Die Nachfrage nach Urkunden und Auszeichnungen blieb unersättlich. Orden statt Brot. Dann das Ende. Rütters stellte den Betrieb auf Nachkriegsbedarf um; er produzierte Packpapier, Kartonagen und Klopapier. Die Alliierten kauften bei dem jungen Unternehmer das Toilettenpapier für die Besatzungstruppen. Qualität und Preis stimmten. Geliefert wurde an die Engländer nach Mönchengladbach und an die Belgier vor Ort. Der Betrieb lief wieder. Tochter Anne zeigte kein Interesse an der Fabrik. Sie wurde lieber Lehrerin. Deshalb entschied Rütters sich für den Verkauf. Schluss mit Rütterspapier aus Düren.
Fett kramte unterdessen in den Unterlagen, die Schmelzer zusammengetragen hatte, und fand die Adresse einer Haushälterin, die dem Alten einige Jahre im Haushalt geholfen hatte, bevor er im Jahr 2000 ins Altenheim umsiedelte. Marie Utzerath. Ob sie wohl noch lebt, überlegte er. Eine Haushälterin bekommt viel mit. Vielleicht kann sie weiterhelfen.
Ein feiner Herr
Marie Utzerath lebte tatsächlich noch in Düren, Dr.-Overhues-Allee, direkt an der Rur. Über das Melderegister gelangte Fett an ihre Adresse. Als Fett den Besuch ankündigte, da klang sie so, als ob sie es erwartet hätte. Eine interessante Stimme, dachte Fett. Er fuhr an einem Augustmorgen wieder nach Düren, wieder an die Rur und stand vor einem stattlichen Haus. Marie Utzerath öffnete ihm, bevor er die Eingangstüre erreichte.
»Was für ein Schicksal!«, seufzte sie dem Kommissar entgegen.
Marie Utzerath, 67, hatte Alexander Rütters das Haus von 1985 bis 2000 besorgt. Ihre Schönheit zu dieser Zeit konnte sich Fett lebhaft vorstellen. Sie hatte sprechende Augen, bewegte sich sehr dynamisch und schien bestens in Form zu sein. Jahrgang 1941, sie war 21 Jahre jünger als Rütters und hatte im Alter von 44 die Stellung angenommen. 15 schöne Jahre seien es gewesen. Er habe sie stets sehr gut behandelt. Sie beschrieb ihn als humorvollen Mann:
»Wir haben viel gelacht.«
Rütters habe es ihr ermöglicht, ein Studium aufzunehmen. Sie sei nach Aachen gefahren und habe Geschichte und Politik gehört. Dass er ihr diese Chance gab, werde sie ihm nie vergessen.
»Sehen Sie, Herr Fett, das Leben besteht doch aus mehr als nur Hauswirtschaft, Empfängen, Martinsessen, nicht wahr. Wo kommen wir her, wo gehen wir hin, was für einen Sinn macht das, was wir gerade tun? Das sind ewige Fragestellungen. Mich trieb das immer um, während ich daneben kochte, putzte, Einkäufe besorgte und Kulturveranstaltungen aus dem Tageskalender heraussuchte.«
Manchmal habe Rütters sie eingeladen. Ja, auch zur Annakirmes. Riesenrad seien sie gefahren auf der Annakirmes. Und ein Weinchen bei der »Schwarzwald-Christel«. Feinde? Nein, Herr Rütters doch nicht. Ein sehr feiner Herr. Drohungen? Ach, was. Sie habe ihn oft besucht im Seniorenstift, und dann wurde von früher erzählt. Am letzten Samstag, vor Beginn der Annakirmes, da sei sie noch bei ihm gewesen:
»Da war er sehr aufgekratzt.«
»Hat er nie von Problemen, Drohungen, Konkurrenten oder vom Krieg erzählt?«
»Vom Krieg, nein. Alles sehr dunkel. Und mit Konkurrenten ist Herr Rütters souverän umgegangen. Drohungen hat er meines Wissens nie bekommen. Warum auch. Er war ein angesehenes Mitglied der Dürener Stadtgesellschaft.«
Er sei gerne gewandert. In der Eifel. Mariawald, Rursee, Vossenack. Als Vogelsang 2006 endlich, endlich geöffnet wurde, sei er sofort losgewandert – durch den ganzen Nationalpark. Dort habe er Ruhe gesucht, auch in der Jagdhütte seines Vaters bei Einruhr, am Rand des Sperrgebiets. Die Rur sei unsere Lebensader, das habe er immer wieder gesagt. Ohne die Rur, da wär hier nichts. Nichts. Nichts.
»Noch ein Kaffee, Herr Kommissar?«
»Nein danke und entschuldigen Sie bitte, Frau Utzerath, Sie wohnen hier in einem prachtvollen Haus in bester Lage.«
»Ich weiß schon, was Sie meinen, Herr Kommissar. Das ist das Haus von Alexander Rütters. Die Tochter wollte es nicht übernehmen, und Rütters bat mich, hier wohnen zu bleiben. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass hier fremde Leute einziehen. Das Haus kaufte er wohl in der Kriegszeit oder kurz danach. Seine Eltern lebten ja in der Innenstadt, wo sie später beim Bombenangriff umkamen. So bin ich hier geblieben und hole, also ich holte ihn oft ab, und wir tranken hier zusammen einen Kaffee.«
Nein, sie selbst sei nicht verheiratet gewesen. Ein Drang nach Unabhängigkeit sei ihr eigen. Das sei ihr Problem gewesen, wenn er denn verstehe, der Herr Fett.
»Jaja«, murmelte Fett und verstand doch nicht so ganz. Ob denn Herr Rütters nach dem Tod der Ehefrau nicht noch mal sein Glück versucht habe.
»Wer, Herr Rütters? I wo. Nein.«
Er sei nach dem Tod der Frau sehr traurig gewesen und habe so, na, wie sagt man – platonisch, ja, genau, platonisch, gelebt. Sie müsse nun zum Tennis, ob er denn noch Fragen habe.
»Wir müssen das jeden fragen, Frau Utzerath. Wo waren Sie am Freitagabend, als der Mord passierte?«
»Mit meinen Freundinnen aus dem Tennisklub haben wir im Klubhaus einen Damenabend gefeiert. Es war sehr kurzweilig. Das dauerte etwa bis Mitternacht.«
»Eine letzte Frage. Rurschatten, sagt Ihnen das Wort etwas?«
Marie Utzerath hielt einen Moment inne.
»Nein. Nie gehört. Was soll das sein?«
»Nichts. Nur so ein Wort. Danke. Melde mich nochmals. Und viel Erfolg beim Aufschlag. Sie sehen sehr gut aus.« Da wurde Marie Utzerath rot. Michael Fett biss sich auf die Zunge. Er war überrascht. Über sich selbst.
Tennis – eigentlich kein Sport für eine Hausbesorgerin, arbeitete es nach im Gehirn von Fett. Obwohl – vom Aussehen her, da passt es. Alle können Tennis, nur ich wieder nicht. Fett erinnerte sich an sein Versagen im Sportunterricht. Wen man beim Tennis alles treffen kann, könnte, hätte treffen können. Fett konjugierte es durch. Sein Blick fiel auf die Bücherwand: Simmel, Böll, Grass, Lenz, dazwischen eine Goethe-Ausgabe, Hemingway, Faulkner, am Ende einige Franzosen. So viel konnte er an den Schutzumschlägen erkennen. Und Kataloge von Ausstellungen des Leopold-Hoesch-Museums. Ungewöhnlich für eine Hausverwalterin, dachte Fett. Oder von Rütters übrig geblieben. Nun, sie hat sich wohl selbst weiter gebildet. Warum sonst das Seniorenstudium. Marie Utzerath – Fetts Gedanken gingen in viele Richtungen. Diese Frau war für ihn nicht so einfach fassbar. Die Art, wie sie sich bewegte, die Freundlichkeit, die Ausstrahlung – faszinierend und geheimnisvoll. Er kehrte zurück von seinem gedanklichen Ausflug.
»Eine allerletzte Frage, Frau Utzerath. Verzeihen Sie, haben Sie Kinder?«
»Herr Kommissar«, ihr Ton bekam eine andere Färbung, härter und kälter, »mein Sohn Robert ist 1965 im Alter von fünf Jahren tödlich verunglückt. Das ist die Tragik meines Lebens. Er wuchs ohne Vater auf. Mehr werden Sie darüber nicht von mir hören. Guten Tag.«
»Entschuldigung, Frau Utzerath. Das tut mir sehr leid. Guten Tag«, sagte Fett relativ leise und mit gesenktem Kopf. Er ging nachdenklich davon.
Ölig, etwas ölig
»Schmelzer, neu denken.«
»Was?«
»Neu denken.«
Fett buchstabierte.
»Vielleicht ein Geisteskranker aus der Forensik. Hat Rütters mal einen beschäftigt? Kümmerte er sich um Resozialisierung? Hat er schwererziehbaren Jugendlichen geholfen? Alles checken. Kontoauszüge noch mal durchforsten. Wohin ging die Knete? Auch wenn das alles nicht so richtig zu der professionellen Ausführung des Mordes passt, wir müssen immer noch alle Möglichkeiten und Motive überprüfen.«
Schmelzer maulte. Dann legte er los. Am Nachmittag meldete er sich fast triumphierend in Fetts Büro.
»Das Superluxusseniorenwohnheim, das kostet rund 4.000 Euro im Monat. Meister Rütters hat jeden Monat 5.000 überwiesen. Seltsam, oder?«
»Termin mit der Leitung machen, rapido«, sagte Fett. Mehr als drei Wochen waren seit dem Mord vergangen.
Ölig,