldzuweisung und kassierte damit weitere Pluspunkte auf der Gegenseite.

      Diesen Kredit löste er sofort ein, indem er ein Plädoyer für die Windkraft anschloss: »Der heutige Tag hat wieder einmal gezeigt, wie viel Überzeugungsarbeit noch zu leisten ist. Wir werden uns nicht irremachen lassen, wir werden unseren Weg weitergehen, weil wir wissen, wohin er führt, und weil wir wissen, dass wir genau dorthin wollen.«

      Niemand unterbrach ihn, niemand pfiff, der Schlussapplaus war fast so laut wie die Begrüßung. Clever, dachte Sina.

      Acht Personen hatten inzwischen an den zusammengeschobenen Resopaltischen hinten auf dem knapp achtzig Zentimeter hohen Podium Platz genommen, sieben Männer und eine Frau. Niemand rührte sich, als Boelsen sich umschaute und die Hand mit dem Mikrophon anbietend zur Seite reckte. Kornemann fuhr herum, ungehalten von einem Augenblick zum anderen. Fordernd zuckte seine linke Hand hoch. Da gab sich Iwwerks einen Ruck.

      Er hatte sich gestylt wie immer zu solchen Anlässen. Die Bartkrause hatte er sorgfältig nach vorn gekämmt, die Elbseglermütze aufbehalten; das dunkelblaue Fischerhemd mit den dünnen weißen Streifen spannte sich leicht über seinem Bauch. Zur schwarzen Manchesterhose trug er seine neuen, hinten geschlossenen Clogs, in denen er sich noch nicht ganz sicher fühlte. Daher fiel sein Gang noch seemännisch-rollender aus als gewöhnlich.

      »Was hat der denn vor? Ein Shanty singen?«, entfuhr es Sina, als Iwwerks zum Mikro griff. Mehrere der Umstehenden drehten sich nach ihr um und lachten. Melanie lachte nicht.

      Der Radau brach auf der rechten Flanke los, kaum dass Iwwerks den Mund geöffnet hatte. »Hol doch dien Muul, du Dööskopp!«, ertönte eine heisere, aber überraschend laute Männerstimme. Die weiteren Zurufe waren nicht mehr zu verstehen, sie flossen ineinander wie Bronzebäche, die zusammen eine Glocke erzeugten. Eine aus Gebrüll, die Iwwerks’ Worte vollständig zudeckte. Sina stellte sich auf die Zehenspitzen und sah geballte Fäuste, geschwungen von Männern, die ganz ähnlich, wenn auch nicht so perfekt ausstaffiert waren wie der verhinderte Redner.

      »Die Guntsieter Fischer!« Melanie schrie ihr direkt ins Ohr. In der Halle wurde es immer lauter; einige stimmten in den Fischer-Chor ein, andere brüllten dagegen an. Die Spaltung, die Boelsen so geschickt übertüncht hatte, war schlagartig wieder da.

      »Was haben die denn gegen den?«, schrie Sina zurück.

      »Die ostfriesischen Fischer hatten alle zusammen gegen die Emsvertiefung geklagt. Dann hat die Werft, die als Einzige von der Vertiefung profitiert, den Guntsietern neue Kutter versprochen, und da haben die ihre Klage zurückgezogen.« Melanie stützte sich auf Sinas Schulter. Mehr und mehr geriet die Menge in Bewegung. Es knuffte und schubste von allen Seiten. »Iwwerks war stinksauer und hat mächtig auf die anderen geschimpft. Die haben geantwortet, er sei ja gar kein Fischer mehr, sie aber müssten schließlich vom Fischfang leben, also solle Iwwerks sich da raushalten. Und dann hat Iwwerks sie in einem Interview als Verräter bezeichnet. Vor ein paar Tagen erst.«

      Klar, dachte Sina. Die Fischer haben nur auf die nächste Chance gewartet, um sich Iwwerks öffentlich vorzuknöpfen. Und haben voll ins Wesennest gestochen.

      Das Getöse nahm immer noch zu. Irgendwo schrillte eine Trillerpfeife, gleich darauf stimmten andere ein. Offenbar waren nicht nur die Fischer mit festen Krawall-Absichten hergekommen. Durch einen Wald von gereckten Armen und fuchtelnden Fäusten sah Sina ihren Physiklehrer mit dem Mikrophon, hörte drei, vier beschwörende Worte, dann war der Ton weg. Das Podium wurde fluchtartig geräumt, die Leute rannten zum Hinterausgang. Kornemann, Boelsen und Iwwerks waren schon nirgends mehr zu sehen. Ein Teil der Menge drängte nach vorn, der andere nach links, zum Haupt­portal.

      »Nichts wie raus«, schrie Sina. Jetzt begriff sie, was es bedeutete, das eigene Wort nicht verstehen zu können. Eine neue Erfahrung, dachte sie, während sie sich hinter Melanie her zum Ausgang kämpfte.

      Etwas Hartes krachte gegen ihre Knie. Sie stoppte, wurde weitergeschoben, taumelte, kämpfte um ihr Gleichgewicht, klammerte sich an irgendwelchen Armen fest. Vor und unter ihr saß Nanno in seinem Stuhl. Sie schaute direkt in seine grauen Augen. Der Schmerz verging, als er lächelte. Was er sagte, konnte sie nicht hören. Er drehte sich nach vorn, seine Arme stießen auf die Räder hinab. In seinem Kielwasser passierte sie das Nadelöhr.

      Draußen blieben sie erst hinter den Parkplätzen stehen. Sina spürte den Schweiß am ganzen Körper und fror plötzlich. Ihre Jacke hatte sie im Auto gelassen.

      »Frostkötel«, spottete Nanno, als sie sich in ihre eigenen Arme zu wickeln versuchte. »Hast dich wirklich kaum verändert.«

      Aber du, dachte sie. Ihre Zähne begannen zu klappern, und sie öffnete die Lippen, damit er es hörte.

      Er lächelte zurück.

      10

      »Bitter Lemon, wie immer?«

      »Genau.« Nanno nickte der Bedienung, die gerade den überflüssigen Stuhl mit routiniertem Schwung an den Nachbartisch geschlenzt hatte, freundlich zu. Hier im Taraxacum scheint er ja gut bekannt zu sein, dachte Sina und bestellte sich einen Bordeaux. In dem ziemlich voll besetzten Café, das in der Leeraner Altstadt hinter einem altertümlich anmutenden Buchladen lag und nach Ladenschluss nur durch eine schmale Seitengasse zu erreichen war, wurde ihr schnell wieder warm. Musik von Sting rieselte aus den Lautsprechern, gerade laut genug, um vom allgemeinen Stimmengewirr nicht verweht zu werden. Viele waren von der Turnhallen-Veranstaltung direkt hierher gekommen; entsprechend lebhaft war die Unterhaltung.

      Unterwegs hatte Sina Gelegenheit gehabt, ihre Gedanken und Gefühle zu sortieren. Sicher, irgendwer hatte ihr seinerzeit erzählt von dem Motorradunfall, und dass Nanno »wohl etwas zurückbehalten« würde. Aber damals hatte sie so viele andere Dinge im Kopf gehabt, und irgendein anderer Junge – sie dachte von ihren Ex-Liebhabern nur als von »Jungen« – hatte das Bild des von ihr leidend, weil ohne echte Hoffnung angeschmachteten Nanno zum Verblassen gebracht. Der mit dem geheimnisvollen Blick, vom anderen Gymnasium, ein paar Klassen älter – Backfischkram. Sie hatte beruhigt registriert, dass er mit dem Leben davongekommen war, und angenommen, alles andere würde schon wieder werden.

      Kein Gedanke an Rollstuhl.

      Die Getränke kamen schnell, noch ehe ihr Gespräch in diesem schweren Geläuf Fuß gefasst hatte. Sie strahlte Nanno an, wohl etwas zu heftig, denn er lächelte nur nachsichtig zurück, und das tat weh. Sina senkte den Blick in ihr Weinglas. Der funkelnde Bordeaux war dunkel, fast schwarz.

      Dann fing er einfach an zu erzählen, berichtete knapp von dem Unfall – ein Trecker mit abgesenktem Frontlader, er hatte keine Chance gehabt – und von der Zeit danach. In Andeutungen nur, ohne so mitleidheischend ins Detail zu gehen, wie Sina das von ihrer Mutter kannte. Sie ahnte auch so, was für eine harte Zeit das gewesen sein musste mit Krankenhaus, Reha-Kliniken und unzähligen Therapiestunden. Eine verdammt lange Zeit.

      »Mir war klar, dass ich mich entschließen musste«, sagte er dann. »Jeder Rolli hat seinen Entschluss gefasst, das weiß ich inzwischen. Du hast die Wahl zwischen einem langen Tod und einem neuen Leben. Ich habe mich für das Leben entschieden.« Sein Unterkiefer war hart, als er das sagte, wie von einer großen Anstrengung. Seine Wangen waren hohl und straff, und seine Augen glitzerten. Dann lächelte er wieder.

      Sina weinte, kramte nach einem Papiertaschentuch, sagte: »Entschuldige bitte.«

      »Diesmal ja«, sagte er. »Aber mach’s dir nicht zur Gewohnheit.«

      Sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. »Und wo lebst du jetzt? Und was machst du?« Was man eben so fragte unter alten Freunden, nach so langer Zeit.

      Nanno erzählte, dass er sich eben erst wieder in Ostfriesland niedergelassen hatte. »Auch ein Stück mehr Unabhängigkeit, weißt du. Bis vor kurzem war ich noch auf die Großstadt angewiesen, wegen der vielen Fachärzte und Einrichtungen, die ich so brauchte. Jetzt kann ich schon wieder