eine Tür auf. Gleich darauf stand der Junge zitternd vor ihr.
»Wir gehen ins Wohnzimmer«, forderte Jessen die Polizistin auf, doch Anika winkte ab. »Ich würde gerne mit Wilko allein sprechen, wenn Sie mir die Erlaubnis geben. Wir könnten das in seinem Zimmer erledigen.«
»Wenn Sie meinen, dass es hilft – bitteschön.« Jessen trat einen Schritt zurück und zeigte auf die offene Kinderzimmertür.
Wilko setzte sich auf sein Bett, und die Polizistin quetschte sich auf den schmalen Kinderstuhl vor Wilkos Schreibtisch. »Möchtest du mir erzählen, wie du Herrn Diesterweg kennengelernt hast und was euch verbindet?«
Wilko nickte, dann begann er flüsternd. »Das war, als meine Eltern rumgeschrien haben, weil Mama immer weg ist wegen ihrer Arbeit. Und wenn sie zu Hause ist, soll sie kochen, hat Papa gesagt. Aber er sagt auch, dass sie nicht gut ist, und wenn sie das nicht bald lernt, haut er ab.«
»Und – kocht deine Mama denn so schlecht? Schmeckt es euch Kindern auch nicht?«, hakte Anika ein.
Jetzt stahl sich ein kleines Lächeln über das Gesicht des Jungen. »Wenn meine Mutter mal kochen muss, dann schlage ich immer vor, dass ich Pizza kaufen gehe. Das klappt fast immer. Sie kann einfach nicht kochen. Daher macht das der Papa. Das schmeckt irgendwie normal. Ich habe immer gedacht, das Essen muss so – langweilig schmecken. Aber seitdem ich mit Elmar koche, weiß ich, wie es auch anders geht. Soll ich Ihnen mal sagen, was wir schon gekocht haben? Labskaus. Das war superklasse. Und nicht etwa mit Corned Beef. Elmar hat gesagt, das nehmen nur die, die keine Lust haben, richtig zu kochen. Nein, wir haben gepökeltes Rind- und Schweinefleisch zerkleinert. Und Matjes und Gurken auch. Dazu haben wir einen Salat aus Brennnessel, Feldsalat und Löwenzahnblättern gemacht. Ganz frisch. Und die Soße dazu – total lecker.«
Anika wusste, dass es besser wäre, den Jungen nicht zu unterbrechen, dennoch winkte sie ab. »Habt ihr außer Kochen sonst Dinge miteinander gemacht?«
Wilko zögerte. »Ja, aber das war nicht schön.«
»Was war es?«, fragte Anika gespannt.
»Nichts. Eigentlich war es nichts«, erwiderte Wilko traurig.
»Bitte, Wilko.« Anika hoffte so sehr, dass der Junge sich öffnete. Dann hatten sie endlich etwas Verwertbares in der Hand.
»Na gut. Wir haben zum Beispiel ›Mensch ärgere Dich nicht‹ gespielt und Elmar hat jedes verdammte Mal gewonnen!« Wilko war aufgesprungen. »Es ist nur ein Spiel und man gewinnt mit Glück. Aber die verdammten Würfel wollten nie so wie ich!«
Anika konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Wenn das wirklich alles war …
»Also wolltest du …«
»Ja, ich wollte kochen lernen und das Mama beibringen. Im Treppenhaus roch es immer so lecker, und ich habe Mama gefragt, ob sie nicht mal bei Elmar was lernen kann, aber sie hat nur gelacht. Darum musste ich das machen! Damit ich ihr das beibringen kann und Papa nicht mehr meckert. Und wenn ich die doofe Schule aushabe, werde ich Koch!«
»Das ist eine gute Idee«, freute sich Anika. »Gibt es noch etwas, was du an Herrn Diesterweg magst?«
»Ja. Wenn ich traurig bin, und ich meine nicht traurig, wie nach dem ›Mensch ärgere Dich nicht‹ Spiel, sondern richtig traurig, dann setzen wir uns zusammen auf das Sofa und er erzählt mir Geschichten aus der Zeit, wo er in Amerika gewohnt hat und so. Das ist schön.«
»Setzt sich dein Papa denn nicht mal mit dir gemütlich auf das Sofa?«
Wilko schüttelte traurig den Kopf. »Papa nie. Der meckert immer nur. Manchmal nimmt er Meta in den Arm, weil die noch kleiner ist. Sagt er. Und Mama merkt einfach nicht, wenn es mir nicht gut geht. Außerdem hat die nie Zeit.«
»Dann sage mir, was es mit diesem ominösen Satz auf sich hat. Wer leben will, muss töten, oder so ähnlich.«
Wilko schaute sie ernsthaft an. »Das ist nun mal so. Wenn wir ein Schnitzel essen, muss vorher das Schwein getötet werden. Das weiß doch jeder.«
»Hat Herr Diesterweg schon einmal in deinem Beisein Tiere getötet?«
Wilko schwieg, dann schüttelte er kaum wahrnehmbar den Kopf. »Nein«, hörte Anika ganz leise.
Anika stand auf. »Danke für deine Offenheit. Darf ich das deinem Vater erzählen?«
»Nein, besser nicht. Aber eigentlich ist es auch egal. Der lässt mich sowieso nicht mehr zu ihm, so sauer wie der ist.« Wilko nahm sein Kopfkissen, knuddelte es zusammen und warf es auf den Boden. »Aber dann gehe ich heimlich. Papa merkt doch sowieso nicht, wenn ich weg bin. Und Mama erst recht nicht.«
Anika konnte das traurige Gesicht des Jungen kaum ertragen. »Bitte, Wilko. Lass ein wenig Ruhe einkehren. Vielleicht besinnen sich deine Eltern und alles wird besser.«
»Wenn Sie meinen!« Es klang nicht sehr viel Zuversicht in Wilkos Stimme. Aber dann fügte er an: »Ich denke darüber nach. Danke fürs Zuhören.«
Anika stand auf. »Okay. Ich schaue mal. Tschüss, Wilko.«
Auf dem Flur stand Wilkos Vater und schaute sie auffordernd an. Sie wusste, was er hören wollte, doch sie fragte nur: »Wollen Sie etwas unternehmen?«
Hans Jessen schüttelte den Kopf. »Bringt doch nichts. Wegen einer toten Gans in der Verlandungszone wird kein Verfahren eröffnet, nicht wahr?«
Sie verließ die Wohnung, ohne sich zu verabschieden. Wilko und auch seine Schwester taten ihr unendlich leid. Nur weil die Erwachsenen Stress hatten, mussten die Kinder es ausbaden. Aber sie wusste, es ging noch schlimmer. Es gab Kinder, die konnten nichts mehr ausbaden, weil sie nicht mehr lebten.
Sie ging die Treppe hoch zur nächsten Tür und klingelte. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann stand Elmar Diesterweg, angetan mit einer bunten Schürze, vor ihr und lachte sie an. Das Lachen erstarb jedoch sofort, als er erkannte, wen er vor sich hatte. »Entschuldigung, ich dachte, es wären die drei Damen vom Kochclub«, Er zog nervös an der Schleife, die die Schürze auf seinem Rücken zusammenhielt. »Heute Abend geht es um die Zubereitung von frischen Smoothies und Cocktails.«
»Ich habe ein paar Fragen«, erklärte Anika. »Aber wenn es jetzt nicht passt …«
»Nein, nein, kommen Sie herein.« Er warf die Schürze auf ein kleines Schränkchen im Flur. »Ich würde Sie gerne ins Wohnzimmer bitten, aber eigentlich müsste ich in die Küche. Ich bereite einiges vor. Die Damen müssten … Darf ich meine Schürze …«
»Herr Diesterweg, nun mal ganz ruhig. Wir gehen in die Küche, Sie arbeiten und ich schaue Ihnen zu. Dabei beantworten Sie mir die eine oder andere Frage. Wäre das in Ordnung?«, schlug Anika vor.
Diesterweg nickte und führte sie in einen modernen Raum, der von einer großen Kochinsel und darüber von einer ebenso gewaltigen Abluft dominiert wurde. »Hier ist mein Arbeitsplatz.« Er zeigte stolz in die Runde.
»Ich bin beeindruckt«, gab Anika zu, konnte sich jedoch eine Frage nicht verkneifen. »Warum riecht es denn im Treppenhaus immer so nach Essen, wenn Sie hier das Beste vom Besten installiert haben?«
»Tja. Die Antwort ist: Kommen Sie mal her!« Er zeigte auf ein Rohr, das durch die Wand nach draußen führte. »Hier ist meine Abluft. Alles, was da rausdünstet, kommt genau in der Ecke neben dem Flurfenster an. Und jedes Mal, wenn die Klinker das Fenster aufreißt, wird es nur schlimmer im Treppenhaus. Es hat übrigens eine Weile gedauert, bis ich das System begriffen hatte.«
Anika schaute den Mann verwundert an. »Aber warum das alles? Das hätten Sie längst ändern können!«
Diesterweg lächelte. »Lassen Sie einem Mann sein Geheimnis. Außerdem finde ich gar nicht, dass es im Treppenhaus stinkt. Ich finde den Geruch sehr angenehm. Wäre doch auch ziemlich niederschmetternd für meine Kochkünste, wenn ich anders denken würde. Aber wahrscheinlich wollten Sie mir ganz andere Fragen stellen, oder?«
»In der Tat. Was war heute auf dem Heller los?«
Elmar