Ulrike Barow

Baltrumer Wattenschmaus


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      »So, und nun den Rasensamen rein, gießen und fertig.« Tim sah Bernd nicken, hatte aber das Gefühl, dass der Mann, der ihm netterweise immer half, wenn es Schweres zu erledigen galt, nicht ganz bei der Sache war. Wieder und wieder schaute der Mann hinüber zu dem Familiengrab der Kramers. Wahrscheinlich hatte Bernd Angst, dass der Rest des Skeletts plötzlich und unerwartet auftauchte. Er musste grinsen. Das wäre echt ein Ding. So konnte man natürlich auch Beerdigungskosten sparen, dachte er. Aber zugleich war ihm klar, dass ein anonymes Verscharren auf dem Friedhof mit Sicherheit aufgefallen wäre. Abgesehen davon, dass er sich häufig hier aufhielt, um alles in Schuss zu halten, kamen auch immer wieder Besucher, um sich die Namen auf den Steinen anzusehen. Im hinteren Bereich lagen Gräber von Soldaten, die bei der Explosion ihres Minensuchbootes ums Leben gekommen waren. Das Schiff war kurz nach dem Krieg vor der Insel auf eine Mine gefahren. Gleich neben den Gräbern waren Steine als Erinnerung an alte Insulanerfamilien aufgestellt worden.

      »Bernd, wo ist die Tüte?«

      Bernd Bohlen zuckte zusammen und nahm den Rasensamen aus der Vorratskiste. »Ich, du, ich, ach was!«

      »Was möchtest du mir damit sagen?« Tim ahnte schon, was Bernd wollte. Nämlich weg. Möglichst schnell weg. Er war erstaunt, wie nahe seinem Freund der Fund des Knochens ging.

      »Moin. Na, fleißig?«

      Tim drehte sich um. Er konnte ein Stöhnen kaum unterdrücken. Nicht Martha. Auch sie war häufig auf dem Friedhof anzutreffen. Fast noch häufiger als er. Sie war eine der wenigen Insulanerinnen, die sich intensiv um ein Grab kümmerten. Und immer wollte sie sich unterhalten, wenn sie auf dem Weg zum Grab ihres Mannes bei ihm vorbeikam.

      »Natürlich, Martha.«

      »Ihr löst Volkers Grab auf? Sind denn schon wieder 25 Jahre rum? Tied vergeiht, hätte mein Geerd jetzt gesagt. Is so. Dat sall woll ook nich mehr lang dauern, bis ik min Beenen unnert Gras liegen hebb. Und wer kümmert sick dann?«

      Oh, Mann, das ewig gleiche Geleier. Neulich hatte er es gewagt, ihr vorzuschlagen, sie solle sich doch seebestatten lassen. Da war er allerdings auf Granit gestoßen.

      »Dat meenst du nich in Ernst?«, hatte sie fassungslos gesagt. »Ik sall mien Geerd hier alleen liegenlaten? We hebben im Leben binanner gelegen und dat sall ok im Dod so sein.«

      »Martha, ich kümmere mich!« Martha und ihr Mann Geerd hatten keine Kinder. Also hatte er der alten Frau mindestens schon zum zehnten Mal versprochen, die Pflege zu übernehmen. Warum auch nicht? Ob er es wirklich tat, konnte sie dann schließlich nicht mehr überprüfen.

      Martha nickte nur und schlurfte langsam weiter.

      »Martha, ich habe einen Rosenstock. Willst du ihn haben?«, rief er hinter ihr her.

      »Nee, dat lot man. Geerd het immer seggt, wat we bruken, kopen wir uns.« Sie zeigte auf einen Korb mit bunten Blumen. »Heb ik bi Anke holt.«

      Na, dann eben nicht. Wenn Geerd es so wollte. War ja nur ein Angebot.

      »Was ist nun? Gibt es noch etwas, oder machen wir Schluss für heute?« Bernd schaute ihn bittend an.

      »Nein. Gönnen wir den Toten die Grabesruhe. Ich muss nach Hause. Das Abendessen wartet«, beschloss Tim mit einem Blick auf die Uhr.

      Sie verstauten die Spaten, die Harke und den Eimer im Gartenhaus, luden den Rosenstock auf die Wippe und verließen den Friedhof. Die schwere Pforte quietschte beim Öffnen.

      »Am Öl kann’s nicht liegen. Is’ keins dran«, murmelte Bernd, als er sein Rad aus dem Ständer hob.

      »Danke für’s Helfen. Ich melde mich bei Bedarf wieder«, verabschiedete Tim ihn.

      »Immer gerne«, erwiderte Bernd und bog links ab ins Ostdorf.

      Tim fuhr am Hotel »Dünenschlösschen« und am Sportplatz vorbei und dann geradeaus. Zu Hause angekommen, wurde ihm wie fast jeden Abend schmerzlich bewusst, dass vielleicht ein Abendessen, jedoch keiner auf ihn wartete, mit dem er es zusammen genießen konnte. Wie gerne hätte er jetzt eine fröhliche Begrüßung vernommen, aber es blieb ruhig. Wie jeden Abend. Caroline war nicht mehr da. Seine Lebensgefährtin hatte ihn vor vier Monaten verlassen, seitdem war Stille eingekehrt. Er hatte bis heute keine Ahnung, warum Line – er hatte sie nie Caroline genannt – ein Leben auf dem Festland vorgezogen hatte. Natürlich hatte seine Freundin ihm zu erklären versucht, warum sie gehen würde, aber Tim hatte sich bis heute geweigert, es verstehen zu wollen. An diesem Abend hatte die Kälte des Januars in seinem Haus Einzug gehalten und war, obwohl der Frühling viele warme Tage gebracht hatte, nicht wieder verschwunden.

      Er koppelte die Wippe vom Fahrrad und stellte den Rosenstrauch in einen Eimer. Es war nicht das erste Mal, dass er Blumen mitgenommen hatte. Sie waren voller Leben, warum also sollte er sie wegwerfen? Da gab er sie lieber anderen Insulanern. Auch wenn der Aberglaube besagte, dass man vom Friedhof nichts mitnehmen dürfe, weil das Unglück bringe. Aber er war sich sicher, dass dieser Glaube nur ausgestreut worden war, damit die Räuber nicht mit Blumen, die sie unerlaubt von den Gräbern mitgehen ließen, ihr Wohnzimmer schmückten. Sein Basecap und die Arbeitshandschuhe warf er auf das Regal im Flur. Das ging jetzt, seitdem Line weg war. Sie hatte immer darauf bestanden, dass die Arbeitssachen in den Schuppen gehörten. Warum konnte es nicht noch immer so sein?

      Tim warf sich in den Sessel. Der Appetit, den er auf dem Friedhof gespürt hatte, war ihm vergangen. Jedes verdammte Teil, der leere zweite Sessel, die grüne Kuscheldecke mit den Fransen, die sie ihm zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte, alles, verdammt alles erinnerte ihn an die Frau, die er so liebte.

      Er musste raus an die frische Luft, konnte nicht drinnen bleiben. Beinahe rannte er, zog die Tür hinter sich zu ohne abzuschließen und ging zurück dorthin, wo er sich zurzeit am wohlsten fühlte. Auf den Friedhof.

      Ich glaube, ich bin verrückt, dachte er, als er die metallene Pforte öffnete, die auf der einen Seite ein Segelschiff und auf der anderen die Inschrift »Christ Kyrie, komm zu uns auf die See« trug. Was soll ich hier? Natürlich gibt es immer etwas zu tun, aber nicht um 19 Uhr. Da wollten selbst die Toten ihre Ruhe.

      Langsam schlenderte er an den Gräbern vorbei. Um einige kümmerte er sich, andere wurden von den Angehörigen gepflegt. Wie das von den Kramers. Er blieb stehen und musste beinahe lachen bei dem Gedanken an Bernds Gesicht nach dem Knochenfund.

      Er bückte sich und schob vergilbte Narzissenblätter zur Seite. Auch Krokusse, die vor zwei Monaten den beginnenden Frühling begrüßt hatten, ließen nun schlaff die Köpfe hängen. Kramers hätten hier wirklich mal Ordnung reinbringen können, dachte er. Aber das mussten sie selbst wissen. Er war dafür nicht zuständig. Er wollte gerade weitergehen, da fiel ihm doch etwas auf. Ein toter Zweig einer kleinen Birke, der über das Grab hinausragte, störte seinen Ordnungssinn. Aber das Problem war keines. Er griff danach und riss ihn ab. Zumindest wollte er es, musste jedoch feststellen, dass er nicht nur den Zweig, sondern das ganze Bäumchen mit dem weißen Stamm in der Hand hielt. Sand flog hoch und landete auf seiner Jacke. Tim erschrak. Was hatte er da veranstaltet? Er legte den Baum neben das Grab und ließ sich auf die Knie fallen. Hoffentlich tauchten nicht gerade die Kramers auf, bevor er alles wieder hergerichtet hatte. Das würde ein schönes Geschrei geben.

      Sicher war es am besten, die Birke wieder einzugraben. Und zwar sofort. Natürlich hatte er in dem kleinen grünen Gartenhäuschen eine Schaufel liegen, aber der Schlüssel lag neben seinem Basecap auf dem Regal. Also hieß es mit den Händen ein Loch zu graben, das groß genug war, die Wurzeln des kleinen Baumes aufzunehmen. Es ging erstaunlich leicht. Die Erde war nicht so fest, wie er befürchtet hatte. Plötzlich spürte er einen Stich an seinem linken Zeigefinger. Eine rostige Haarspange hatte den Schmerz verursacht. Er legte sie neben das Grab. Er würde sie später entsorgen.

      Vorsichtig vergrößerte er das Loch und starrte auf das, was sich unter seinen Händen zeigte. Ein Knochen, dann ein zweiter schob sich ihm entgegen. Erst ein kleiner, dann einer, der aussah, wie eine Unterarmspeiche, dann ein dickerer mit einem Knubbel daran. Er schob wie unter Zwang weitere Erde vom Grab und hörte erst auf, als ihn eine Stimme in die Wirklichkeit zurückholte.

      »Machst