Ulrike Barow

Baltrumer Wattenschmaus


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Diesterweg lachte.

      »Darf ich mitessen?«

      Elmar Diesterweg schaute überrascht hoch und erkannte Ole Zander, den Wattführer, der in der gleichen Straße wohnte.

      »Klar. Kein Problem!« Diesterweg lächelte. »Willst du gleich einen Kurs belegen? Wir können natürlich auch eine Gemeinschaftsaktion überlegen. Du gehst mit den Leuten ins Watt, dann pflücken wir alle zusammen den Queller, und ich frage in einer der Hotelküchen nach, ob wir die nutzen können. Wäre nicht das erste Mal. Eine ähnliche Sache mache ich demnächst mit dem Nationalparkhaus. Wir werden im Watt Tische und Stühle aufbauen und dort essen. ›Wattenschmaus‹ haben Enna Klar und ich die Veranstaltung genannt. Ich überlege gerade, was wir servieren. Es sollte auf jeden Fall etwas mit der Umgebung, also dem Wattenmeer, zu tun haben. Wenn du dabei sein möchtest, musst du dich bei ihr anmelden.«

      »Kann ich drüber nachdenken. Aber jetzt lern erst mal den Nachwuchs an. Macht Wilko gerade ein Praktikum bei dir?«, fragte Ole.

      »So könnte man es vielleicht nennen.«

      »Bis dann.« Ole Zander zeigte auf die weite Schlickfläche zwischen Insel und Festland, auf der kaum Wasser zu sehen war. »Ich muss ins Watt. Die Leute warten schon am ›Verhungernix‹ auf mich.«

      Elmar Diesterweg sah hinter dem Mann her, der mit seinem schweren Rucksack und der Grabeforke in der Hand durch den Schlick Richtung Hafen stapfte.

      »Brauchst du noch mehr? Wieviel soll ich pflücken?«, fragte Wilko.

      »Ich denke, es reicht beinahe. Schau. Da vorne steht ein Büschel, davon nehmen wir etwas mit, dann ist es gut.«

      »Aber …«

      »Nein. Wir pflücken nur so viel, wie wir brauchen. Das habe ich dir schon oft gesagt, oder?« Elmar Diesterweg hatte plötzlich keine Lust mehr. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause. Hoffentlich hatte der Wattführer nicht gedacht, er habe die Gans höchstpersönlich zu Verzehrzwecken getötet. Er hätte besser darauf hinweisen sollen, dass er lediglich den Queller als Nahrung nutzen wollte.

      »Ja, ja, ich habe verstanden«, nörgelte Wilko. »Die Großen bestimmen und die Kleinen müssen folgen. Wie bei meinen Eltern.«

      Es tat Diesterweg weh, was der Junge sagte. Er hatte sich so um ihn bemüht. Hatte zugehört, wenn Wilko mal wieder mit verheultem Gesicht vor seiner Tür gestanden hatte. Hatte versucht, ihm das Gefühl zu geben, dass er ihn trotz der jungen Jahre respektierte und ihn ernst nahm. Er war kurz davor, ihm eine ziemlich abweisende Antwort zu geben, aber er riss sich zusammen und sagte nur: »Du kannst mir zu Hause helfen, den Queller zu waschen und vorzubereiten. Übermorgen gehen wir wieder zusammen raus und sammeln und kochen danach das perfekte Menü. Was hältst du davon?«

      Wilko schaute ihn von der Seite an. Der Trotz war einem strahlenden Lächeln gewichen. »Okay, Boss. So wird es gemacht. Heute kochst du mit deinen Frauen und übermorgen sind wir dran.«

      »Vielleicht finden wir auch Löffelkraut. Davon ein paar der scharfen Blätter in den Salat, das ist auch sehr lecker. Löffelkraut ist übrigens so reichhaltig an Vitamin C, dass es früher auf Segelschiffen gegen Skorbut eingesetzt wurde.«

      Wilko schaute ihn fragend an. »Skorbut?«

      »Das ist eine Vitaminmangelkrankheit. Da fielen den Seeleuten die Zähne aus.«

      »Aha«, überlegte Wilko. »Daher hat man das Labskaus erfunden. Das kann man schließlich auch ohne Zähne schlucken.« Er kicherte.

      Auch Diesterweg lachte. »Da magst du recht haben.« Gemeinsam gingen sie zurück über den Heller nach Hause.

      »Wie war das noch?«, fragte Wilko. »Ist das eigentlich Nationalparkgelände? Dürfen wir hier laufen? Wir haben das nämlich gerade in der Schule. Ruhezone I, Ruhezone II und so.«

      »Ach«, erwiderte Diesterweg versonnen. »Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter.«

      »Was heißt das?«

      »Das heißt, wenn keiner mitbekommt, wenn jemand etwas Verbotenes getan hat, kann die Person auch nicht verurteilt werden, verstehst du?«

      »Oder jemand kriegt es mit, aber sagt nichts.«

      Elmar Diesterweg schwieg einen Moment, dann meinte er: »Die Möglichkeit besteht natürlich auch.«

      Als sie die Haustür öffneten, stand Hans Jessen vor ihnen und starrte sie wutentbrannt an. »Ach, so war das mit: Man muss töten, um zu leben.«

      »Was meinen Sie?«, fragte Diesterweg verblüfft.

      »Was ich damit meine?« Hans Jessen lachte kreischend auf und deutete auf das kopflose Tier, das Diesterweg im Gras neben dem Fahrradständer abgelegt hatte. »Als ob Sie das nicht wüssten! Schlagen im Beisein meines Sohnes Gänsen den Kopf ab, nur damit Sie was für den Kochtopf haben!«

      Waren jetzt alle verrückt geworden? Es musste doch klar sein, dass man erstens Nonnengänse nicht mal eben so einfangen und dass man zweitens Nonnengänse gar nicht verwerten konnte. Sie schmeckten einfach nicht.

      »Es ist doch gut, wenn man aufmerksame Nachbarn hat. Die Szene kam Ole seltsam vor. Da hat er mich gleich angerufen. Auch weil er sich wunderte, dass Wilko nicht in der Schule war.«

      Du liebe Güte, dachte Diesterweg. Das ist das zweite Mal, dass jemand etwas in den falschen Hals bekommt. Er mochte nicht darüber nachdenken, wie schnell sich auch diese Geschichte auf der Insel herumsprechen würde.

      »Aber der Junge hatte frei. Der Unterricht war ausgefallen«, stotterte Diesterweg. Er merkte, wie Wilko neben ihm unkontrolliert zu zittern anfing. Jessen machte einen Schritt auf seinen Sohn zu, griff in sein T-Shirt. »Du gehst jetzt rein. Mit dir rede ich später.«

      Der Junge rührte sich nicht.

      »Los. Rein mit dir!«, schrie Jessen sein Kind an.

      Was soll ich machen, überlegte Diesterweg. Würde der Mann Wilko schlagen? Dann musste er eingreifen. Oder würde das die Lage für das Kind verschlimmern? Er wollte um nichts in der Welt den Vater weiter aufregen. »Herr Jessen, die Gans haben wir tot auf dem Heller gefunden. Wir waren unterwegs und haben Queller für ein Gericht gesammelt, das ich heute Nachmittag kochen will. Wilko interessiert sich so sehr für das Kochen.«

      Wilko schaute ihn angsterfüllt an. Hatte er etwas Verkehrtes gesagt?

      »Dann war mein Sohn schon öfter bei Ihnen in der Wohnung? Mal sehen, was die Polizei dazu sagt!«

      »Aber was hat die damit zu tun?«, fragte Diesterweg verdattert. Allmählich wurde die Lage für ihn unübersichtlich.

      »Das können Sie sich immer noch nicht denken? Der Junge geht nicht zur Schule, nur damit er mit Ihnen kochen kann? Dahinter steckt mehr als nur Queller zu sammeln. Man muss töten, um zu leben – irre!«

      »Nein. Wenn ich es Ihnen doch sage!«, versuchte Diesterweg Jessen zu überzeugen.

      Jetzt liefen Wilko die Tränen über das Gesicht.

      »Papa, was ist das für ein Krach?« Elmar Diesterweg sah Meta, blass und mit verwuschelten Haaren, im Nachthemd in der offenen Wohnungstür stehen. Gleichzeitig kam Ilona Klinker die Treppe hinunter. Ihr Dackel folgte ihr, ungelenk wie immer, seinen übergewichtigen Bauch von Stufe zu Stufe schiebend.

      Klaus Jessen wandte sich um. »Nichts, mein Kind, gar nichts. Geh wieder ins Bett. Wilko und ich kommen auch gleich. Und Sie, Frau Klinker, geht es gar nichts an, was hier passiert. Aber wenn Sie es genau wissen wollen, schütze ich gerade meine Kinder vor einem per-…«

      »Nein!«, schrie Diesterweg. »Nicht vor den Kindern.« Dann fügte er leise hinzu: »Wir können uns gerne unterhalten, wenn wir allein sind. Aber wir sollten jetzt wirklich …«

      Hans Jessen hörte nicht mehr zu. Er schob Wilko grob den Flur entlang, verschwand mit ihm und Meta in der Wohnung und knallte die Tür zu.

      Elmar Diesterweg hätte sich nicht gewundert, wenn die Klinker einen gehässigen