warum denn das, mein Sohn?«
»Der sitzt da satt und selbstzufrieden in einem der besten Hotels des Kontinents, und keine 500 Kilometer von hier sterben die Menschen vollkommen sinnlos wie die Fliegen.«
»Bedrückt dich das immer noch so, mein Sohn?«, fragte der alte Bronstein ernsthaft besorgt.
»Wie soll es denn nicht? Die Zahl der Toten geht mittlerweile in die Millionen, und die, die es in der Hand hätten, dieses gnadenlose Gemetzel endlich zu beenden, sitzen da und völlern.«
»Mein lieber David, jetzt tust du ihm aber Unrecht, dem Herrn Grafen! Was hätte er denn tun sollen vor zwei Jahren? Die Ermordung unseres geliebten Erzherzog-Thronfolgers einfach so zur Kenntnis nehmen? Die Monarchie musste auf diesen feigen Anschlag reagieren! Und dass uns der Russe in den Rücken fällt, das war ja nicht vorherzusehen.«
»Mit Verlaub, Papa, genau das musste vorhergesehen werden. Jeder, der auch nur oberflächlich die politischen Entwicklungen verfolgte, wusste, dass die Serben mit den Russen verbündet sind. Und die wiederum mit dem Franzmann und dem Tommy. Also war vollkommen klar, dass diese Auseinandersetzung kein Spaziergang werden würde. Und außerdem, wenn du mir die Bemerkung gestattest, es ist immer leicht, andere in den Krieg zu schicken.«
Der Vater verzog das Gesicht. »Der Graf ist fast 60. Soll der sich noch in den Sattel schwingen, oder wie?«
»Nein, natürlich nicht. Ich meine nur, dass eine Schlacht sich eben ganz anders ausnimmt als eine Parade über die Ringstraße. Glaub mir, Papa, ich habe das damals auch gesehen im Sommer ’14, als alle gejubelt haben, als die Soldaten Blumen an den Bajonetten trugen, als es hieß, man sei Weihnachten wieder zurück. Viele waren schon viel früher zurück. Aber im Leichensack.«
Der Vater seufzte. »So jung, und schon so verbittert.«
»Ich bitte dich, Papa, das hat nichts mit Verbitterung zu tun. Viel eher mit ehrlicher Empörung. Wie kann man so gemütlich dasitzen, wenn der Tod von Hunderttausenden auf einem lastet?«
Das Auftragen der Suppe unterbrach die Debatte für eine kleine Weile. Beide aßen schweigend ihre Vorspeise. Und während der junge Bronstein seine Suppe schlürfte, fiel sein Blick auf eine schüchterne Person, die eben den Saal betrat. Wäre der Mann nicht so jung gewesen, Bronstein hätte geglaubt, der Chef der Sozialdemokraten habe sich ebenfalls in dieses Etablissement begeben. Doch gleich danach fiel Bronstein ein, dass dieser ja einen Sohn namens Friedrich hatte, der seinem Vater Victor zum Verwechseln ähnlich sah. »Schau, Papa, der junge Adler ist auch da«, sagte er daher zwischen zwei Löffeln Suppe und bewegte dabei sein Kinn in die Richtung des Genannten.
»Nun ja, die Sozialdemokratie weiß halt auch, was gut ist«, zuckte der Vater nur mit den Schultern. Bronstein sah dem alten Herrn deutlich an, dass ihn die Diskussion verärgert hatte, und so beschloss er, nicht mehr auf das Thema zurückzukommen. Während die Teller abserviert wurden, fragte er daher, wie es denn der Frau Mama gehe.
»Na ja, du kennst sie ja. Sie macht sich immer und überall Sorgen. Wenn ich einmal huste, dann will sie schon den Doktor holen. Und deinetwegen löchert sie mich ja auch in einer Tour!«
»Meinetwegen?«
Der Vater machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ob der Bub eh genug einheizt, jetzt, wo’s wieder kalt wird. Und dass er ja auf sich schaut und was G’scheites isst. Sie war es ja eigentlich, die g’sagt hat, wir sollen da hergehen, damit du ja was Ordentliches zwischen die Zähne kriegst.«
Unweigerlich musste Bronstein schmunzeln. Ja, das passte zu seiner Mutter. Er war halt doch ihr ein und alles. Für den Sprössling nur das Beste! Mit einigem Befremden erinnerte er sich daran, dass sie ihm anno ’14 einen ganzen Koffer mit Kleidung hatte mitgeben wollen, als er an die Front abreiste. Er musste sie damals inständig bitten, ihn nicht vor den Männern zu blamieren, und deutlich hatte er ihr die Enttäuschung angesehen, als er die Übernahme des Koffers verweigerte, nach dessen Inhalt er sich im Winter ’14 auf ’15 nicht nur einmal gesehnt hatte!
Ich wette, solche Probleme hat der Herr Ministerpräsident nicht, dachte er sich, während der Vater von irgendeinem Treffen mit alten Freunden berichtete. Die Worte drangen aber nur wie aus weiter Ferne an Bronsteins Ohr, denn er war völlig fasziniert von dem Bild, das sich ihm bot. Er, Bronstein, saß da und fixierte den Regierungschef, während, genau spiegelverkehrt, auf der anderen Seite des Raumes der junge Adler saß, der, ja, den Regierungschef fixierte. Dieser wiederum schlürfte seinen Kognak und schien von der Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, rein gar nichts zu ahnen.
Rundum erhoben sich mehr und mehr Gäste, die offensichtlich ihr Mahl beendet hatten. Kein Wunder, es war ja auch bereits nach zwei Uhr. Allein dem Ministerpräsidenten hatten sich noch zwei ältere Herren hinzugesellt, wobei es der alte Bronstein mit Wohlgefallen registrierte, dass ihn einer der beiden durch ein Kopfnicken grüßte. »Das ist der alte Aehrenthal«, belehrte der Vater den Sohn, »der Cousin vom Herrn Außenminister a.D., den kenn ich noch von der gemeinsamen Zeit im Ministerium.«
Es war offensichtlich, dass die beiden Herren etwas mit dem Ministerpräsidenten zu besprechen hatten, denn sie bestellten nur Wein, aber keine Mahlzeit. Auch die beiden Bronsteins waren mittlerweile mit dem Hauptgang fertig, sodass Ruhe in der Räumlichkeit einkehrte. Die beiden Bronsteins rauchten, die drei Politiker diskutierten leise, und der versonnene Adler nippte an einem Mineralwasserglas.
Irgendetwas hatte Bronstein irritiert. Mit einem Mal saß der junge Adler so krumm am Tisch, als laste alle Not der Welt auf seinen Schultern. Doch das war es nicht, was Bronstein neugierig machte. Es schien, als blitze etwas unter dem Tischtuch hervor. Hantierte der junge Mann wie ein Schuljunge unter der Bank mit einem Gegenstand?
Ach, wahrscheinlich war es nur das Portemonnaie gewesen, denn jetzt erhob sich Adler und ging wohl, um seine Rechnung beim Zahlkellner zu begleichen.
Aber halt! Der Mann ging in die falsche Richtung. Statt dem Ausgang strebte er dem Tisch Stürgkhs zu. Nun gut, immerhin waren beide Politiker. Vielleicht gab es etwas über alle Parteigrenzen hinweg zu besprechen oder auch nur einen Termin für ein diesbezügliches Treffen zu vereinbaren. Bronstein wollte sich schon wieder von der Szene abwenden und die Unterhaltung mit dem Vater wieder aufgreifen, als er plötzlich sah, wie Adler in seine Sakkotasche griff, etwas Metallenes daraus hervorbeförderte und den Arm in Richtung des Ministerpräsidenten ausstreckte.
Der Vater erschrak halb zu Tode, als der Sohn abrupt von seinem Sessel aufsprang. Dieser hatte jene Reaktion gesetzt, als ihm bewusst geworden war, dass Adler eine Waffe in Händen hielt. Er wollte selbst zu seiner Dienstpistole greifen, doch wie so oft in seinem Leben führte er selbige gar nicht mit sich, was ihn innerlich einen Fluch ausstoßen ließ. Dann blieb ihm nichts anderes übrig, als einen Warnruf auszustoßen. Doch der ging bereits im Lärm, der nun durch den gesamten Saal tönte, unter.
Adler war bis auf wenige Zentimeter an Stürgkh herangekommen und feuerte ohne weiteres Zögern drei Mal auf den Regierungschef, noch ehe Bronstein auch nur einen einzigen Schritt in die Nähe des Tisches hatte machen können. Deutlich sah Bronstein, wie der Kopf des Mannes getroffen wurde. Bronsteins Schrei war verstummt, sein Mund blieb offen, und sein ganzer Körper wirkte wie eine Statue. Nun drehte sich auch sein Vater, so schnell er es eben vermochte, um. Beide sahen mit schreckgeweiteten Augen, wie der Leib des Grafen langsam den Sessel abwärtsrutschte. Adler betrachtete noch einmal den hinscheidenden Mann und strebte dann dem Ausgang zu. »Aufhalten! Den muss man aufhalten«, stammelte Bronsteins Vater automatisch. Während er diese Worte hervorstieß, schien sich der alte Mann darauf zu besinnen, dass sein Sohn Polizist war, und so wendete er seinen Kopf abermals und sah seinen Junior auffordernd an.
Dieser versuchte nun auch endlich, sich selbst in Bewegung zu setzen. Adler hatte die Tür bereits fast erreicht, als er von Aehrenthal und dem zweiten Mann eingeholt wurde. Ein wildes Handgemenge entstand. Gerade als Bronstein die Gruppe erreichte und sich mit seiner Kokarde entsprechende Autorität verschaffen wollte, krachte ein weiterer Schuss, der sich wohl im Gefolge des Ringens der Männer gelöst hatte. Bronstein duckte sich und meinte, die Kugel sei haarscharf an ihm vorbeigeflogen. Dann jedoch erkannte er, dass Aehrenthal stöhnend zu Boden ging. Anscheinend hatte der Schuss ihn getroffen.