Franziska Steinhauer

Der Werwolf von Hannover - Fritz Haarmann


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Und wieso wurden nicht die toten Körper angeschwemmt, sondern nur halb blanke Schädel? Normalerweise findet man doch aufgetriebene Körper am Ufer, wenn jemand in der Leine treibt. Tja, Fragen über Fragen. Die uns wahrscheinlich so schnell keiner beantworten will.«

      Sie prosteten sich zu.

      »Na prima. Und was schreiben wir darüber? Und vor allem – wie?«

      »Wie wohl? Wir stärken unsere Auflagen!«, gab der Pirat kryptisch zurück.

      11. Kapitel

      1924 im Juni

      In der zweiten Woche des Unterwegsseins fiel Ludwig eine gewisse Unruhe an seinem Freund auf.

      Als sie am Abend vor dem Zelt saßen, fasste er sich ein Herz und fragte: »Theo, hör mal! Ich merke doch schon seit einiger Zeit, dass etwas mit dir nicht stimmt. Du bist so unruhig.«

      »Mit mir? Ich bin doch nicht unruhig. Warum sollte ich denn unruhig sein?«

      »Das hast du schon zu Schulzeiten so gemacht!«, lachte der Freund. »Immer, wenn dir eine Frage unangenehm war, hast du sie in eine Gegenfrage umformuliert. Solange bis der andere gar nicht mehr wusste, was er ursprünglich von dir wissen wollte. Sehr clever!«

      Theo stimmte in das Gelächter ein. »Nun, es ist eine Methode, die richtig gut funktioniert!«

      »Bei den meisten. Aber nicht bei mir! Also was ist los?«, insistierte Ludwig.

      »Ach, na ja«, druckste Theo, »ich weiß, wir haben versprochen, nicht nach Hannover zu fahren. Aber inzwischen reut mich das. Nur weil man dort ein paar Knochen in der Leine gefunden hat, muss es doch nicht gefährlich sein! Wer weiß, vielleicht sind es einfach nur Schweineknochen, die jemand entsorgt hat. Und das soll als Grund ausreichen, die Stadt ganz zu meiden? Wir könnten in ein Lichtspieltheater gehen!« Dabei sah er den Freund auffordernd an.

      »Wir haben es nicht nur versprochen. Ich musste es deiner Mutter schwören! Aufpassen soll ich auf dich! Das hat sie mir aufgetragen.« Ein rascher Seitenblick enthüllte, dass sich die Miene des Freundes verhärtete. Also setzte er schnell hinzu: »Natürlich habe ich ihr gleich gesagt, dass wir beide gegenseitig aufeinander achtgeben werden. Ich sei schließlich kaum älter als du! Mütter sind eben manchmal schwierig. Aber wir müssen ohnehin in die Stadt, um die Abfahrtzeit des Zuges herauszufinden. Kein Grund, nicht bei der Gelegenheit ins Lichtspielhaus zu gehen.«

      Theo nickte.

      Dann rief er plötzlich, als habe es die Sätze davor gar nicht gegeben: »Oder Theater!«, breitete die Arme weit auf und ließ sich rückwärts ins Gras fallen, schloss die Augen und schwärmte: »Wenn du eine Rolle einstudierst, dann ist es, als gäbest du einen Teil deines Selbst auf und schlüpfest in die Haut, nein, in das gesamte Leben eines anderen. Erst fühlt es sich ungewohnt an. Als wären Haut und Leben an manchen Stellen zu eng, an einigen zu weit. Aber mit der Zeit spürst du, wie dein Denken und Empfinden sich völlig einschmiegen. Plötzlich rückt alles an den richtigen Platz – und es ist, als wäre es nie anders gewesen. Du wirst die Rolle! Dann stehst du auf der Bühne, die Dialoge entsprechen dir, du musst sie gar nicht auswendig hersagen. Sie ergeben sich ganz natürlich im Spiel. Es ist, als würdest du vollständig diese fremde Person. Und alles ist möglich: Bösewicht, guter Mensch, Melancholiker, Choleriker, Hexer … man kann sich in allen Charakteren mit ihren Stärken und Schwächen ausprobieren«, schwelgte er und sah dabei unendlich glücklich aus. Ludwig konnte schmerzhaft spüren, wie schwer es für Theo war, diesen Traum aufgeben zu müssen, bevor er ihn je wirklich gelebt hatte. »Doch das Wunderbarste überhaupt ist der Applaus! Es fühlt sich unbeschreiblich an. Ist mehr als jeder Orden – und doch: Er gilt nur für diesen einen Moment. Berauscht dich mehr, als Alkohol es je vermöchte!«

      »Hm. Das muss wahrhaft unglaublich sein. Klingt nach magischen Momenten, Erfahrungen, die einzigartig sind. Wie oft verzichten wir doch darauf, die Seite unseres Selbst auszuleben, die uns bei anderen unbeliebt machen könnte! Weil wir gut erzogen sind, niemanden verletzen und immer Teil des Ganzen bleiben möchten, geliebt und anerkannt. Und verpassen dabei so viel. Manchmal gar das, was wir Leben nennen würden!«

      Theo öffnete ein Auge und zog die dazugehörige Braue fast bis zum Haaransatz. »Aha. Bei dir?«

      »Ich werde Medizin studieren, aber die Praxis meines Vaters wollte ich nie übernehmen! Jeden Tag dieselben Leute. Sie zu heilen ist nur selten eine Herausforderung. Es geht nicht um den Durchbruch in der Herzchirurgie, sondern um das Pinseln von Hautpilzen! Das Verschreiben von Pülverchen gegen Kopfschmerz! Nein, das ist wie Stillstand im Alter von Mitte 20! Ohne das Potenzial für Entwicklung. Meine Träume sind von deinen gründlich unterschieden, aber mit meinem geplanten Schicksal als Arzt auf dem Lande haben sie nichts gemein.«

      »Und? Wie sieht deine Planung für die nächsten – sagen wir – 60 Jahre aus, könntest du frei entscheiden?«

      Ludwig lachte leise. »60?«

      »Nun, wenn wir von einem weiteren Krieg verschont bleiben, weil die Menschheit unerwartet klug geworden ist, so könnte das klappen. Mit ein bisschen Glück haben ja alle aus den letzten Jahren gelernt und stürzen unsere Generation nicht noch einmal in solch eine Katastrophe. Dann kann unser Lebensfaden sich ungestört ausspannen und wird nicht unerwartet gekappt!«

      »Meine nächsten 60 Jahre also«, begann Ludwig versonnen. »Gut. Studieren wollte ich schon – entweder Medizin und Pharmazie oder Politik. Im ersteren Fall wäre es mein Traum gewesen, neue Medikamente zu entwickeln, die gegen viele der Erkrankungen helfen, an denen heute noch überall gestorben wird. Methoden zu finden, die Leben retten. Als Arzt auf dem Dorf? Der Durchbruch gegen Infektionskrankheiten, die Entdeckung, die die Welt verändert, wird im winzigen Labor meines Vaters gemacht? Hinter dem Sprechzimmer? An einem Sonntag nach der Kirche, wenn alle zu Tisch sind und niemand einen Arzt braucht? Mit der alten Laborausstattung? Nein, das wird niemals wahr!« Er boxte sich mit der Hand auf den Oberschenkel. »Niemals!«, spuckte er dann zornig.

      Beide schwiegen lang, hingen ihren Gedanken nach.

      Als Theo die Wortlosigkeit nicht mehr ertragen konnte, wollte er wissen: »Und wenn du Politik studieren dürftest?«

      Ludwig war noch immer blass vor Zorn, hatte seine Stimme aber wieder unter Kontrolle. »Politik hätte mich wirklich interessiert. Was passiert, wenn? Das war ja nun schließlich die entscheidende Frage im Krieg – es hätte vielleicht nicht soweit kommen müssen. Um Verwicklungen zu erkennen und rechtzeitig reagieren zu können, brauchen Regierungen besonders fähige Menschen, die in aller Welt für sie unterwegs sind. Geheimagenten. Die sich überall auskennen, schnell eine Geschichte erfinden können, überzeugend auftreten und doch unerkannt zwischen den anderen leben und arbeiten! Ja, das wäre meine Sache! Ein geheimes Dasein, jeder Tag wäre ein Abenteuer, das man überstehen muss. Nach einigen Jahren wird man abberufen und kann ein normales Leben führen. Dann wollte ich heiraten und eine Familie gründen. Mit vier – nein – besser sechs Kindern! Damit ihnen erspart bleibt, was uns nun mit voller Härte trifft. Nur weil wir die einzigen Nachkommen sind, müssen wir, was wir partout nicht wollen! Den Traum der Eltern weiterleben, unseren eigenen vergessen!«

      »Es ist unglaublich ungerecht!«

      »Ja. Und doch nicht zu ändern. Wenn wir es nicht tun …«

      Sie brüteten wieder vor sich hin, starrten auf die Leine, die träge an ihnen vorbeifloss, und seufzten gelegentlich.

      »Du denkst an Heirat und Kinder? Das liegt mir gerade im Moment nicht so im Sinn. Seit Sabine … Die Lust aufs Weibervolk ist mir vorerst gründlich vergangen«, knurrte Theo unvermittelt.

      »Nun, betrogen zu werden, ist sehr schmerzvoll. Aber glaub mir, es wird schwächer, und am Ende juckt die Narbe nur noch selten.«

      »Du? Du kennst das auch?«

      »Zur Genüge. Wir sollten aufhören zu jammern und lieber die verbleibende Zeit genießen.«

      »Du hast recht. Bevor uns unsere Eltern um die Erfüllung unserer Wünsche und Träume für die nächsten 60 Jahre betrügen!«

      12.