Oberhollerer war, ließ sich vorerst nicht sagen, da über seine Identität nichts in Erfahrung zu bringen war. Zwar gab es die Aussage des Paters, wonach der Mann Christoph geheißen hatte, doch Christophs gab es viele in Wien. Bronstein beschloss, diese Frage vorläufig außer Acht zu lassen. Stattdessen gab er Pokorny den Auftrag, eine Großfahndung nach Josef Oberhollerer hinauszugeben. Er war zwar mehr als skeptisch, dass der Mann auf diese Weise wirklich geschnappt werden konnte, doch schadete es auch nichts, die größeren Bahnhöfe überwachen zu lassen, wenngleich die Personenbeschreibung, die man geben konnte, mehr als vage war.
III.
Natürlich blieb Oberhollerer verschwunden. Bronstein konnte es nach zwei Tagen auch nicht mehr verantworten, die Kollegen weiterhin am West- und am Südbahnhof, am Franz-Josephs-Bahnhof und am Nordbahnhof herumstehen zu lassen. Die ganze Sache drohte, auf Frist gelegt werden zu müssen. Bronsteins Laune war dementsprechend. Nicht einmal die Zigarette schmeckte ihm, als er lautstark über den schlechten Kaffee lamentierte. Da kam ihm Pokorny gerade recht. Dieser hatte eigentlich versucht, den Chef mit einer alten Anekdote aufzuheitern, als dieser ihn brüsk anfuhr: »Weißt was, Pokorny, deine alten Kamellen kannst du dir einrexen. Die brauch ich jetzt wie einen Kropf.« Unweigerlich schreckte Pokorny verletzt zurück und sah zu, dass er aus dem Zimmer kam.
»Was ist denn noch, verdammt noch einmal! Hast ned mitgekriegt, dass ich meine Ruhe haben will, sapperlot?!«
»Doch, Chef, aber da ist ein Anruf. Aus dem Erzbischöflichen Palais. Irgendein geistlicher Herr. Er sagt, er weiß was über den Oberholl…«
Bronstein war aufgesprungen und hatte sich in Windeseile an Pokorny vorbeigezwängt. »Jetzt gib schon her, du Unglückswurm!« Hektisch griff er nach dem Apparat. »Pater Gerhard?«
»Nein, Pater Sebastian. Aber ich rufe im Auftrag von Pater Gerhard an. Der hat mir gesagt, ich soll Sie verlangen, weil Sie über die ganze Sache Bescheid wissen.«
»Ja, der Fall Oberhollerer, ich bin im Bilde. Was will mir der Herr Pater ausrichten?«
»Also, er sagt, er ist sich nicht sicher, weil er den Oberhollerer ja nur g’hört und danach nur ganz kurz von hinten g’sehen hat, ned wahr. Aber er glaubt, dass der Oberhollerer jetzt gerade im Dom ist. Er sitzt im Gestühl bei der Kanzel und betet. Pater Gerhard beobachtet ihn vom Abgang zur Gruft aus, und deswegen hat er mich herübergeschickt, damit ich Sie anruf’.«
Bronstein dankte dem Geistlichen und legte auf. »Pokorny!«, brüllte er dann, »sofort einen Streifenwagen. Aber fix a no! Wir müssen zum Dom.«
Als sich der Wagen durch die Innenstadt schlängelte, quengelte Bronstein wie ein kleines Kind. »Geht das nicht schneller, Herrschaftszeiten!« Der Fahrer tat, was er konnte, doch die engen, verwinkelten Gassen verunmöglichten eine höhere Geschwindigkeit.
»Sakrament, da sind wir ja zu Fuß schneller«, fluchte Bronstein.
»Wollen Sie’s ausprobieren, Herr Major? Ich lass Sie gerne aussteigen«, gab der Fahrer über die Schulter zurück. Bronstein schluckte seine Antwort tapfer hinunter. Endlich hatten sie den Graben erreicht und donnerten mit neu aufgenommenem Schwung zum Stock-im-Eisen-Platz. Dort kam der mächtige Dom deutlich ins Bild. Bronstein sah die beiden Heidentürme und das Riesentor und wünschte sich, er wäre bereits darin verschwunden. Wenn er bloß noch da ist, der Halunke, betete er.
Das Automobil bog nach links ab und blieb direkt vor dem Haupteingang stehen. Bronstein hechtete aus dem Fond und eilte schnurstracks in die Kirche. Er war sicher schon Dutzende Male im Dom gewesen, doch erst jetzt fielen ihm dessen gewaltigen Dimensionen auf. Der Hauptaltar war so weit von ihm entfernt, dass er nicht einmal ansatzweise erkennen konnte, was dieser darstellte.
Doch dem galt sein Interesse ohnehin nicht. Bronstein blickte nach links. Dort musste sich, soweit er sich erinnerte, irgendwo die Kanzel befinden. In Bronstein rangen zwei Seelen. Einerseits wollte er weiterhasten, um keine Zeit zu verlieren, andererseits hätte übertriebene Eile den Mann, wenn er denn noch da war, vorzeitig gewarnt. Gemessenen Schrittes ging er also vorwärts und wurde in der Mitte des Langhauses endlich der Kanzel ansichtig.
Dunkel erinnerte er sich an seine Schulzeit. Damals hatte man ihn gelehrt, dass die vier Gesichter, die an der Außenseite der Kanzel angebracht waren, die vier lateinischen Kirchenväter darstellten. Ambrosius, Augustinus und Gregor fielen ihm sofort ein. Wer war noch mal der vierte gewesen? Ach ja, Hieronymus. Die Figuren an der Säule stellten die Apostel dar. Auch das wusste Bronstein noch, wiewohl er auf Anhieb nur den Heiligen Andreas erkannte, und auch den nur wegen seines charakteristischen Kreuzes.
Doch deshalb war er ja ohnehin nicht da. Hektisch sah er sich nach Pater Gerhard um. Er entdeckte ihn im linken Seitenschiff, und er kam nicht umhin, festzustellen, dass der Geistliche in seiner Pose stark an den ›Fenstergucker‹ gemahnte, der seit einem halben Jahrtausend aus dem Sockel der Kanzel in das Kircheninnere blickte. Nun hatte ihn auch der Pater gesehen, und dieser deutete auf ein Männchen, das in der zweiten Reihe kniete und ins Gebet vertieft schien. Bronstein trat langsam näher und setzte sich in die dritte Reihe, direkt hinter Oberhollerer.
Er wartete einen Augenblick, dann beugte er sich langsam nach vor. »Oberhollerer, gib auf! Du hast keine Chance mehr.«
Tatsächlich fuhr der so Angesprochene hoch, und noch ehe Bronstein reagieren konnte, stürzte der Mann aus der Bank und wollte Richtung Ausgang eilen. Doch sah er den uniformierten Fahrer direkt vor sich, weshalb er augenblicklich eine Drehung vollführte, um zum Seitenausgang zu gelangen. Dort freilich stand Pokorny und winkte aufmunternd mit der Kokarde. Oberhollerer wandte sich dem Hauptaltar zu und erkannte dort den Priester wieder, der ihm zwei Tage zuvor die Beichte abgenommen hatte. Mit Bronstein, der sich endlich auch aus dem Gestühl geschält hatte, im Rücken, blieb Oberhollerer nur noch ein einziger Fluchtweg. Er rannte auf die Kanzel zu. Mittlerweile hatte auch der Fahrer Bronstein erreicht. Er deutete auf den Kanzelaufgang.
»So ein Trottel! Was will er dort oben? Da kommt er ja nicht weiter.«
»Richtig«, bestätigte Bronstein, »aber es ist passend. Da gibt es den Kampf der Frösche mit den Lurchen. Gut gegen Böse. Vor allem, weil das Gute g’winnt.« Es war dem Fahrer anzusehen, dass er kein Wort verstanden hatte, aber sicherheitshalber nickte er. Die drei Polizisten begaben sich zur Kanzel und sahen, wie Oberhollerer oben ins Straucheln kam. Beim Versuch, sich festzuhalten, war er an der Abschlussfigur des Geländers, dem sogenannten ›Hündchen ohne Furcht‹ angekommen, von dem er in seiner Aufregung geglaubt haben mochte, es sei wirklich ein Hund. Darob war er erschreckt zurückgefahren, hatte das Gleichgewicht verloren und fiel nun unter einem entsetzlichen Schrei die gewundene Treppe abwärts.
»Na servas«, schnalzte der Uniformierte mit der Zunge, »da bricht er sich jetzt eh des G’nack.«
»So viel Glück wird er ned haben«, konstatierte Bronstein, und tatsächlich lag wenige Sekunden später ein wimmernder Oberhollerer zu ihren Füßen.
»Na ja, Oberhollerer, Doppelmord. Das wird der Frack. Am Felsen. Weißt eh.« Bronsteins Lakonie schien selbst Pater Gerhard das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Instinktiv beugte er sich zu dem gefallenen Sünder hinab und machte das Kreuzzeichen.
»Ego te absolvo«, sagte er laut und vernehmlich.
»Ja, Sie«, replizierte Bronstein knapp, »aber ned die Gesellschaft. Die kastelt ihn ein.« Dann wandte er sich an seine Kollegen: »Also, pack ma’s. Klaubt’s ihn auf und auße mit eam.« Schließlich nickte er Pater Gerhard zu. »Danke für die Hilfe, Hochwürden.«
Als der Geistliche darauf nichts erwiderte, trieb Bronstein ohne weitere Verzögerung seine Kollegen zum Ausgang. »Ite missa est«, flötete er. Pokorny fiel keine bessere Antwort ein als »Amen«.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив