Peter Gerdes

Ebbe und Blut


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Sina hatte von ihren Problemen mit dem Laden gehört und von den Sorgen um die Kinder, die zwar angeblich hochbegabt, aber schwierig und häufig krank waren. Melli musste unter einem wahnsinnigen Druck stehen. Aber heute war von all dem nichts zu spüren.

      »Bist du beruflich hier? Als Journalistin? Extra wegen dieser Sache?« Melanie schien Sinas Kopfschütteln zu übersehen. »Aus ganz Ostfriesland sind Leute gekommen. Ich bin ja mal gespannt, was jetzt passiert. Könnte ein Wendepunkt sein, was die Windkraftnutzung betrifft. Auf jeden Fall können die ja nicht so weiterwursteln wie bisher, sonst eskaliert das hier endgültig.«

      »Du bist gegen Windkraft?« Sina war völlig perplex. »Vom Umweltstandpunkt her sind Sonne und Wind zur Energieerzeugung doch das einzig Wahre, dachte ich immer. Hast du das Lager gewechselt, oder was?«

      »Überhaupt nicht.« Melanies Gesichtsausdruck wechselte vom Hoheitsvollen ins Missionarische. »Theoretisch stimmt das ja, was du sagst, aber was hier praktisch läuft, ist eine völlig andere Sache. Was uns als Nutzung der Windkraft verkauft wird, ist doch in Wirklichkeit eine Strategie, um sie zu diskreditieren.« Mit Sinas sichtbarem Unverständnis hatte sie eindeutig gerechnet. »Erinnerst du dich noch an Growian? Diese einflügelige Experimental-Anlage. In dieses Projekt wurden damals Millionen an Steuergeldern reingepumpt. Hat natürlich nie richtig funktioniert, logisch. Damit hat man die Forschung jahrelang aufgehalten, verstehst du? Absichtlich! Um zu beweisen, dass Windkraft nichts bringt, während überall die Atomkraftwerke hochgezogen wurden. Ein Flügel! Dabei gibt es Mehrflügler seit Jahrhunderten. Ist das nicht eindeutig?«

      Sina hatte von Growian gehört. Dieser Zusammenhang war ihr neu, er klang nicht unlogisch, wenn auch etwas zu einfach. »Aber die modernen Anlagen haben doch drei Flügel, oder? Und sie funktionieren.«

      »Sicher.« Melanie blieb geduldig, auf ihre altbekannte Art, die ein wenig verletzend wirkte, ohne dass sich dieser Eindruck zum Vorwurf hätte verdichten lassen. »Aber solange diese Dinger einzeln oder in kleinen Gruppen wahllos überall aufgestellt werden, sind sie für die allgemeine Stromversorgung ohne echte Bedeutung. Sie verschandeln nur die Landschaft und bedrohen die Tiere. Außerdem ist der Strom überteuert und muss von der gesamten Bevölkerung bezahlt werden. Da entsteht Unmut, eine unheimlich breite Ablehnung, verstehst du? Und die richtet sich natürlich gegen die Windkraft selbst. Das meine ich mit diskreditieren. Gerade hier in Ostfriesland ist das besonders drastisch. Wenn dieser Unfug nicht schnellstens abgestellt wird, dann ist die Windkraftnutzung hierzulande unten durch, und zwar auf Jahrzehnte hinaus.«

      Einen Moment lang hatte Sina die Vision einer heiligen Melanie mit Brustpanzer, Krempenhelm und Breitschwert, mehr Karikatur als Idol. Konnte es sein, dass Melanie, einst eine Verfechterin der Gewaltfreiheit, die beiden Attentate be­fürwortete? Sina spürte, wie ihre Augenbrauen auf­einander zukrochen und dabei ihre Stirnhaut zu einer steilen Doppelfalte zusammenschoben.

      »Dieser Anschlag auf Boelsen war absolut hinterhältig. Heimtückisch. Furchtbar. Dabei ist der doch nur einer, der die Situation ausnutzt. Kein wirklicher Verursacher.« Ganz offensichtlich war Melanie immer noch eine exzellente Beobachterin. Da hätte ich sie auch gleich fragen können, dachte Sina. Die Frage nach Melanies Einstellung zu Gewalt gegen Sachen aber sparte sie sich für einen späteren Zeitpunkt auf.

      Das bislang ziellose Getümmel begann sich plötzlich auszurichten, so wie sich Eisenspäne formieren, wenn sich ein Magnet nähert. Alles schaute zum Eingang. Dort nahm das Gewühl erst zu, dann bildete sich eine Gasse, durch die jetzt Eilert Iwwerks samt Gefolge Richtung Podium schritt. Einige Schritte dahinter gingen Kornemann und Boelsen. Als Dreifach-Magnet betraten sie die Bühne. Langsam rückte die Menge vor, die Gespräche erstarben für einen Moment, setzten aber gedämpft wieder ein, als sich herausstellte, dass vorerst noch an der Mikrophonanlage gebastelt wurde.

      Boelsen schien nicht ernsthaft verletzt zu sein; nur hinten an seinem Hals, unterhalb des Haaransatzes, waren Pflaster zu erahnen. »Der neben ihm ist Kornemann«, raunte Melanie. »Dem gehören wesentlich mehr Bowindra-Anteile als Boelsen selbst. Ich glaube, das wissen die wenigsten. Sonst …« Sie wurden angerempelt, Melanie sorgte mit einem Blick für Distanz. Der Satz blieb unvollendet.

      »Boelsen hält angeblich nur fünf Prozent, dabei ist er der Firmengründer und der Fachmann«, fuhr Melanie fort. »Aber Kornemann ist eben der Mann mit dem Kapital. Boelsen hätte seinerzeit nicht einmal die Patentgebühren aus eigener Tasche zahlen können.«

      »Kornemann – das ist doch dieser Tiefbau-Mensch? Der schon mit vierundzwanzig das große Geschäft geerbt hat?« Sina erinnerte sich dunkel an ein Zeitungs-Porträt. Überschrift: »Dynamik und Durchsetzungskraft«

      Melanie nickte. »Und er hat’s noch gewaltig ausgebaut. Ein echtes Energiebündel, ziemlich gefürchtet wegen seiner Rücksichtslosigkeit. Inzwischen gehört ihm noch viel mehr. Kiesgruben sowieso, jede Menge Bauerwartungsland, Reedereianteile und wer weiß was sonst noch. Na, und die halbe Bowindra außerdem.«

      Macht fünfundfünfzig Prozent, rechnete Sina automatisch: »Und der Rest?«

      »Der gehört einer gewissen Hoka-Invest. Aber wer da nun dahinter steckt, das weiß ich auch nicht.« Immerhin war das, was sie wusste, eine ganze Menge, fand Sina.

      Hunderte von Händen zuckten hoch zu Hunderten von Ohren, als eine letzte, besonders heftige Rückkopplung durch die Halle peitschte. Dann ging es endlich los. Der Diskussionsleiter, Sinas ehemaliger Physiklehrer, der sich vor lauter Aufregung vorzustellen vergaß, verkündete die erwartete Abweichung vom geplanten Ablauf: Information über die Vorfälle des Tages, Stand der Ermittlungen, danach offene Diskussion, »und dann sehen wir weiter.«

      Kein Wort von Nanno, registrierte Sina. Sie hätte gern mal gehört, was der heute so dichtete und sang. Seit der Schulzeit hatte sie ihn völlig aus den Augen verloren, noch gründlicher als Melanie Mensing. Dabei hatte sie einmal mächtig für ihn geschwärmt. Aber dass Lieder und Gedichte unter diesen Umständen wohl nicht ganz ins Programm passen würden, sah sie natürlich ein.

      Kornemann trat vor, griff sich das Mikrophon mit der Linken, ohne hinzusehen, und legte los, ohne Anrede und Begrüßung, aber zu Sinas Überraschung sehr sachlich. Seine Stimme klang tief, fest und befehlsgewohnt, unaufdringlich selbstsicher. Die Menge lauschte fast atemlos. »Laut vorläufigem Untersuchungsbericht der Polizei wurde die Tat zwischen Mitternacht und etwa fünf Uhr dreißig morgens begangen, beteiligt waren fünf bis zehn Personen, die mit mindestens zwei Pkw zum Tatort gefahren waren …«

      Sina fühlte Melanies Arm an ihrem und konnte spüren, wie sie erst erstarrte und dann stärker als gewöhnlich zu beben begann. Ihr Gesicht war wieder bleich, stellte Sina mit einem Seitenblick fest. Aber das war es ja meistens. Ihrer Schönheit tat das keinen Abbruch, eher im Gegenteil.

      Kornemann sprach jetzt von der vermutlichen Schadenshöhe, vom Stromproduktionsausfall und von der geschätzten Dauer bis zur Errichtung einer Ersatzanlage. Das Attentat selbst hatte er offenbar übersprungen.

      Vor der Bühne wurde Unmut laut. »Wor hebbt se dat denn nu maakt?«, rief jemand. Aufmunternde Zurufe ertönten. Offenbar interessierte es eine Menge Leute, wie man solch einen Rotor herunterholen konnte.

      »Details der Tat nenne ich wohlweislich nicht«, sagte Kornemann. »Ich teile ganz die Auffassung der Polizei, dass irgendwelche Sympathisanten nicht auch noch zur Nachahmung angeregt werden sollen.« Der Blick seiner dunklen Augen hatte den Zwischenrufer ausgemacht und gepackt. Lider und Gesichtszüge blieben unbewegt, lediglich die Brauen schienen sich ein wenig gesenkt zu haben. Die Rufe verstummten. Sina spürte Melanies Ellbogen. Sie hatte wieder die Arme verschränkt.

      Kornemann trat zur Seite und gab das Mikro weiter an Boelsen. Beifall brandete auf. Fast alle klatschten, auch Melanie, stellte Sina fest. Dieser Boelsen, von dem bei aller zur Schau getragenen Überkorrektheit auch ein Rest jungenhafter Ausstrahlung ausging, wirkte tatsächlich nicht unsympathisch. Sina hatte in ihrer eigenen Zeitung schon mehrmals über ihn gelesen, hatte seine Vorstellung von ökonomisch orientierter Ökologie zwar nicht unbedingt überzeugend, aber doch glaubwürdig gefunden. Klar, dass jeder, der nicht ganz und gar im anderen Lager stand, von ihm angetan war. Und auch dieses andere Lager klatschte. Wenn der Anschlag auf Boelsen ein politisch motivierter war, dann