Olaf Müller

Rurschatten


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spricht, so hatte es Fett gelernt. Und es stimmte. Hier sprach nur ungläubiges Entsetzen aus den Augen der Tochter. Mit dem Mord hat sie nichts zu tun. Fett war sich sofort sicher.

      Schlechter Schlaf und viel Papier

      Fett schlief schlecht. Wenige Stunden nur. Die Kakofonie der Geräusche, die Bilder aus der Geisterbahn, all die Menschen, die Gesichter. Ein Albtraum. Die Spurensicherung hatte die Stelle in der Bahn eruiert, wo Alexander Rütters erschossen worden war. Mord. Kein Zweifel. Eine Patronenhülse wurde nicht gefunden. Der alte Mann saß in einem Wagen, wurde erschreckt von Skeletten, Piraten, Zombies, Vampiren und Hexen und auf einmal, rums. Die Pistole war nicht aufgetaucht. Keine Spuren. Kein Raubmord. Niemand hatte etwas gesehen. Als ob der Alte von einem Geist ermordet wurde. Aber Geister tragen keine Pistolen.

      Kurzer Lauf über den Lousberg, Kaffee, Brötchen, Marmelade. Fett, der alte Junggeselle, brauchte nicht viel. Vor allem keinen Aufschnitt.

      Samstag, 2. August, 9.00 Uhr.

      »Hört mal zu.«

      Fett sprach zu seinem Team.

      »Was haben wir? Anne und Peter Hoven fahren gestern Abend gegen 21.20 Uhr mit ihrem Vater Alexander Rütters, 88, Vater von Anne, zur Annakirmes. Feuerwerk gucken. Nach einem Rundgang landen sie um 22.00 Uhr bei der ›Brauweiler-Kneipe‹. Circa 100 Meter vom Geisterschloss entfernt. Dort bekommt Alexander Rütters eine SMS, die er liest. Wir haben das Passwort des Handys geknackt, war nicht schwer, hieß ›Anne‹. Die Nachricht lautet: ›Rurschatten. 22.20 Uhr im Geisterschloss. Nimm einen Wagen.‹ Er nimmt einen Wagen. Und kommt um 22.25 Uhr erschossen raus. Erschossen mit einem Colt M1911, einer amerikanischen Pistole Kaliber 45. Die wurde im Zweiten Weltkrieg von Offizieren getragen. Das Besondere, so unsere Ballistiker, sie hatte einen Schalldämpfer. Die Waffe scheint nicht registriert zu sein. Keine weiteren Spuren. Die Kriminaltechnik hat die ganze Nacht dran gearbeitet, sonst hätten wir das jetzt noch nicht. Das Personal der Geisterbahn wurde überprüft. Alle aus Rumänien. Ordentlich angemeldet. Drei Mann. Zwei beim Einstieg und der Kartenkontrolle. Einer beim Ausstieg. Mirco. Der hat ihn auch gefunden. Kein Angestellter war in der Geisterbahn. Kein Erschrecker oder Zombie oder so. Zugang gibt es durch mehrere Türen von hinten, die auch für die Flucht optimal geeignet sind oder wenn die Bahn brennt. Nirgendwo Auffälligkeiten. Und der Abstand zwischen den Wagen beträgt ungefähr 25 Sekunden. Der vorausfahrende Wagen war leer, im folgenden Wagen ein Liebespaar, alle wollten das Feuerwerk sehen. Vielleicht saß der Mörder in einem Wagen vor Rütters. Dann muss er ihn abgepasst haben. Vermutlich ist er aber durch einen der ungesicherten Notausgänge in die Bahn gelangt. Die Geisterbahn hat keine Videoüberwachung. Erinnern kann sich Frau Losen nicht mehr, was bei dem Feuerwerk kein Wunder ist. Handyortung nicht möglich. Eine Prepaid-Gurke. Keine vergleichbaren Fälle auf den großen Jahrmärkten. Nichts weist auf einen Serientäter hin. Rütters wurde zum Mord in die Geisterbahn bestellt.«

      Bitte, Schmelzer

      »Alexander Rütters. Bitte, Schmelzer.« Fett gab seinem jüngeren Kollegen das Wort.

      »Geboren 1920, Sohn des Papierfabrikanten Oskar Rütters. Hat 1938 Abitur gemacht. War in der NSDAP. Nicht Soldat, weil er die Papierfabrik ab 1942 leitete. Die war kriegswichtig. Der Vater, Oskar, war wohl nicht richtig linientreu. Die Nazis setzten Alexander ein. Nach dem Krieg entnazifiziert. Die Alliierten brauchten auch Papier. Wiederaufbau. Saß Ende der 70er-Jahre im Stadtrat von Düren. Verkaufte die Fabrik 1990 an japanische Investoren, alle Mitarbeiter wurden übernommen. Seit 2000 lebte er in dem exklusiven Seniorenstift Sankt Irmgardis. Seine Ehefrau starb sehr früh in den 80er-Jahren. Die gemeinsame Tochter ist Lehrerin, 1962 geboren, verheiratet mit Peter Hoven, Jahrgang 1957, Chemie-Ingenieur in Leverkusen. Beide wohnen in Merzenich bei Düren, keine Kinder. Regelmäßig besuchten sie Alexander Rütters im Seniorenstift. Zur Annakirmes fuhren sie jedes Jahr gemeinsam mit dem Alten. So was wie ein Ritual. Motiv: Fehlanzeige. Die Tochter steht noch unter Schock. Ihr Mann bestätigt den Ablauf des Abends. Sie ist das einzige Kind. Im Seniorenstift keine besonderen Vorkommnisse.«

      Was wir wissen

      Fett fasste den Stand zusammen:

      »Wir haben die SMS. Jemand hat Alexander Rütters in die Geisterbahn gelockt. Ihm muss etwas so wichtig gewesen sein, dass er der Aufforderung nachkam. Der Täter duzte den Ermordeten. Da könnte es eine Vorgeschichte geben. Rurschatten, Rurschatten. Was heißt das? Fragt nach beim Wasserverband, Stadtarchiv, Angelverein. Irgendwas hat Rütters so gedrängt, dass er alleine zur Geisterbahn aufbrach. Durchsucht sein Zimmer im Seniorenstift. Die Unterlagen der Papierfabrik. Da gibt es einen Schatten. Noch ermitteln wir in alle Richtungen. Und, Kollegen, kein Wort zur Presse aus ermittlungstaktischen Gründen.«

      »Die Geisterbahn fragt an, wann sie wieder fahren darf.« Schmelzer schaute zu Fett.

      »Erst, wenn alles geprüft ist. Vielleicht ist der Täter irgendwo hängen geblieben und wir finden ein Stück von der Jacke oder die Patronenhülse in den Zähnen eines Skeletts, weiß der Teufel was. In der Dunkelheit kann der Täter die Hülse unmöglich sofort gefunden haben. Alles wird heute geprüft. Die Zombies haben eben Urlaub. Wir haben einen Toten.«

      Suite 103

      Nach der Lagebesprechung fuhren Fett und Schmelzer zum Seniorenluxusstift am Ortsrand von Gürzenich bei Düren, Südlage, Golfplatz in der Nähe. Sie trafen auf Helene Schulz-Weißenbach, die stellvertretende Leiterin des Domizils, wie sie mehrfach betonte. Ein Domizil für ältere Gäste. Der Leiter, Fred Strack-Zimmermann, komme erst in drei Wochen. Er sei auf Mallorca, wandern und so, Flucht vor der Annakirmes. Helene Schulz-Weißenbach führte Fett und Schmelzer durch das Domizil. Ja, Herr Rütters sei ein besonderer Mensch gewesen, sagte sie ohne erkennbare Regung. Der Tod sei hier ja quasi stets zu Gast und am Tisch. Sie versuchte, mit einer Portion Halbphilosophie das Domizil zu verklären, und kam dann zum An- und Abwesenheitsbuch. Herr Rütters habe am Freitag gegen 19.00 Uhr ausgecheckt. Er wollte zur Annakirmes, zu Tochter und Schwiegersohn. Alles wie in jedem Jahr. Nichts Ungewöhnliches. Er war sehr gut beisammen. Rüstig, durchtrainiert, ein Langstreckenwanderer. Da sei Strack-Zimmermann nicht mitgekommen, wenn sie das so sagen dürfe. Das Zimmer, ja dort, die Suite 103, geräumig, mit Blick auf die Eifel. Natürlich bleibt sie verschlossen. Wann wird sie wohl wieder vermietet werden können? Sie wissen, das Budget, die Kosten und so.

      Helene Schulz-Weißenbach säuselte zu den beiden Kommissaren: »Bitte, sprechen Sie doch sehr sanft mit unseren Gästen. Sie sind leicht erregbar, ach, was sage ich, erschütterbar. Wir sind eine geborgene Gemeinschaft, da schafft so ein Verbrechen Unruhe und Aufregung. Wir brauchen doch alle unsere Mitte, unser Vertrauen, unseren inneren Klang, nicht wahr, Herr Kommissar.«

      »Danke, wir schicken heute noch die Kriminaltechnik. Bestimmt in 14 Tagen, da kann wieder jemand ins Domizil.« Fett war kurz angebunden. Nun sagte er auch schon Domizil, bemerkte er selbstironisch. »Danke, und es kann sein, dass wir uns wieder melden. Wir werden Ihre Ruhe nicht unnötig stören. Es sei denn, einem Ihrer Bewohner fällt noch etwas Wichtiges ein.«

      Nachmittags war die Kriminaltechnik bereits in der Suite. Sie stellten alles auf den Kopf, fanden aber nichts von Bedeutung. Gar nichts. Auch das war merkwürdig. Keine Erinnerungsstücke, Fotoalben. Viele Wanderbücher, Karten und Bücher über die Region. Alle Kreisjahrbücher seit 1960. Kaum Medikamente. Kein Hinweis, der sie weiterbrachte. Als ob Alexander Rütters geschichtslos dort gelebt hätte.

      Die Tochter

      »Guten Tag, Frau Hoven. Wir haben da noch einige Fragen, auch wenn es bestimmt sehr schwer für Sie ist.« Fett hatte in Merzenich bei Rütters Tochter geklingelt, und Anne Hoven hatte mit Ringen unter den Augen die Tür geöffnet. Sie sagte nichts und ging langsam voraus zum Wohnzimmer des Bungalows aus den 80er-Jahren. Samstagnachmittag in der Siedlung am Rande des Dorfes, relativ neue Bauten, Mittelklassewagen, ab und an Oberklasse. Hier wohnt man preiswerter als in Köln oder Frechen, die Autobahn ist nahe, die Eisenbahn auch. Und doch ein Dorf. Einige Autos wurden gewaschen, auch wenn dieser samstägliche Nationalsport langsam ausstarb.

      Peter Hoven kam aus dem Keller hoch, begrüßte mit einem