Ulrike Barow

Baltrumer Wattenschmaus


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die Augen und ließ das Erlebte Revue passieren. Manchmal hatte ihr Chef in Barsinghausen sogar gute Ideen. Und der Vorschlag, sie für vier Wochen auf die Insel zu schicken, war mit Sicherheit der beste von allen gewesen. Natürlich – passieren konnte immer etwas. Aber sie war weg von zu Hause, weg aus der Stadt. Sie öffnete ihr Notizbuch und schrieb Rosengartentor – warum so massiv?, dann klappte sie es zu und steckte es ein. Das war die erste von sicher vielen Fragen, auf die sie eine Antwort brauchte. Ihr Kollege würde ihr da bestimmt weiterhelfen.

      Eine ganze Weile blieb sie sitzen, hörte den Vögeln zu und beobachtete eine Maus, die unbeeindruckt von ein paar Gästen, die die ersten Rosenblüten bewunderten, vor ihrem Loch hin und her lief und die spitze Nase in den Wind reckte.

      Wie spät war es eigentlich? 21 Uhr. Es war immer noch hell. Kein Wunder zu dieser Jahreszeit. Aber ob es auf dieser Insel jetzt etwas zu essen gab, war fraglich. Für alle Fälle hatte sie zwei belegte Brötchen und ein paar Kekse mitgebracht. Sie hatte keine Lust aufzustehen, merkte jedoch, wie der Wind ihr unter die Jacke zog und sie zum Frösteln brachte. Also sollte sie besser gehen. Nicht, dass sie ihren ersten Arbeitstag mit Erkältung im Bett verbringen musste.

      Auf ihrem Rückweg kam sie an zwei Hotels vorbei. Den Blick auf die Speisekarten verkniff sie sich. Nein, sie würde schnurstracks zurück in ihre Dienstwohnung gehen, eine gemütliche Hose anziehen und sich mit den Brötchen in den Sessel kuscheln. Sie wunderte sich, dass ihr trotz der späten Stunde Eltern mit Kinderwagen begegneten. Aber im Urlaub war eben alles anders. Daran musste sie sich gewöhnen, genau wie an viele andere Dinge. Da war sie sich sicher.

      Sie lenkte ihr Fahrrad um die Ecke und öffnete gerade die Tür des Gartenhauses, als Michael Röder mit einem Hund auftauchte.

      »Hallo, Frau Kollegin«, begrüßte er sie freundlich. »Wie wäre es mit einem Abendschluck?«

      Ihr drehte sich fast der Magen um. Wenn sie jetzt, mit leerem Bauch, auch nur ein Glas Bier trinken würde – sie mochte nicht daran denken, wie schlecht es ihr erginge. Außerdem würde sie mit dem Mann in den nächsten Wochen sicher genug zusammen hocken.

      »Nein, danke. Morgen vielleicht. Ich bin müde.« Damit schob sie das Rad ins Gartenhaus, und Röder verschwand mit einem kurzen Abschiedsgruß in seiner Wohnung.

      In der Wohnung angekommen, biss sie hungrig in ihr Brötchen und merkte sofort, wie sich ihre Laune besserte. Nachdem sie auch das zweite Brötchen nahezu verschlungen hatte, legte sie sich aufs Bett und schlief ein, ohne sich vorher ihren Schlafanzug anzuziehen.

      Plötzlich schreckte sie hoch. Das durchdringende Horn eines Krankenwagens holte sie aus dem Schlaf. Wo bin ich hier, dachte sie verwirrt und horchte. Es war nichts als Stille um sie herum. Eine Stille, die sie als beängstigender empfand, als wenn tatsächlich der Alarm von draußen zu hören gewesen wäre. Eine Stille, die so laut war, dass sie sich die Bettdecke über den Kopf zog und ihre Fäuste auf die Ohren presste. »Warum hört es nicht auf? Warum nicht?«, wimmerte sie.

      5

      Zwei Tage waren vergangen, seit Anika zu seiner Unterstützung eingetroffen war. Zwei Tage, in denen nichts passiert war, was seine Aufmerksamkeit erfordert hätte. Weder hatten die Kollegen aus Oldenburg Näheres zu dem oder der Toten sagen können, noch hatte sich Paul Abarth gemeldet. So hatte er genügend Zeit, seiner Kollegin die Insel zu zeigen. Immer hatte sie ihr Notizbuch dabei und konnte schon so manche Frage daraus streichen. Auch die nach dem Rosengartentor hatte er mit Hinweis auf die unendlich vielen Kaninchen und die hungrigen Rehe beantwortet.

      Zu Anfang hatte er sie nicht richtig einschätzen können. Sie war ein ruhiger, beinahe zurückhaltender Typ, der alles, was er sagte, interessiert aufnahm. Doch manchmal durchbrach sie ihre Zurückhaltung, lachte fröhlich und kommentierte seine Ausführungen unbeschwert und lebhaft. Nur von ihrer Zeit in Barsinghausen schien sie ungern zu erzählen. Er hatte ein, zwei Mal versucht, etwas aus ihr herauszulocken, doch vergebens. Dann hatte er es aufgegeben. Es musste auch nicht sein. Hauptsache, sie kamen in ihrer Zeit auf der Insel miteinander klar.

      »Worüber denkst du nach?«

      Röder zuckte zusammen und hätte sich beinahe mit dem Brötchenmesser in den Finger geschnitten, als Sandra ihn aus seinen Gedanken holte.

      »Ach, ich habe überlegt, was ich Anika noch nicht gezeigt habe. Gestern waren wir auf dem Friedhof und haben uns Kramers Grab angesehen.«

      »Gibt es da schon Neuigkeiten?«, fragte Sandra und schenkte sich einen Kaffee ein. »Ich habe übrigens deine Kollegin gefragt, ob sie bei uns mit frühstücken wollte. Sie hat abgelehnt. Freundlich, aber bestimmt. Ich habe ihr dann nur erzählt, wo sie unseren Laden findet. Falls sie an Biolebensmitteln interessiert ist.«

      »Ich denke, sie braucht ganz viel Ruhe«, erwiderte Röder. »Irgendwas ist mit ihr. Keine Ahnung, was es sein könnte.«

      »Na gut. Ich muss gleich in den Laden, Eva ablösen. Die hat heute schon früh angefangen.«

      »Und es macht dir immer noch Spaß?«, fragte Röder, obwohl ihm die Antwort durchaus bekannt war.

      »Natürlich. Ich habe übrigens eine Bitte. Könntest du heute Nachmittag mal im Laden vorbeischauen? Wir wollen einen Kühlschrank anschließen, und zu diesem Zweck muss ein ziemlich schwerer Schrank umgesetzt werden.«

      »Kein Problem, mache ich gerne.«

      »Übrigens kommt übermorgen Wiebke. Wir wollen die weiteren Liefermodalitäten für das Gemüse besprechen.«

      »Wird mein Freund Arndt auch dabei sein?«

      Sandra schaute ihren Mann etwas verunsichert an und meinte: »Ich denke, der hat anderweitig zu tun.«

      Das war schade. Er hätte ihn gerne wiedergesehen. Aber seit Arndt seinen Dienst als Hauptkommissar bei der Auricher Kripo aufgegeben und sich mit seiner Frau Wiebke einen Bauernhof in der Krummhörn zugelegt hatte, sahen sie sich nicht mehr so häufig. Röders schlechtes Gewissen machte sich bemerkbar. Auch er hätte die beiden auf dem Festland öfter besuchen können. Schließlich fuhren täglich Fähren ans Festland! Sandra hatte es getan, und so war die Zusammenarbeit mit »Kleemanns Hof« und die Idee eines Bioladens auf der Insel entstanden.

      Sein Telefon machte sich bemerkbar.

      Es war Paul Abarth, der ihn aus der Frühstücksbeschaulichkeit holte. »Wilko ist heute unentschuldigt nicht zum Unterricht erschienen.«

      Röder schaute auf seine Uhr. »Der Unterricht hat doch gerade erst angefangen.«

      »Richtig. Aber ich habe mit dem Vater telefoniert. Der Junge ist nicht mehr zu Hause.«

      »Und was sagt die Schwester?«

      »Die liegt laut Auskunft des Vaters mit Erkältung im Bett und weiß nichts.«

      Röder bemerkte große Unruhe in der Stimme des Schulleiters. »Gut. Ich komme mit meiner Kollegin in Kürze bei Ihnen vorbei. Dann sehen wir weiter.«

      Er beendete das Gespräch und unterrichtete Anika. Es dauerte keine fünf Minuten, da stand sie in der Küche vor Sandra und Michael. »Können wir los?«

      Röder stand auf. »Momentchen. Darf ich mir vorher eine Jacke überziehen?«

      »Natürlich, aber wir sollten so schnell wie möglich …«

      »Ich beeile mich.« Er schnappte seine Regenjacke, winkte Sandra zu und folgte seiner Kollegin zum Gartenhäuschen. Er stellte fest, dass sein Vorderreifen ziemlich platt war. Normalerweise überließ er den wechselnden Hilfssheriffs die Fahrzeugpflege, weil er dazu einfach kein Talent – so redete er es sich zumindest ein – und auch keine Lust hatte.

      »Brauchst du eine Luftpumpe?« Anika blickte mit Zweifel in den Augen auf sein Vorderrad. »Aber beeil’ dich.«

      Er stöhnte leicht. Er sah ein, dass er, ohne sein Techniktalent zu zeigen, aus der Nummer nicht wieder rauskam, also pumpte er. Es ging leichter als gedacht. Gleich darauf fuhren sie über den Roten Platz.

      »Gut, dass Sie da sind«, begrüßte Paul Abarth die beiden.