ihrer Besserwisserei.
»Wie weit ist die Stelle denn von hier entfernt?«, fragte Sandra.
»Keine 300 Meter.«
»Haben Sie Handschuhe für mich?«
Die Polizistin holte ein Paar Einweghandschuhe aus der Funkstreife und überreichte sie der LKA-Ermittlerin.
»Danke. Gehen wir.« Sandra setzte sich in Bewegung. »Wo ist die Zeugin, die den Toten aufgefunden hat?«, wandte sie sich an ihren Begleiter.
»Drüben am Feldweg. Beim Inspektionskommandanten Stöckler«, sagte er. »Wir kennen die Frau. Krenn Waltraud heißt sie, eine Pensionistin, wohnhaft in Hof bei Straden. Nach der Sonntagsmesse war sie mit ihrem Hund spazieren. Ohne den hätt s’ die Leich wahrscheinlich gar nicht entdeckt.«
»Wann genau war das denn?« Erst jetzt bemerkte Sandra, dass sie fröstelte ohne ihre Jacke, die sie im Auto gelassen hatte. Obwohl die Herbstsonne an diesem späten Vormittag durch die teilweise kahlen Kronen der Laubbäume schien, war es kühl im Wald. Die leichte Brise, die ihr um die Nase wehte, roch nach Holzrauch, als würden in der Nähe Fleisch oder Würste geselcht werden. Sandra beschleunigte ihre Schritte.
»Wir sind um halb zehn von der Einsatzzentrale verständigt worden.« Sandras Begleiter passte sein Tempo dem ihren an und streckte den Arm aus. »Der Tote liegt dort hinten. In einem Graben unterm Laub.« Er deutete zu einem Holzstoß, in dessen Nähe sich zwei weitere Polizisten miteinander unterhielten. »Ihm fehlen beide Hände«, berichtete er weiter.
»Ihm fehlen die Hände?«, hakte Sandra nach.
»Ja, sie wurden ihm abgetrennt.«
Sandra hielt vor dem brusthohen, etwa vier Meter langen Holzstoß inne und streifte die Handschuhe über. »Sie meinen, im Zuge seiner Ermordung?«
Der Uniformierte sah Sandra an, als wäre sie schwer von Begriff. »Ja sicher.«
Sicher? Der Mann hätte ja auch schon vor seinem Tod bei einem Unfall die Hände verlieren können. Oder ein paar Waldtiere hatten nach seiner Ermordung daran genagt, überlegte Sandra. »Könnte es sich nicht auch um Tierfraß handeln?«, fragte sie. »Füchse, Wildschweine, Ratten, Krähen …?« Es brauchte höchstens drei Tage, bis eine Rotte Wildschweine einen ganzen Menschen aufgefressen hatte.
Der Polizist zuckte mit den Schultern. »Glaub ich nicht.«
»War die Leiche denn vollständig mit Laub bedeckt, als sie aufgefunden wurde?«
»Die Kollegen wissen das besser als ich. Sie haben den Fundort abgesichert und sind seither hier postiert.«
Sandra trat hinter den Holzstoß und wandte sich an die Uniformierten am Absperrband, um ihnen dieselbe Frage zu stellen. Neben dem Surren zahlreicher Fliegen waren immer wieder Stimmen aus ihren Funkgeräten zu vernehmen. Ebenso jene, die von den Einsatzfahrzeugen am nahen Feldweg in den Wald herüberdrangen. Um sie verstehen zu können, waren diese jedoch zu weit entfernt.
»Der Zeugin ihr Hund hat die Leich ausm Laub ausgegraben«, antwortete einer der Männer. »Dann ist sie in die Muldn einigstiegen und hat nachgschaut, ob s’ dem Mann noch helfen kann. Die Frau Krenn war früher Hebamme. Von dem her kennt sie sich medizinisch recht gut aus. Aber da war nix mehr zu machen. Die Leich is ja schon am Verwesen«, berichtete der Landpolizist gleichmütig, als stünden derartige Leichenfunde auf der Tagesordnung.
Sandra wollte sich gerade nach dem ersten Mordopfer erkundigen, als der andere Beamte ihrer Frage zuvorkam. »Wir ham dann auch noch ein bissl was vom Laub wegg’schafft, damit wir seine Taschen durchsuchen können. Anschließend ham wir ihn wieder mit Blattln zuadeckt«, schilderte er die Vorgänge weiter.
Wozu das denn, wunderte sich Sandra. »Irgendwelche Hinweise auf seine Identität? Brieftasche? Ausweis? Handy? Persönliche Gegenstände?«
Beide Polizisten schüttelten die Köpfe. »Nicht einmal ein Schneiztiachl.«
»Wurde die Position der Leiche verändert?«
Wieder folgte synchrones Kopfschütteln. »Liegt genauso da wie vorher.«
Sandra nickte. Es war nicht das erste und bestimmt nicht das letzte Mal, dass Polizisten bei einem Einsatz neue Spuren an einem Tatort oder Fundort setzten, die später abgeglichen werden mussten, um zu den tatrelevanten zu gelangen. Den Kommentar, der ihr auf der Zunge brannte, schluckte sie hinunter und tauchte stattdessen unter dem rot-weißen Flatterband mit dem Polizei-Schriftzug hindurch. Die Leiche lag jetzt gute zwei Meter von ihr entfernt, bäuchlings in einem Graben, der mit kupferbraunem Laub gefüllt war. Kopf, Arme und Beine waren fast vollständig damit bedeckt. Nur der Rücken und das Gesäß, beide durch schwarze Kleidung verhüllt, ragten hervor.
»Werd ich hier noch gebraucht?«, hörte sie hinter sich den Polizisten, der sie hergeführt hatte, fragen.
»Nein danke«, winkte Sandra ab, ohne sich umzudrehen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, um so den Boden unter den abgestorbenen Blättern zu ertasten, während sie sich der Leiche im Graben langsam näherte. Schon einmal hatte sie beim Joggen im Wald eine Vertiefung unter einer laubbedeckten Stelle übersehen und sich eine langwierige Bänderzerrung im Sprunggelenk zugezogen. Einen ähnlichen Unfall wollte sie tunlichst vermeiden. Ihre Füße fanden den Rand einer Mulde. Kontrolliert rutschte Sandra seitlich weiter hinab, bis sie sicher im knietiefen Laub zu stehen kam. Wenn hier ohnehin schon alles durchwühlt worden war, konnte sie sich genauso gut auch noch umsehen, bevor die Tatortgruppe eintraf und Leiche und Fundort für die nächsten Stunden blockierte. Dass dem Toten beide Hände fehlten, konnte Sandra bestätigen, nachdem sie seine Arme behutsam aus dem Laub gehoben und die Ärmel des schwarzen Samtsakkos und des ebenso schwarzen Hemdes hochgeschoben hatte. Die Amputation der Hände war in beiden Fällen oberhalb der Handgelenke erfolgt. Zum Ellenbogen hin fehlten Hautteile. Die Wundränder waren ausgefranst, zahlreiche Maden fraßen sich bereits durchs Gewebe. Die Frakturen von Elle und Speiche ließen hingegen auf ein scharfkantiges Tatwerkzeug schließen. Sandra war kein einheimisches Tier bekannt, das die Knochen dermaßen glatt hätte durchtrennen können. Während sie sich neben den Kopf der Leiche hockte, wachelte sie mit der Hand wiederholt vor ihrem Gesicht herum, um die Fliegenschar zu vertreiben, die der Verwesungsgeruch magnetisch anzog. Sorgfältig fegte sie die Blätter vom Kopf und vom Hals des Mannes. Dann fasste sie in die braunen Locken, um seinen Kopf zur Seite zu drehen und eine tiefe Schnittwunde an der Kehle zu entdecken. Die Schlagader war durchtrennt. Maden und Insekten waren hier ebenso emsig am Werk wie an den Ohren. Ihr spontaner Verdacht des postmortalen Tierfraßes schien sich wenigstens an dieser Stelle zu bestätigen. Das andere Ohr war in einem ähnlichen Zustand. Die Nasenlöcher waren wie auch die Augen von Maden bevölkert. Andere Tiere als Insekten hatten diese Stellen wohl nicht erreichen und an ihnen nagen können, da der Tote darauf gelegen war. Ansonsten konnte Sandra keine sichtbaren Verletzungen ausmachen. Dafür hätte sie die Position des Leichnams verändern beziehungsweise ihn auskleiden müssen, was glücklicherweise nicht zu ihren Aufgaben zählte. Ohne den Obduktionsbefund zu kennen, der den Ermittlern frühestens am nächsten oder übernächsten Tag vorliegen würde, deutete für sie momentan alles darauf hin, dass der Mann verblutet war. Und dass er länger als zwei bis drei Tage tot sein musste. Die Totenstarre hatte sich bereits aufgelöst, Verwesung und Insektenbefall waren fortgeschritten. Auffällig erschien ihr, dass weder die Kleidung noch das Laub in der Nähe der Leiche sichtbare Blutflecken aufwiesen. Zumindest nicht an jenen Stellen, die in der Auffindesituation zu sehen waren. Der Regen konnte keine Spuren fortgewaschen haben. In der Region hatte es zuletzt vor einer guten Woche Niederschlag gegeben, wusste Sandra von der Frau, die sie in der Hotelsauna in ein Gespräch verwickelt hatte. War das wirklich erst gestern gewesen? Es kam ihr vor, als wären inzwischen mehrere Tage vergangen. Ein sicheres Zeichen, dass sie wieder in ihrem Job angekommen war.
Sandra erhob sich aus der Hocke und suchte den Graben mit ihren Blicken ab. Oberflächlich war auch hier kein Blut zu entdecken. Sich weiter durch das Laub zu wühlen, um auf mögliche Spuren zu stoßen, überließ sie liebend gern der Tatortgruppe, die dafür zuständig war. Allen voran deren Leiter, Manfred Siebenbrunner. Die Tatsache, dass jemand anders als er und seine Leute zuerst in der Nähe der Leiche gewesen war, würde