ging es ihn auch wirklich nichts an.
»Eine letzte Frage: Sagt Ihnen der Spruch: ›Wer leben will, muss töten‹ etwas?«
»Nein. Wieso?«
»Das war ein Satz, den Ihr Sohn in der Schule losgelassen hat«, erklärte Röder.
»Den hat er bestimmt bei einem Kumpel aufgeschnappt«, winkte Jessen ab.
»Bist du durch?« Anika war zurück.
Röder hatte das Gefühl, dass sie etwas mit ihm zu besprechen hatte, das nicht unbedingt für Hans Jessens Ohren gedacht war.
»Ich denke ja. Oder haben Sie mir noch etwas mitzuteilen?«, wandte er sich erneut an Jessen.
»Nein. Habe ich nicht«, kam es aufgebracht zurück.
»Teilen Sie uns sofort mit, wenn Ihr Junge wieder auftaucht. Sollte er bis zwei Uhr nicht zu Hause sein, werden wir eine Suche einleiten.« Sie verabschiedeten sich.
Im Treppenhaus roch es immer noch nach Essen. Sie klingelten bei Elmar Diesterweg, doch niemand öffnete.
»Wir gehen vor die Tür«, schlug Anika vor.
»Also, was hast du erfahren?« Röder konnte seine Neugier kaum bändigen.
»Ehrlich gesagt, nichts. Das Mädel war wirklich krank. Auf meine Frage, ob sie wüsste, wo ihr Bruder sein könnte, schüttelte sie nur den Kopf. Ich hatte allerdings stark das Gefühl, dass sie mir etwas verschwieg«, gab Anika Auskunft. »Soll ich sie mir noch einmal vornehmen? Sie begreift sicher gar nicht, wie wichtig ihre Hilfe sein könnte.«
»Lass es erst einmal gut sein. Wir warten ab und fragen später nach.«
»Du meinst nicht, dass wir handeln sollten? Wir können doch die Insulaner zusammentrommeln. Die Feuerwehr. Die Lehrer. Wir könnten alle Nachbarn befragen, ob die etwas mitbekommen haben.«
»Nein. Wir warten bis zum Unterrichtsende am frühen Nachmittag. Vielleicht taucht er bis dahin in der Schule auf.«
»Wie du meinst.« Sie schnappte sich ihr Rad und fuhr so schnell los, dass er kaum folgen konnte. Man gut, dass er ihr nicht von seinem Auftrag im Bioladen erzählt hatte. Dafür hätte sie bestimmt kein Verständnis gezeigt. Apropos Bioladen – er würde jetzt dorthin fahren. Dann konnte er sich nachmittags um die wichtigen Dinge des Lebens kümmern.
6
»Es ist ganz sicher, dass dein Unterricht heute ausgefallen ist?« Elmar Diesterweg konnte es nicht so ganz glauben.
»Doch. Sonst wäre ich nicht hier, oder?«, antwortete Wilko bestimmt.
Er hatte den Jungen im Flur getroffen, gerade, als er das Haus verlassen wollte. Wilko hatte sich ihm angeschlossen, als er ihm erzählt hatte, dass er Queller pflücken wollte. Der Meeresspargel, wie er auch genannt wurde, schmeckte vorzüglich zu Lachs oder Lammbraten. Am Nachmittag erwartete er drei Damen, die sich zu einem Kochkurs in seiner Küche angemeldet hatten.
Sie überquerten den Weg, der am alten Ostdorf vorbei zum Heim des Niedersächsischen Turnerbundes führte, und erreichten bald den Heller, auf dem Tausende von Vögeln brüteten. Diesterweg hoffte, dass er einige der jungen Pflänzchen fand, die nicht vom Gänsekot verdreckt waren.
»Kann ich später mit dir das Essen zubereiten?«, fragte Wilko.
»Heute nicht. Da bekomme ich Besuch. Aber übermorgen kannst du gerne zu mir kommen«, erwiderte Diesterweg und legte seinen Arm um Wilkos Schultern, als er dessen enttäuschtes Gesicht sah. »So, gleich haben wir die Verlandungszone erreicht. Das ist der Ort, wo wir die Pflanze finden sollten.«
Die Vegetation wurde allerdings eher weniger als mehr in diesem schmalen Streifen zwischen Hellerwiesen und Wattenmeer. Hier konnten es tatsächlich nur Pflanzen aushalten, die kein Problem damit hatten, regelmäßig vom Salzwasser überspült zu werden. Und zu diesen Pflanzen gehörte der Queller. Und genau das gab ihm diese wunderbar salzige und leicht pfefferige Note. »Da schau mal. Da ist er.« Er bückte sich und kniff die grüne Spitze der Pflanze ab. »Salicornia europaea. Davon gibt es zehn bis 30 Arten. Sie sind fast nicht auseinanderzuhalten. Aber das macht nichts. Sie schmecken alle. Aber wenn du sie pflückst, mach es bitte so wie ich. Nicht die ganze Pflanze, sondern nur den oberen Teil. Der ist frisch und angenehm im Geschmack. Die Pflanze ist um diese Jahreszeit noch sehr klein, aber wenn sie älter wird, ist der Rest manchmal holzig und zu salzig.«
»Ich achte drauf.« Jetzt lächelte der Junge wieder und brachte ihm nach kurzer Zeit eine ganze Handvoll der frischgrünen Spitzen.
Er legte sie in den Korb aus Stroh und freute sich bereits auf die Zubereitung. Der Queller war nicht die einzige Pflanze, die nutzbar war. Vor zwei Wochen hatte er Wegerich gepflückt und die Blätter zu einem leckeren Salat verarbeitet. Ab Juli würde er den Samen dieser Pflanze sammeln und Speiseöl daraus bereiten.
»Machst du den Queller als Salat oder Gemüse? Du musst mir unbedingt zeigen, wie das geht. Für Mama, weißt du?«, bat Wilko.
»Meinst du nicht, dass sie das auch ohne meine Hilfe kann? Sonst darf sie sich auch gerne an meinem Kochkurs beteiligen. Ich werde sie mal fragen«, überlegte Diesterweg laut.
»Nein. Besser nicht«, wehrte Wilko unwillig ab.
Was war das? Hatte er etwas verkehrt gemacht? Der Junge hatte es wohl nicht so ganz leicht mit seinen Eltern. Er kannte das. Auch er hatte eine Kindheit hinter sich, an die er sich nur ungern erinnerte. Am schlimmsten war der Hunger gewesen. Es war nicht so, dass seine Eltern kein Geld gehabt hätten, nein, es hatte beiden nur die Lust auf regelmäßige Mahlzeiten gefehlt. Nur bei seiner Oma war der kleine Elmar immer gut versorgt worden. Sie ließ ihn, auch, als er ganz jung war, schon in die Töpfe schauen. Er konnte bis heute schwören, dass er allein aus diesem Grund Koch geworden war. Wahrscheinlich war die Erinnerung an seine Oma auch der Antrieb, warum er sich dieses Jungen angenommen hatte. »Komm mal her«, rief er zu ihm herüber. »Schau mal, was hier liegt.« Eine Nonnengans mit einem beinahe gänzlich abgerissenen Kopf lag zwischen den spärlichen Gräsern.
Wilko rupfte einen weiteren Stiel ab, kam langsam zu ihm und beugte sich über das tote Tier. »Mann, die hat es aber erwischt. Wie ist das passiert?«
Diesterweg zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ob Mensch oder Tier der Verursacher war. Wir nehmen sie mit und entsorgen sie.« Er war sich allerdings im gleichen Moment nicht mehr so ganz sicher, ob das eine gute Idee war. Zu präsent war ihm die Situation vor einigen Wochen in den Dünen. Bei einem Spaziergang hatte er im Gebüsch ein großes Netz entdeckt. Darin hatten sich zwei Stockenten verfangen und waren gestorben. Sie konnten nicht lange tot gewesen sein, sie sahen recht frisch aus. Er hatte die Netzfalle abgebaut, damit sich nicht weitere Tiere dort verfingen. Netz und Enten hatte er mitgenommen. Er konnte nicht einsehen, warum er die Vögel nicht in die Bratröhre stecken sollte. Auf dem Rückweg in den Dünen kam ihm dummerweise ein Insulaner entgegen und fragte mit viel Zynismus: »Na, besorgst du dir deine Essenszutaten schon in den Dünen? Wir kaufen alles in den hiesigen Märkten. Dafür sind sie da!« Er, Diesterweg, hatte zunächst keine Antwort gehabt, so überrascht war er gewesen, doch dann hatte er versucht, dem Mann klarzumachen, dass er alles so vorgefunden hatte. Doch der Mann hatte nur abgewinkt. »Stockenten, auch Wildenten genannt, sollen sehr lecker sein. Lass sie dir schmecken. Aber lass dich nicht erwischen. Die Jagdzeit für die Tiere ist vorbei.«
Ein paar Tage später fiel in einem Gespräch auf der Straße das Wort Stockente, als er vorbeikam. Er hatte keine Ahnung, ob es ihn betraf. Wollte auch nicht nachfragen.
Wilko griff in die Federn des Tieres und breitete die Flügel auseinander. »Die sieht echt cool aus. Schau mal, die gestreiften Flügel.«
»Weißt du denn, warum dieses Tier Nonnengans heißt?«
»Nee.«
»Wenn der Kopf noch dran wäre, könntest du es sehen. Sie hat ein weißes Gesicht und einen schwarzen Scheitel. Nacken und Hals sind auch schwarz, daher erinnert die Färbung an die frühe Tracht katholischer Nonnen.«
Der