Ulrike Barow

Baltrumer Wattenschmaus


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Abarth stand in der Tür und begrüßte ihn freundlich.

      »Kommen Sie rein.«

      Er folgte dem Schulleiter ins Büro. »Also, wie sind die Pläne?«

      »Setzen Sie sich.« Abarth deutete auf einen Bürostuhl, der vor dem Schreibtisch stand. »Wir sprachen ja schon einmal über die Fahrradkontrolle. Wir haben uns nun gedacht, dass wir den erhobenen Zeigefinger weglassen und stattdessen eine fröhliche Schulparty veranstalten, bei der alle mitmachen. Sie kommen und kontrollieren die Räder. Wir haben schon jemanden, der bei Bedarf kleine Reparaturen ausführen kann. Dazu machen wir ein tolles Programm und wollen vorbeifahrende Insulaner anhalten und sie fragen, ob wir deren Räder auf Sicherheit kontrollieren dürfen. Die Kinder helfen Ihnen und können so ihr neuerworbenes Wissen anwenden.«

      Röder musste lachen. »Da bin ich aber gespannt, welcher Einwohner auf die Bremse tritt. Aber gut, ich bin gerne dabei. Wie wäre es in 14 Tagen? So können Sie in Ruhe mit Ihren Schutzbefohlenen alles vorbereiten, und meine Kollegin und ich stoßen dann zu Ihnen.«

      »Wunderbar.« Abarth zögerte. »Wo Sie gerade Schutzbefohlene sagen. Ich muss etwas loswerden. Ist wahrscheinlich völlig unwichtig, aber dann können Sie mal hören, womit wir uns auseinandersetzen müssen. Wilko, der Junge von Antje und Hans Jessen, sagte neulich: ›Wer leben will, muss töten!‹ Der Knabe ist erst elf und dann solche Sprüche!«

      »Haben Sie nachgefragt, was er damit meinte?«

      »Natürlich. Aber er hat nur den Kopf geschüttelt und geschwiegen. Er und seine Schwester Meta, sie ist acht, sind eigentlich sehr fröhliche, aufgeschlossene Kinder. Doch seit einiger Zeit werden sie immer stiller und beteiligen sich kaum am Unterricht. Das berichten alle Lehrer. So etwas passiert immer mal wieder. Hat mit der Entwicklung zu tun und gibt sich meistens. Aber bei Wilko fällt mir neuerdings auf, dass er ab und zu seltsame Sprüche loslässt. Zum Beispiel diesen hier: ›Ich kann nicht. Ich hab’s ihm versprochen. Ich muss zu ihm.‹ Das war, als ich ihn darauf hinwies, dass wir nachmittags gegen eine Mannschaft vom Turnerbund auf dem Schulsportplatz Fußball spielen wollten. Dann drehte er sich um und war verschwunden.«

      »Wissen Sie, wer ›ihm‹ ist?«

      »Keine Ahnung.«

      »Sie werden ihn im Auge behalten«, bat Röder den Schulleiter. »Reden Sie mit den Eltern. Sollte sich Neues ergeben – Sie wissen, wie Sie mich erreichen.«

      Paul Abarth nickte. »Ich rufe gleich bei den Jessens an und bitte um ein Gespräch. Ich unterrichte Sie, wie sich das Ganze entwickelt.«

      Michael Röder stand auf. »Gut. So verbleiben wir.«

      »Danke.«

      Der Inselpolizist verließ die Schule mit dem Gedanken, froh zu sein, dass es diesmal eine Kollegin war, die zu seiner Unterstützung auf die Insel kam. Sollte ein Kontakt zu den Kindern oder den Eltern nötig sein, würde sie bestimmt die passenden Worte finden. Zumindest hoffte er es. Noch kannte er sie nicht.

      4

      Anika Frederik spielte gedankenverloren mit dem Bändchen ihres Notizbuches. Gleich war die halbe Stunde Überfahrt, die sie vom Festland trennte, vorbei und sie würde ins Inselleben eintauchen. Sie hatte sich die Stelle nicht ausgesucht, sondern ihr Chef hatte ihr dringend dazu geraten. »Sie bleiben in Ihrem Job, aber es ist ein völlig anderes Arbeitsgebiet. Ruhig und beschaulich. Trunkenheit am Zügel – das war’s.«

      Sie hatte lachen müssen. Dabei war es gar nicht der Job gewesen, der sie belastet hatte. Zum zehnten Mal auf dieser Schifffahrt zog sie ihre Geldbörse mit dem Bild aus der Tasche und steckte sie wieder ein. Am Ostende von Norderney gewahrte sie jede Menge Seehunde, die sich in ihrer Ruhephase nicht einmal von dem vorbeifahrenden Schiff stören ließen. Auch ein kleines Motorboot, das mit aufheulendem Motor an der Sandbank vorbeirauschte, schreckte die Tiere nicht auf.

      Die »Baltrum I« querte die Wichter Ee, das Fahrwasser zwischen den Inseln, und bog in den Baltrumer Hafen ein. Es dauerte nicht lange, da verband der heruntergelassene Landgang das Schiff mit der Pier. Sie warf den leeren Kaffeebecher in den Mülleimer und verließ das Schiff. Auf zu neuen Ufern. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ihr Kollege wartete schon. Er sah nett aus. Schlank, Ende 40. So schätzte sie ihn zumindest ein. Er begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln. Sie holten ihr Gepäck aus dem Container und luden es auf den Fahrradanhänger.

      »Ich habe dir ein Rad mitgebracht. So geht es zügiger«, sagte der Mann, der sich als Michael Röder vorgestellt hatte.

      Das war gut. So mussten sie sich wenigstens nicht endlos unterhalten. Sie wollte erst einmal ankommen. Alles Weitere würde sich morgen bei Dienstantritt ergeben.

      Als sie an der Dienstwohnung ankamen, nahm sie sogleich ihren Koffer und folgte dem Inselpolizisten.

      »Soll ich dir alles zeigen?«, fragte er. »Die Wache ist gleich hier unten.«

      »Geht das bitte auch morgen? Von mir aus ganz früh. Ich möchte erst einmal den Koffer auspacken und einen Spaziergang machen. Damit ich weiß, wo ich mich befinde«, bat sie. »Hast du einen Ortsplan?«

      »Liegt auf dem Tisch. Aber eigentlich reicht es zu wissen, dass du dich hier im Westdorf befindest und, wenn du immer geradeaus gehst, irgendwann im Ostdorf landest«, erklärte Röder. »Verlaufen passiert nicht. Zumindest nicht für jemanden aus unserer Zunft. Morgen besorge ich dir einen Prospekt. Dann hast du mehr Informationen. Ansonsten – wenn du weitere Fragen hast, Sandra, meine Frau, und ich wohnen gleich links auf der anderen Seite. Falls dich Hunger überfällt – es gibt jede Menge Lokalitäten hier. Das Fahrrad kannst du bei Nichtgebrauch ins Gartenhäuschen stellen. Auch links.«

      »Danke. Wann beginnt der Dienst morgen?«

      »Sei um acht Uhr da. Ich habe einiges zu erzählen.« Damit war der Mann sehr zu ihrer Beruhigung verschwunden.

      Sie legte ihre Sachen in den schmalen Schrank im Schlafzimmer, wusch sich das Gesicht, zog Zivilklamotten an, steckte Geld und Inselplan in die Jackentasche und startete ihren Erkundungsgang. Auf der Strandmauer angekommen, setzte sie sich auf einen der Steine, die einladend herausschauten und ließ den Blick über das Wasser gleiten. Kleine Wellen rollten an die Buhnen, und Urlauber waren damit beschäftigt, sich immer wieder zu bücken und etwas in Taschen oder Tüten zu stecken. Ihr Blick ging nach rechts über den breiten Strand. An den Randdünen luden einige Strandkörbe zum Verweilen ein. Allerdings schien es ihr nicht warm genug, um im Bikini dort zu sitzen. Das Thermometer zeigte bestimmt nicht mehr als 15 Grad an, und die Sonne versteckte sich immer wieder hinter dunklen Wolken.

      »Nein, meine!«

      »Nein, meine!«

      »Die Muschel gehört mir!« Eine Kindergruppe, gefolgt von ein paar Erwachsenen, schlenderte vorbei. Wobei die Erwachsenen eher schlenderten, die Kinder aber fröhlich hin und her hüpften. Ein kleines Mädchen hielt die Hände auf dem Rücken fest verschlungen, während die anderen versuchten, ihm den Schatz zu entreißen. »Sucht euch selbst welche. Da liegen doch genug!«, rief das Mädchen, und so schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder hinter dem Deichschart. Den Eltern war wohl nicht mehr nach Muschelsuche am Strand gewesen.

      Was für ein unschlagbar geruhsames Leben, dachte Anika. Natürlich – die Feriengäste hatten nur eine begrenzte Zeit hier. Aber die Insulaner, besonders deren Kinder, konnten es gar nicht besser haben. Sie wuchsen quasi auf einem Freiluftspielplatz auf. Hier konnte nichts passieren. Kein Auto konnte … Nein. Sie stand auf und lief weiter über den Höhenweg. Rechts sah sie ein großes Gebäude. Das musste das Schwimmbad sein. Eine weiße Brücke tauchte vor ihr auf, die zu dem Gebäude führte. Sie ging weiter und bog rechts ab. War hier bereits das Ostdorf? Sie schaute auf den Plan und stellte fest, dass sie sich genau in der Mitte zwischen Ostdorf und Westdorf befand. Bei den Schaukästen blieb sie stehen. Sie war überrascht über die vielen Veranstaltungen und Angebote auf dieser kleinen Insel. Dabei war nicht einmal Hauptsaison. Ein Hinweisschild zeigte nach links. »Rosengarten« stand darauf. Den würde sie sich ansehen und dann versuchen, ihren Magen zu beruhigen, der nach Essbarem verlangte.

      Sie