IV.
Als Bronstein am nächsten Morgen den Weg zum Büro einschlug, musste er immer noch an die Doleschal denken. Sie hatte zwar mehr von Grozavescu geschwärmt, doch vielleicht lag gerade darin eine Möglichkeit, ihr eine Gefälligkeit zu erweisen. Aus alter Routine heraus wusste er, dass Opernsänger am Vormittag immer Probe hatten, und so beschloss er kurzerhand, den Rumänen abzufangen und ihn um ein Autogramm für das Fräulein Doleschal zu bitten. Üblicherweise waren diese Künstler doch allesamt eitle Gesellen, sodass sie sich stets geschmeichelt fühlten, wenn man sie bat, ihren Namenszug irgendwohin zu setzen. Mit diesem Präsent gedachte Bronstein sodann, sich in die Registratur zu begeben. Ihm gefiel sein Plan ausnehmend gut, und so sagte er Pokorny, er solle die Stellung halten, denn er, Bronstein, habe eine Besorgung zu erledigen.
Für einen Polizisten war es eine Leichtigkeit, in den Künstlerbereich vorzudringen. Sicher, objektiv beging er Amtsmissbrauch, als er am Eingang die Kokarde hob und erklärte, er müsse Grozavescu sprechen, doch derartige kleine Manöver fielen schlimmstenfalls unter »Kavaliersdelikt«. Jedenfalls verfehlte seine Legitimation nicht die erhoffte Wirkung. Der Portier griff umgehend zum Telefon und schickte sich an, Bronstein zu melden. Dann aber folgten ein ernstes Gesicht und ein längeres Schweigen. Der Portier legte auf und richtete seinen Blick auf den Major. »Der Herr Grozavescu ist heute entgegen seinen Gepflogenheiten nicht bei der Probe erschienen.«
»Mein Gott, es wird doch nicht am Ende etwas Ernstes sein?«
»Mit Verlaub, Herr Inspektor, das glaube ich nicht. Der Herr Grozavescu hat ein Gastspiel in Berlin, und soviel ich gehört habe, reist er heute Abend dorthin ab. Vielleicht ist er also einfach zu Hause geblieben, um zu packen.«
Bronstein bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen. Dann folgte er einer spontanen Eingebung. »Und zu Hause wäre dann wo?«
»Aber Herr Inspektor. Das darf ich Ihnen doch gar nicht sagen.«
»Ich bin die Polizei. Mir dürfen Sie nicht alles sagen, mir müssen Sie alles sagen«, versuchte es Bronstein mit einem gerüttelt Maß an Autorität. Dabei starrte er den Portier mit zusammengekniffenen Augen an, sodass dieser tatsächlich zu transpirieren begann.
»Lerchenfelder Straße 62«, sagte er knapp.
»Na bitte«, schnalzte Bronstein mit der Zunge, »geht doch.«
Mit federndem Schritt legte er die wenigen Meter zur Zweierlinie zurück, auf welcher er dann zügig bis zur Lerchenfelder Straße marschierte. Dort angekommen bog er links ab und hielt nun auf den Gürtel zu. Gute zehn Minuten später hatte er das Haus erreicht, in dem der Sänger wohnte. Er öffnete das Portal, warf wieder einmal einen Blick auf das Parteienverzeichnis und suchte sodann die entsprechende Wohnung auf.
Zu diesem Zeitpunkt kamen ihm erstmals Zweifel über sein Tun. Konnte er, ein kleiner Kieberer, einfach so einen großen Künstler zu Hause überfallen, um diesen um eine persönliche Gefälligkeit zu bitten? Doch, so fand er, wo er schon so weit gegangen war – buchstäblich –, sollte er die Sache auch zu Ende bringen. Er atmete tief durch und klopfte dann an.
Eine erstaunt dreinblickende Frau öffnete ihm. Er beschloss, sich mit seiner Dienstmarke zu legitimieren, um nicht als gewöhnlicher Verehrer dazustehen, und fragte dann, ob der Hausherr zugegen sei. Dies schien die Frau nur noch mehr zu verwirren. »Aber der ist doch in der Oper …«, kam es schleppend aus ihrem Munde.
Bronstein wollte bereits dazu ansetzen, der Frau auseinanderzusetzen, dass er eben von dort komme, den Künstler jedoch nicht angetroffen habe. Doch irgendetwas riet ihm, den Satz ungesagt zu lassen. Wenn Grozavescu seiner Frau erklärt habe, er gehe in die Oper, dies dann aber unterlassen hatte, so gab es dafür wohl Gründe, die ihn, Bronstein, nun einmal gar nichts angingen. Es war schon dreist genug, einen Opernsänger zu Hause aufzusuchen, um ein Autogramm von ihm zu erhalten, hernach aber auch noch eine Ehekrise zu provozieren, überspannte fraglos jeden Bogen. »Ach so«, meinte er daher, »richtig. Natürlich. Na dann frag ich einmal dort nach.«
Er schickte sich an zu gehen, doch die Frau hielt ihn zurück. »Ist leicht was mit ihm? Sagen Sie es mir. Bitte! Treibt er sich mit einer anderen herum?« Na bitte, die Ehekrise war schon da. »Nein nein, Gnädigste. Es handelt sich um eine reine Routineangelegenheit, die Ihren Herrn Gatten nur als Auskunftsperson betrifft.«
Bronstein war direkt stolz auf seine Formulierung. Ganz streng genommen war die Aussage nicht einmal gelogen. Bevor er sich jedoch endgültig in Widersprüche verhedderte, war es besser, das Weite zu suchen. Er empfahl sich und ging auf direktem Wege zurück ins Amt. Die Doleschal musste vorerst auf ihr Autogramm warten, entschied Bronstein, was ihr umso leichter fallen mochte, als sie ja nicht wusste, dass sich Bronstein um ein solches bemüht hatte.
V.
Doch irgendwie kam er von der Vorstellung, Doleschal just den authentischen Schriftzug des Rumänen zu besorgen, nicht los. Bis zur Mittagspause und auch noch danach saß er an seinem Schreibtisch und starrte dieselbe Berichtsseite an, ohne deren Inhalt in sich aufnehmen zu können. Er blickte auf die Uhr. Es ging auf zwei zu. Wenn er jetzt losmarschierte, so dachte er, könnte er Grozavescu beim Packen überraschen, ihm das Autogramm abluchsen und im Amt zurücksein, bevor die Doleschal Dienstschluss hatte.
Gesagt, getan. »Pokorny, ich muss noch einmal weg. Ich weiß nicht, wann ich zurück bin. Halt die Stellung, ja!« Der Alte nickte nur, setzte dann zu einer Replik an, die Bronstein durch ein rasches Schließen der Zimmertür unterband. Diesmal lief er den Ring in entgegengesetzter Richtung entlang, ehe er beim Parlament rechts abbog. Erneut verschaffte er sich Zugang zu Grozavescus Wohnhaus, vermied diesmal aber, sich bemerkbar zu machen, sondern lauschte erst einmal an der Tür, ob er Stimmen vernahm. Doch drinnen war alles ruhig. Der Sänger befand sich also noch nicht wieder in den eigenen vier Wänden. Bronstein verließ das Haus und setzte sich in das benachbarte Café, von wo aus er einen direkten Blick auf das Haustor hatte. Egal, von welcher Seite Grozavescu kam – und dass er kommen musste, schien ja angesichts der geplanten Berlin-Reise außer Zweifel zu stehen –, Bronstein würde ihn sehen und ihm danach folgen können.
Zwei Schalen Gold und sieben Zigaretten später wurde Bronstein aus seinem Grübeln gerissen. Deutlich und unverkennbar schritt der Orpheusjünger die Straße herauf und verschwand Augenblicke später in seinem Haustor. Bronstein zahlte eilig, überquerte die Fahrbahn und heftete sich an Grozavescus Fersen. Kurz überlegte er, den Rumänen noch im Stiegenhaus anzusprechen, doch dieser Plan wurde vom Sänger vereitelt, der seine Wohnung zu schnell für Bronstein erreicht hatte, der nun abermals vor der verschlossenen Tür stand. Und neuerlich lauschte.
Was drang da für ein merkwürdiger Lärm an sein Ohr? Spitze, schrille Schreie der Dame des Hauses! Doch sie klangen nicht verängstigt. Nein, viel eher vorwurfsvoll. Keine Frage, die Dame war tatsächlich eifersüchtig! Bronstein konnte nicht verstehen, was genau gesagt wurde, doch es bestand kein Zweifel daran, dass die Gattin dem Ehemann bittere Vorhaltungen machte und der sich rechtfertigte.
Streitereien in den eigenen vier Wänden waren die denkbar schlechteste Voraussetzung, jemandem ein Autogramm zu entlocken. Bronstein seufzte kurz und drehte sich um. Zumindest vorerst musste das Fräulein Doleschal auf die kostbare Signatur verzichten. Nun ja, ein andermal vielleicht, tröstete sich Bronstein und setzte sich in Bewegung. Er war am Treppenabsatz angelangt, als er einen lauten Knall hörte. Er war zu erfahren, um sich einreden zu können, da sei irgendwo eine Tür zugefallen oder eine Fehlzündung eines Motors erfolgt. Nein, das war eindeutig ein Schuss gewesen! Und seine Erkenntnis wurde durch ein dumpfes Geräusch verstärkt. Der Körper eines getroffenen Menschen, der zu Boden gefallen war.
Ohne zu zögern, eilte er zurück zur Wohnungstür. Die wurde auch schon aufgerissen, und die Ehefrau stand mit irrem Blick vor ihm. Überraschenderweise erkannte sie in ihm sofort den Polizisten vom Vormittag. »Verurteilen Sie mich, ich habe ihn erschossen«, sagte sie tonlos.
Bronstein drängte die Frau zurück in die Wohnung und eilte, sie am Arm festhaltend, in den Salon. Dort lag Grozavescu mit seltsam überraschtem Gesichtsausdruck am Perserteppich, der sich immer mehr mit Blut vollsaugte. Die Frau immer