Franziska Steinhauer

Der Werwolf von Hannover - Fritz Haarmann


Скачать книгу

großen Tisch versammelt, jeder ein Bier vor sich und eine Decke aus Zigarrenqualm über den Köpfen als Beweis für rege Diskussion.

      »Jetzt greifen die Bürger auf der ›Insel‹ schon zur Selbsthilfe! Ist doch wirklich nicht zu fassen, dass die Polizei so träge reagiert. Kommt ja gar nicht recht in Schwung!« Der Pirat schlug mit der Faust auf den Tisch, und die anderen umklammerten schnell ihre Biergläser. Zur Sicherheit. »Am 17. Mai der erste und nun? Immer mehr Schädel! Ein ganzer Sack voller Knochen. Schulterblätter und anderes! Und jetzt fischen die Leute sogar mit Netzen Knochen aus dem Fluss! Von offizieller Seite – kein Einsatz!«

      »Wenn man mit den einfachen Netzen und Rechen schon viele Knochen herausfischen kann, möchte ich gar nicht wissen, was man ans Licht beförderte, könnte man sich dazu entschließen, den Pegel der Leine abzusenken!«, murmelte Richard bedrückt, sah blass und krank aus. »Ich glaube, die Leute haben recht. In der Stadt haust das Böse. In irgendeiner Ecke hat es sich verkrochen und sieht uns zu, wie wir immer deutlichere Spuren von ihm finden und ihm doch keinen Schritt näherkommen. Womöglich lauert es schon auf sein nächstes Opfer. Grässlich!«

      »Bisher ist nicht klar, wie all die Knochen in die Leine gelangt sind. Gibt ja mehrere Erklärungsansätze.«

      »Keiner bewiesen! Keiner auch nur annähernd stichhaltig!«, maulte Ahab.

      »Mörder? Ist auch nicht bewiesen.«

      »Und erst heißt es, wenn überhaupt Mord, dann sind die Schädel sicher von weiblichen Opfern, dann stellt sich raus: Schädel junger Männer! Männerköppe. Und sogar einer von einem Knaben!« Richard sprach eindringlich. »Es ist die Pflicht der Presse – und daher auch des Journalisten – die Menschen umfassend zu informieren und zu warnen!«

      »Lass mal gut sein. Zu viel der Warnung ist schlecht, das macht die Leute bloß wuschig und hysterisch. Sind doch eh schon viele durch den Wind.« Ahab nahm einen kräftigen Schluck, stellte den Bierkrug hart ab. »Und Polizeischelte hat noch nie was anderes gebracht als Ärger. Am Ende sind bloß alle beleidigt, und unsere Quellen sprudeln nicht mehr. Jeder meidet den Kontakt mit der Presse, die Informanten verdrücken sich um die nächste Ecke, kaum dass sie uns kommen sehen. Ne, das ist keine gute Idee. Wirklich nicht.«

      »Verantwortung? Schon mal gehört?«

      »Die hast du auch für die Reaktion auf deinen ›Aufklärungsartikel‹, oder nicht? Wenn dann alle kopflos durch die Stadt rennen, jeder jeden verdächtigt, geht das auf deine Kappe! Das nenne ich nicht verantwortungsbewusst.«

      »Ach was! Die Wahrheit muss ans Licht! Denk nur an die vielen Familien, die nach ihren Kindern suchen! Die wollen wissen, warum alle untätig geblieben sind.« Richards gramvolles Gesicht bekam einen entschlossenen Zug. »Ich hoffe, mein Artikel kommt auf die Titelseite. Vielleicht drucken wir sogar ein Extrablatt!«

      »Nur Männerköppe. Könnte ja bedeuten, dass man den Mörder unter den Homosexuellen suchen muss. Damit wären die meisten Männer in der Stadt außer Verdacht – oder?«, meinte der Pirat und guckte in die Runde. »Ich mein ja nur. Die Szene ist nun wirklich nicht unüberschaubar. Sicher, in der letzten Zeit sammeln sich immer mehr hinter dem ›Kröpke‹, aber dort könnte die Polizei eigentlich ganz gut ansetzen. Wenn wir das schreiben, dann fangen sie vielleicht endlich mit ernsthaften Ermittlungen an!«

      13. Kapitel

      1924 Juni

      Ludwig hatte eine Zeitung am Bahnhof gekauft, saß nun in der Abendsonne und las voller Interesse darin.

      »Mensch! Nun haben sie schon wieder Schädel entdeckt. Einen Sack Knochen wohl auch. Du liebe Güte! Das sind Berichte, die den Eltern gar nicht gefallen werden! Darüber wird ja sicher auch im Radio berichtet. Sie sind bestimmt in großer Sorge um uns.«

      »Das scheint im Moment ihre Lieblingsbeschäftigung zu sein. Worum sollten die Gedanken auch sonst kreisen, gibt es doch nur dies eine Kind!«, fauchte Theo zurück und lief rot an vor Zorn.

      Ludwig sah überrascht von der Zeitung auf. »Warum bist du denn so schlecht gelaunt? Wir haben noch drei Tage. Die können wir genießen. Dann nehmen wir den Frühzug und sind am Abend pünktlich zurück.«

      »Hmhm.«

      »Ich hoffe sehr, deine Verwandtschaft hält uns mit Nachrichten aus Hannover auf dem Laufenden. Interessiert mich schon, was sich am Ende in diesem Fall ermitteln lässt. Schädelfunde mitten in der Stadt!«

      »Hmhm.«

      »Ich wusste gar nicht, dass man nur am Schädel feststellen kann, dass er einem Mann gehört hat und wie alt der etwa war. Bisher war ich der Meinung, man brauche dazu das Becken. Man könnte sagen, ich habe tatsächlich schon mit dem Studium begonnen!« Als er Theos sonderbarem Blick begegnete, setzte er schnell hinzu: »Ich meine eher zufällig – nicht geplant – du weißt schon, irgendwie im Vorbeigehen.«

      Der Freund blieb einsilbig.

      An diesem Abend krochen die beiden jungen Männer frühzeitig in ihr Zelt.

      »Nacht, Theo. Lass dir nicht die letzten Tage vom Gedanken an die Heimreise verderben! Ich denke, in den Semesterferien können wir doch etwas gemeinsam unternehmen – nicht gerade mit dem Zelt im Winter, aber wir finden schon was!«

      »Gute Nacht, Ludwig. Mal sehen, was die Zukunft bringt. Du wirst vielleicht zwischen den Semestern gar nicht nach Hause kommen, sondern die Ferien zum Lernen nutzen. Wir werden abwarten müssen.« Der Freund raschelte noch einige Zeit vor sich hin, dann fragte er plötzlich: »Du, Ludwig? Meinst du, ich sollte lieber hierbleiben und richtig Geld verdienen? Die Schreinerei wirft nicht viel ab und soll sich tragen, drei Menschen ernähren und die Lehrlinge, zum Beispiel den Jakob … Aber wenn ich nun Arbeit fände, gut bezahlte versteht sich, wäre es mir sicher möglich, genug Geld an die Eltern zu schicken, damit sie sorgenfrei leben können. Sie müssten ja die Schreinerei nicht aufgeben, könnten jemanden einstellen, der den Betrieb führt – oder eben verkaufen.« Theo klang ziemlich aufgeregt. War offensichtlich von diesem Weg aus der elterlichen Fürsorge begeistert.

      »Welche Art Arbeit soll das sein?«, staunte Ludwig. Überlegte kurz und meinte dann überzeugt: »Eine legale sicher nicht! So viel Geld zu verdienen, dass es drei Leute ernährt und den Betrieb rettet, das kann doch nicht gehen! Wie kommst du überhaupt auf so eine Idee?«

      »Ach, naja. Heute in Hannover. Da habe ich einen auf dem Bahnhofsklo getroffen. Der hat mich angesprochen und gesagt, ich sähe aus wie ein aufgeweckter Kerl. Und falls ich auf der Suche nach einer guten Anstellung sei, wäre er bereit, mir zu helfen. Kein Problem für ihn. Und junge Männer, intelligent und gut gebaut, fänden in der Stadt immer eine gut bezahlte Arbeitsmöglichkeit.«

      »Hm«, murrte Ludwig. »Klingt nicht seriös. Der wollte gar nichts von dir wissen? Schule, Ausbildung und solche Dinge?«

      »Nein. Er hat nur gesagt, er würde für mich was finden.«

      »Hast du ihn gefragt, um was für eine Art Stellung es sich handelt?«

      »Auch nicht. Aber der war von der Polizei, verstehst du? Ich habe seinen Ausweis gesehen. Solche Leute überreden dich nicht zu was Ungesetzlichem!«

      »Vielleicht nicht«, räumte der andere ein. »Hatte der Herr von der Polizei auch einen Namen? Der muss doch auf dem Ausweis gestanden haben.«

      »Den auf diesem Ding habe ich so schnell nicht lesen können«, gab Theo zurück, »aber sein Name war Fritz oder so ähnlich. Er versicherte mir, wenn ich ihn ernsthaft suchte, würden mir die jungen Leute am Bahnhof schon den Weg zu seiner Wohnung weisen.«

      »Ehrlich gesagt glaube ich, dass dich jemand aufs Kreuz legen will. Niemand hat in diesen Zeiten Geld zu verschenken.« Hätte Ludwig um die Nachrichten der kommenden Tage gewusst, seine Warnung wäre viel entschiedener ausgefallen. Doch er wollte nicht altklug, rechthaberisch oder überheblich und selbstgerecht wirken. Daher beließ er es bei dieser allgemeinen Belehrung, die bei Theo ohnehin nicht gut ankommen wollte.

      Wortlos rollte sich der Freund wieder in die Decke ein. Sein regelmäßiges tiefes Atmen zeigte,