Olaf Müller

Rurschatten


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nicht lange stören. Aber bitte, jetzt kann jeder Hinweis sehr wertvoll sein. Ist Ihnen etwas aufgefallen an Alexander Rütters, wurde er bedroht, gab es etwas Besonderes in letzter Zeit?« Fett blickte beide interessiert an.

      Anne Hoven schaute zu ihrem Mann und beide antworteten fast zeitgleich: »Nein, nichts.«

      »Wer tut so etwas, Herr Kommissar?« Anne Hoven erwartete wohl kaum eine Antwort, und Fett konnte auch keine geben.

      »Frau Hoven, Herr Hoven, wir stehen am Beginn der Ermittlungen. Wir haben alles abgesucht, die Kameras auf der Annakirmes werden noch ausgewertet, wir sind am Anfang. Sagt Ihnen vielleicht das Wort Rurschatten etwas?«

      Fett und Schmelzer schauten prüfend in die Gesichter. »Nein, nichts.« Wieder kam aus beiden Mündern zeitgleich die Antwort. Komischer Ehepaartick, dachte der Junggeselle Fett.

      »Gab es irgendwas in der Vergangenheit Ihres Vaters, was wir wissen sollten?« Fett musterte Frau Hoven.

      »Er war der beste Vater der Welt. Auch noch, als meine Mutter gestorben ist. Ich konnte immer auf ihn zählen.«

      »Frau Hoven, gab es etwas in der Vergangenheit, als Sie noch nicht geboren waren? Hat Ihr Vater aus seiner Vergangenheit oder von Problemen im Betrieb oder mit Konkurrenten berichtet?«

      »Mein Schwiegervater hat fast nie von der Vergangenheit erzählt. Er war froh, dass wir in Friedenszeiten leben, und wollte nicht an die Schrecken des Krieges und der Nazizeit erinnert werden.« Peter Hoven hatte konzentriert gesprochen. »So war es doch, nicht wahr, Anne?«

      »Ja, Peter. So war es. Er war glücklich mit uns. Und auf die Annakirmes freute er sich wie ein kleines Kind. Nein, es gibt da keine Schatten. Fassen Sie den Mörder, bitte, Herr Kommissar. Entschuldigen Sie mich.« Hastig ging sie in den hinteren Teil des Bungalows.

      »Das war es auch schon. Wenn Ihnen irgendetwas einfällt oder Ihrer Frau. Bitte nicht zögern. Rufen Sie uns an. Mich oder Herrn Schmelzer. Wir werden jede Spur verfolgen. Danke, Herr Hoven.«

      »Ja, Herr Kommissar. Wir zählen auf Sie.«

      Fett und Schmelzer standen auf und waren fünf Minuten nach Betreten des Hauses wieder im Freien.

      »Mager«, stellte Schmelzer fest.

      Fett nickte: »Komisch, alles schön, alles gut, nur ist der Herr Papa leider trotzdem ermordet worden.«

      Höfe und Friedhöfe

      Fett kam nicht voran. Die Spurenauswertung, Obduktion, Befragung von Fahrgästen, Geisterbahnpersonal, Mitbewohner im Domizil – alle Untersuchungen verliefen im Sand. Die Mordwaffe blieb verschwunden.

      Am Tag der Beerdigung von Alexander Rütters, wieder ein Freitag, 15. August, war halb Düren auf den Beinen. Fett stand auf dem Hauptfriedhof hinter einem der Gräber der Großindustriellen. Auch die Familie Rütters besaß ein Familiengrab. Seit Generationen lagen die Vorfahren des Ermordeten dort. Papiermagnaten. Papiermillionäre. Warum stehe ich hier?, dachte Fett. Die Trauer der Angehörigen ist echt. Die Worte der Honoratioren falsch. Alles Käse. Wir haben nichts. Die Geisterbahn ist auf den Kopf gestellt worden. Null. Niente. Nothing. Rurschatten. Wer hat dem Alten die SMS geschickt, warum ist er los zur Geisterbahn, was war im Vorfeld passiert? Eine Vorgeschichte gab es, da war sich Fett sicher.

      War Rütters vielleicht in einer Verbindung, Freimaurer oder so was. Fett dachte nach. Dann ging er am Beerdigungscafé »Don Camillo« vorbei zu seinem Wagen.

      Hatte Rütters im Altenheim Feinde? Gab es Feinde nach dem Verkauf der Papierfabrik? – Seine Kinder waren während des Mordes in der Kirmes-Kneipe geblieben, dafür gab es Zeugen.

      Im Büro unterrichtete Fett den Kollegen Schmelzer. Der süppelte seinen Kaffee und wirkte müde. Er dachte sich sein Teil. Ein alter Toter. Der wäre eh bald gestorben. Warum so viel Aufwand. Rechtsstaat. Die Staatsanwaltschaft ruft an, der Polizeipräsident und was weiß ich wer noch. Schatten über der Annakirmes. Auch da Schatten.

      Rurschatten

      Fast drei Wochen waren seit dem Mord vergangen. Fett stand mit leeren Händen da. Im Seniorenstift hatte es mal Krach im Bingoklub gegeben, aber Bingostreit als Mordmotiv? Ein Täter aus dieser Ecke kam nicht in Betracht, nicht bei dieser Form des Mordes. Die ehemaligen leitenden Angestellten der Papierfabrik waren gut abgefunden worden, keiner ins Bodenlose gefallen. Auch da kein Motiv. Rütters schien keine Feinde zu haben. War es eine Verwechslung? Ausgeschlossen. Alexander Rütters war gezielt in die Geisterbahn gelockt worden. Jemand hatte ihn dort erwartet. Im Wagen hinter ihm hatte ein Liebespaar gesessen, der Wagen vor ihm war leer. Also galt der Schuss mit dem Colt ihm. Ein stummes Paff, kein Lärm, die Waffe war fast aufgesetzt worden. Man könnte beinahe von einer Hinrichtung in der Geisterbahn sprechen. Fett war die Tour gefahren. Am Sonntag, dem letzten Tag der Annakirmes. Die kreischenden Zombies und Vampire hatten ihn tatsächlich erschreckt. An der Stelle, wo sich der Mörder positioniert haben musste, stand Schmelzer mit seiner ungeladenen Waffe. Paff. Ein Schuss, dann bog der Wagen um die Ecke und passierte noch einige Gespenster, ehe er ans Tageslicht kam. Das muss ein Profi gewesen sein, das schafft ein Rentner aus Sankt Irmgardis nicht. Wer war sich so sicher gewesen, dass der alte Mann einsteigen würde?

      So ergebnislos wie die Ortsbesichtigung blieb Schmelzers Suche nach dem »Rurschatten«. Fett und Schmelzer saßen im Aachener Polizeipräsidium und kamen nicht voran.

      Fett, der Junggeselle, addierte einen weiteren ungelösten Fall zu seiner Liste. Schmelzer, frisch verheiratet, kämpfte mit der Ratenzahlung für die Darlehen und mit den Handwerkern. Und dazwischen der Alte aus Düren. So ein Mist. Die Lokalmedien hatten zehn Tage wild spekuliert. Das alles war nicht gut: nicht für das Image der Annakirmes. Und nicht für das Image der Polizei.

      Fett fährt

      Fett fuhr nach Düren. Dort war er aufgewachsen und zur Schule gegangen. Aus seiner Schulzeit kannte er noch einige, die mit ihm dort in den 70er-Jahren Abitur gemacht hatten. Sie gehörten nun zum Dürener Establishment. Vielleicht könnte ihm jemand helfen. Er musste neue Wege gehen. Wo war die Papierfabrik von Rütters? Er parkte am Dürener Bahnhof, lieh dort ein Fahrrad aus und fuhr die Rur entlang. Die Fabrik, die Rur, Schatten – die Begriffe tanzten in seinem Kopf. Die langsame Fahrt durch die Stadt und dann in Richtung Rur verschaffte ihm Luft und ließ ihn die Stadt etwas mehr spüren. Er sammelte die Eindrücke, die er später zu einem Mosaik zusammenfügen wollte. So ging er immer vor. Klar, manche Mosaiksteine musste er wegwerfen, manches Vorurteil beiseiteschieben.

      An der Johannisbrücke bog er auf den linksseitigen Rurradweg flussaufwärts, dann ging es in Richtung Lendersdorf. Da standen die Papierfabriken. Direkt hinter dem Annakirmesgelände fing die Industriezone an. Sie erinnerte an bessere Zeiten. Düren war einst reich. Sehr reich. Dank des Papiers. Dank des milden Wassers der Rur. Schließlich erreichte er das Gelände der ehemaligen Fabrik Rütters. Hinter der alten Mauer standen moderne Hallen, kaum Arbeiter, alles automatisiert. Fett wusste nicht genau, warum er hier eigentlich radelte. Er kehrte um und fuhr zurück in Richtung Haltestelle Annakirmesplatz der Rurtalbahn. Er kam an Bauschutt und abgestorbenen Bäumen vorbei, eine Fußgängerbrücke führte auf die andere Rurseite, am Wegesrand stand ein zugewachsenes Metallkreuz. Er bemerkte einen leicht verwelkten Blumenstrauß davor.

      Kriegswichtig

      Schmelzer recherchierte unterdessen und trug Material über Alexander Rütters zusammen.

      Rütters hatte in Düren das Abitur gemacht, war 1938 gemustert worden, hatte dann die Freistellung erhalten, um in der Papierfabrik seines Vaters Oskar mitzuarbeiten. Der war wohl nicht linientreu genug gewesen, war nicht Parteimitglied, wurde irgendwann 1941/42 aus der Leitung der Fabrik entfernt und blieb danach fast nur noch in seinem Wohnhaus in der Goethestraße, wo er 1944 beim Bombenangriff mit seiner Ehefrau starb.

      Die Rütters Papier AG lieferte ihr feines Büttenpapier an die Reichskanzlei. Auch Göring und Goebbels bezogen die edle Ware. Sie wurde gebraucht für Urkunden und Auszeichnungen, die man bei den Nazis reichlich verteilte. Seit 1939 wurde vom Eisernen Kreuz II aufwärts