Andreas Pittler

Wiener Bagage


Скачать книгу

Gottes willen, was ist denn da los?« Unbemerkt von Bronstein war die Hausbesorgerin in die Wohnung gekommen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Wissen Sie, ob es im Haus einen Arzt gibt?«, schrie Bronstein mehrmals, da es eine Weile dauerte, bis sich die Frau wieder gefangen hatte. Endlich nickte sie. »Einen Stock drüber!«

      »Dann holen Sie ihn, und zwar schnell.«

      Doch der Arzt hatte nicht mehr viel zu tun. Er sah Bronstein traurig an und schüttelte den Kopf.

      »Tja, gnä’ Frau«, sagte Bronstein fast ein wenig bedauernd, »dann werden wir Sie wohl mitnehmen müssen.«

      VI.

      Bronstein war untröstlich, dem Fräulein Doleschal nun kein Autogramm Grozavescus überreichen zu können. Vielleicht verfolgte er darum umso mehr den Fall, auch wenn er nicht an der Befragung der Frau Grozavescu beteiligt gewesen war. Drei Monate nach der Tat war formell Mordanklage gegen sie erhoben worden, einen guten Monat später begann der Prozess. Da Bronstein ohnehin nichts Besseres zu tun hatte, nahm er sich zum Zwecke der Fortbildung, wie er es nannte, eine kleine Auszeit von der Büroarbeit und setzte sich in den Schwurgerichtssaal.

      Doch was er dort zu hören bekam, erstaunte ihn doch einigermaßen. In den Medien war der Fall schon abgeurteilt gewesen, selbst seine eheliche Untreue hatte man dem Sänger angesichts der Furienhaftigkeit seiner Gattin nachgesehen. Für kein Blatt Wiens war eine andere als die Höchststrafe für den kaltblütigen Mord an einer großen Künstlerseele denkbar.

      Die Grozavescu erklärte rundweg, keine Reue oder Schuldgefühle zu empfinden, sie habe sich nur, durch das Verhalten ihres Gatten bis zum Äußersten gereizt, zur Wehr gesetzt, weshalb sie sich auch nicht für schuldig im Sinne der Anklage bekennen könne. Diese Verteidigung schien nicht nur Bronstein absurd. Auch das übrige Publikum gab deutliche Zeichen des Unmuts von sich, das durch sämtliche Zeugenaussagen nur noch bekräftigt wurde. Kein einziger Zeuge ließ auch nur ein gutes Haar an der Mörderin.

      »Na ja«, sagte Bronstein, als er am nächsten Tag doch wieder im Amt erschien, »die kriegt den Frack, das ist sicher. Die mag niemand, alle beschreiben ihn als Helden und sie als kranke Hysterikerin mit ausgeprägtem Hang zur Erinnye. Das wird lebenslang am Felsen, wirst sehen.«

      Allerdings entnahm Bronstein in den folgenden Tagen den Zeitungen doch merkwürdige Meldungen über den Prozessverlauf. So schien es mit einem Mal, als hätte die Grozavescu doch Grund zur Eifersucht gehabt, da sie ihr Mann mit einer Frau Stransky betrogen zu haben schien. Außerdem war die Grozavescu schon einmal verheiratet gewesen, mit einem Major, von dem offenbar auch die Tatwaffe stammte. Bronstein wurde wieder neugierig. Welche Rolle spielte der in diesem Drama?

      Und so begab sich Bronstein doch noch einmal ins Gericht, um die Plädoyers der Anwälte zu hören. Der Staatsanwalt malte den Schrecken und die Verderblichkeit der Tat noch einmal in den düstersten Farben aus, um dann an die Laienrichter zu appellieren: »Meine Herren Geschworenen! Am Abend des 14. Februar 1927 sang Traian Grozavescu den Rigoletto. Er ahnte nicht, dass die Arie ›La donna è mobile‹ – ›Ach, wie so trügerisch sind Frauenherzen, mögen sie klagen, mögen sie scherzen …‹ sein Schwanenlied war! Nelly Grozavescu hat getötet, weil sie töten wollte! Denn als Grozavescu sie nicht nach Berlin mitnehmen wollte, hatte sie erkannt, dass dies das Ende ihrer Herrschaft über ihren Mann war! Der Mann, der bisher ein fügsamer Sklave war, hatte einen Rest von Männlichkeit in sich entdeckt. Wenn auch nur ein Funke der heiligen Flamme in Ihnen glüht, die man die Gerechtigkeit nennt, dann müssen Sie mit dem Wahrspruch herauskommen: Nelly Grozavescu, du bist schuldig und du sollst deine Tat sühnen!«

      Der Verteidiger sah die Dinge freilich gänzlich anders. Er plädierte auf geistige Verwirrung seiner Mandantin, und das schien auch die einzige Möglichkeit, wie er sie noch vor der Höchststrafe retten konnte. Seine Rede war dabei so rührselig, dass Bronstein sich lange nicht entscheiden konnte, ob er nun lachen oder doch lieber weinen sollte. Er wurde von Ausdrücken wie »unglückselig«, »arm« und »tragisch« nur so bombardiert, dass er sich am Ende fragte, ob die Grozavescu nicht tatsächlich bloß ein verwirrtes Opfer der Umstände war. Er erinnerte sich an den Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte, und war erstmals froh, nicht über sie urteilen zu müssen.

      Die Geschworenen waren sich erstaunlich rasch einig. Sie fällten einen Freispruch wegen vorübergehender Verwirrung der Sinne. Bronstein war schon bereit, sich für die Frau, die als freier Mensch das Gericht verlassen konnte, trotz allem zu freuen, als er erstarrte. Die Grozavescu stand auf, lächelte klaren Sinnes und fiel in die Arme eines Mannes, in dem Bronstein deren ersten Gatten erkannte. Arm in Arm mit dem Major entschwand sie glückselig aus dem Gebäude. »Na«, schnalzte Bronstein in die Richtung der Laienrichter, »die hat euch ja schön geleimt.«

      VII.

      Eigentlich war sein frisch erwachter Eifer für die Oper durch diese Ereignisse jäh wieder abgekühlt. Doch als er Ende Juni im Café ›Herrenhof‹ seine ›Wiener Zeitung‹ las, wurde er plötzlich von einem jungen Feschak aus seiner Lektüre aufgeschreckt. Mit sanfter Tenorstimme fragte der Mann, ob die auf Bronsteins Tisch liegende ›Sportwoche‹ schon frei sei. Der Major sah dem Jüngling in die ausdrucksstarken Augen und war sich sicher, das Gesicht zu kennen. »Entschuldigen der Herr«, begann er daher, »sind Sie nicht der Herr Kiepura?« Der so Angesprochene lächelte. »Ich fürchte, das lässt sich nicht leugnen.«

      »Dann, Herr Kiepura, kann ich Ihnen zweierlei sagen. Erstens, die ›Sportwoche‹ ist frei, zweitens, ich gebe sie nicht so einfach her.« Dabei grinste er. »Das kostet Sie etwas, Herr Kiepura.« Nun war der Pole doch erstaunt. Er wollte wohl eben darauf verweisen, dass die Zeitungen in einem Kaffeehaus für alle Gäste frei benützbar waren, als Bronstein nachsetzte: »Ein Autogramm, wenn ich bitten dürfte.«

      Kiepura nahm den letzten Satz mit spürbarer Erleichterung zur Kenntnis. »Wenn’s weiter nichts ist …«

      »Es ist weiter nichts. Und können S’ bitte schreiben: Für Anna Doleschal mit besten Grüßen oder so …«

      Letztes Mittagmahl

      Dieses Zittern! Diese Nervosität! Diese unerträgliche Angst! Wann hörte das alles endlich auf? Konnte er dem allen nicht Herr werden? War er denn kein Mann? Hunderttausenden war es wie ihm ergangen, und die suhlten sich auch nicht tagein tagaus in ihren vermeintlichen Wehwehchen! Vor allem: Er saß hier, er war gesund, hatte keine Gliedmaßen verloren und war, zumindest theoretisch, voll einsatzfähig.

      Weshalb wachte er dann Nacht für Nacht von Albträumen geplagt auf? Er war 33 Jahre alt, da durfte man doch erwarten, dass er sich nicht mehr fürchtete wie ein kleines Kind. Schon gar nicht, wenn die Gefahr längst vorbei war!

      Bronstein zündete sich eine Zigarette an und trank den trüben Eichelkaffee ohne jeden Zusatz. Zucker gab es schon lange keinen mehr, und die Milchfrau war am Vortag nicht mehr in ihrem Geschäft gewesen. Warum, so fragte sich Bronstein, während er den Rauch ausblies, musste er immer wieder an Tarnow-Gorlice denken? Eine Woche hatte dieses grauenvolle Schlachten gedauert, und am Ende waren fast 100.000 Soldaten der eigenen Seite und ebenso viele Feinde tot oder verwundet am Schlachtfeld geblieben. Und er, Bronstein, musste sich eingestehen, niemals in seinem Leben hätte er sich so etwas Schreckliches auch nur vorzustellen vermocht.

      Mit einer Infanteriedivision der 4. Armee war er als Oberleutnant nach Kleinpolen beordert worden. Dort hatten sie als Erstes erfahren, dass die deutschen Waffenbrüder, namentlich die Generale Mackensen und von Seeckt, den Oberbefehl hatten, was in der Mannschaft sofort für Unruhe sorgte. Bronstein war am ersten Tag mehr damit beschäftigt gewesen, den Leuten zu erklären, dass es egal sei, wer das Oberkommando innehabe, als dass er Zeit für eine Überprüfung der Ausrüstung gefunden hätte. Die einfachen Soldaten hatten es damals schon besser gewusst. Er erinnerte sich an einen böhmischen Lackl, der ihm unverfroren gesagt hatte: »Nichts für ungut, Herr Oberleutnant, aber die Piefke haben da das Kommando, weil sie euch Österreichern nichts mehr zutrauen.« Damals hatte Bronstein den Mann angebrüllt, er solle gefälligst die Disziplin wahren, doch heute blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Tschechen beizupflichten. Die Deutschen trauten