Andreas Pittler

Wiener Bagage


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2. Mai 1915, hatten sie die deutschen Offiziere kurz nach sechs Uhr morgens aus den Schützengräben gejagt. Er hatte sich dabei ertappt, wie er an jenen dummen Witz des Schriftstellers Roda Roda denken musste, worin denn der Unterschied zwischen einem ungarischen und einem österreichischen Frontoffizier bestehe. Ersterer rufe »mir nach«, Letzterer »vorwärts«. An diesem Tag wollte Bronstein ein Ungar sein. Er rief lautstark »mir nach« und sprang nach dem Pfeifton aus dem Graben. Geduckt lief er durch das völlig zerfurchte Terrain, das von Geschützfeuer, Maschinengewehrgarben und Minenwerfern bis zur Unkenntlichkeit umgepflügt worden war. Seine 60 Mann folgten ihm in kurzem Abstand. Er hätte es nicht für möglich gehalten, eine Distanz von drei Kilometern im Sprint zurückzulegen, doch nackte Todesangst spornte einen anscheinend zu ungeahnten Höchstleistungen an. Links und rechts pfiffen Kugeln an seinem Helm vorbei, und er war so außer sich, dass er nicht einmal mehr daran zu denken vermochte, eine der Kugeln könnte ihn treffen.

      Als sie den Stacheldrahtverhau des gegnerischen Schützengrabens erreicht hatten, bot sich ihm ein Bild der Apokalypse. Leichen über Leichen türmten sich da, in der schwarzen Erde versickerten Ströme von Blut. Hier lagen Gedärme, dort Augäpfel, wiederum dort ein abgetrennter Arm oder ein abgerissenes Bein. Dazu ein pestilenzartiger Gestank, der die ohnehin schon vorhandene Übelkeit nur noch verstärkte. Sein Gehirn gebot ihm, den Draht zu überwinden und in den Schützengraben zu springen. Doch er sah nur diese unbeschreibliche Verwüstung und sich selbst vollkommen bewegungsunfähig.

      Erst Wochen später, als er halbwegs wieder auf dem Damm war, erfuhr er im Lazarett vom Ausgang der Schlacht. Lemberg war durch den grandiosen Sieg zurückerobert worden, hieß es, und er, so beschied man ihm, habe unendliches Glück gehabt, dass die Kugel, die ihn am Kamm getroffen hatte, die Schlagader um einen Zentimeter verfehlte. Denn sonst, so lautete das ärztliche Urteil, wäre er dort binnen weniger Augenblicke verblutet. So aber sei er spätestens im Juli wieder voll einsatzfähig. Welch ein Trost!

      Und dabei war Tarnow-Gorlice noch gar nicht das Schlimmste gewesen! Der Gasangriff vor einem halben Jahr war es, der für seine Albträume verantwortlich war. Denn immer noch wachte er schweißgebadet mit der fixen Vorstellung auf, er sei gerade im Giftgas erstickt. Er zündete sich eine neue Zigarette an, die er mit fahrigen Bewegungen zum Mund führte. Wie lange, so fragte er sich, konnte man mit dieser beständigen Angst leben? Würde er ihr irgendwann einmal nachgeben? Nach außen hin war es ihm bisher gelungen, die Fassade aufrechtzuerhalten, doch tief in ihm nagte die fortwährende Furcht, die ihn bei der kleinsten unvorhergesehenen Entwicklung schier in Panik ausbrechen ließ.

      Mit nicht geringer Erleichterung stellte er fest, dass Samstag war. Wenigstens musste er an diesem Tag nur bis zur Mittagsstunde im Amt ausharren. Danach freilich war ein Lunch mit dem Herrn Papa angesetzt, der sich, wie Bronstein nur zu gut wusste, um den Sprössling ernstlich sorgte. Ihm gegenüber konnte er sich also schwerlich offenbaren, und dies umso weniger, als der Vater sich redlich Mühe gab, dem Sohn wieder in ruhigere Fahrwasser zu verhelfen. So hatte Bronstein senior extra einen Tisch im Hotel ›Meissl & Schadn‹ reserviert, wo es, zumindest nach der Meinung von Karl Kraus, dem Herausgeber der ›Fackel‹, das beste Ochsenbeinfleisch des gesamten Planeten gab. Ein solch lukullisches Mahl durfte man also kaum durch banales Wehklagen über die eigene Befindlichkeit entweihen. Es galt vielmehr, die Zähne zusammenzubeißen und ein ›keine besonderen Vorkommnisse‹ zu rapportieren.

      Erfreut stellte er wenig später fest, dass die Straßenbahn klaglos funktionierte und ihn direkt zur Universität fuhr. Der Oktoberwind blies ihm scharf ins Gesicht, als er den Ring abwärts marschierte, sodass ihn fröstelte, als er seine Amtsstube betrat. Er befeuerte den Kanonenofen, rieb sich die Hände und setzte sich dann endlich an seinen Schreibtisch. Stumm blickte er das Porträt Kaiser Franz Josephs an, wie um damit zu signalisieren, dass er nun mit seiner Arbeit beginne.

      Im Nachhinein hätte er selbst nicht mehr zu sagen vermocht, wie es ihm gelungen war, die vier Stunden zu überstehen, doch diese Frage zählte nicht angesichts des kleinen Erfolgs, den er über sich selbst und seine Angst errungen hatte. Er durchquerte flotten Schrittes die Schottengasse, hielt dann auf den Graben zu und erreichte so, um einiges zu früh, wie er feststellte, den Neuen Markt. Da er nicht im Freien auf den Vater warten wollte, zog er sich in das Café des Hotels zurück, wo er einen kleinen Braunen und einen Trebernen orderte, sich von Letzterem ein wenig mehr Ruhe und Sicherheit erhoffend.

      Er stellte fest, dass er schon zu viele Zigaretten für diese Zeit des Tages geraucht hatte, und so erwarb er beim Kellner eine weitere Packung, dabei inständig hoffend, der Herr Papa würde für das Mittagmahl aufkommen, da seine pekuniäre Lage sonst allzu prekär geworden wäre.

      Wie aufs Stichwort erschien die gebeugte Gestalt des alten Bronstein in der Lobby und sah sich mit wachen Augen um. Nahezu im selben Augenblick erspähte er den Sohn, und ein schmales Lächeln zeigte sich auf dem zerfurchten Antlitz. Jener aber überwand behände die Entfernung zwischen ihnen und schüttelte dem Vater freudig die Hand. »Ich freu mich, Papa, dass wir uns endlich wieder einmal sehen.«

      »Und ich erst, mein Junge. Du glaubst ja gar nicht, wie fad es ist, wenn man immer nur Zeitung liest und Briefmarkenalben abstaubt. Da tut es gut, wenn man einmal aus der Wieden herauskommt.«

      Die beiden wandten sich an einen Pikkolo, und Bron­stein senior verwies auf die von ihm vorgenommene Reservierung. Der Bedienstete sah in einem großen Buch nach, nickte dann und sah die Bronsteins dienstbeflissen an. »Jawohl, die Herrschaften, das wär’ dann im ersten Stock. Die Bedienung dort wird Sie an Ihren Tisch führen.« Die Bronsteins machten sich an den Anstieg und befanden sich eine gute Minute später an der Tür zum großen Speisesaal des Hotels.

      Ein Kellner mit weißem Sakko verbeugte sich vor ihnen. »Wenn die gnädigen Herrschaften mir zu folgen belieben.« Dabei machte er eine einladende Geste mit der rechten Hand. Bronstein senior übernahm das Nicken und die Vorhut. Bronstein junior folgte ihm auf dem Fuß. Eigentlich achtete er nur auf das Jackett seines Vaters, und doch entging ihm im Augenwinkel nicht der kahle Schädel mit den kalten Augen, der genau in der Mitte des Saales mit der Einnahme einer Mahlzeit beschäftigt war. Er konnte nicht umhin, seinen Vater anzustupsen und aus bereits sicherer Entfernung einen leichten Wink mit dem Kopf in die Richtung des Bartträgers zu machen. Des Vaters Blick folgte der imaginären Linie, dann zuckte er mit den Schultern. »Der Herr Ministerpräsident«, stellte er leise fest, »der isst jeden Tag hier. Das ist doch kein Geheimnis.«

      Der junge Bronstein war nun seit fast zehn Jahren im Staatsdienst, aber Ministerpräsident Graf Stürgkh hatte er noch nie leibhaftig erblickt. So sieht der also aus, der Schinder, dachte er, behielt diesen Gedankengang aber für sich. Schon waren sie an ihrem Tisch angelangt, der sich etwa fünf Meter von jenem des Regierungschefs entfernt befand. Der Kellner rückte den beiden die Stühle zurecht, unmittelbar danach überreichte er ihnen die Menü-Karte. »Der Hirsch wär’ heute besonders zu empfehlen«, flötete er, »mit viel Saft und echten Semmelknödeln.« Bronstein senior beugte sich zum Sohn hinüber und flüsterte: »Wenn er das echt bei den Semmelknödeln so betont, dann heißt das wahrscheinlich, dass der Hirsch nicht echt ist.« Der Sohn gluckste. »Ja, sicher ein armes Karnickel, das posthum befördert wurde.«

      Nach einer kleinen Weile entschieden sich beide für eine Leberknödelsuppe, als Hauptgang wählte der Vater Tafelspitz, während sich der Sohn, wohl aus einer Laune heraus, tatsächlich den Hirsch bestellte. Dazu orderten sie eine Karaffe Tafelwein und Wasser. Nachdem die Bestellung abgegeben war, zündete sich der Vater eine Virginier an, während sich der Sohn an seine Zigaretten hielt.

      Der Vater begann daraufhin die Konversation mit der Frage, was denn das Verbrechen mache, doch irgendwie vermochte sich Bronstein nicht darauf zu konzentrieren, dem Vater die schuldige Aufmerksamkeit zu schenken. Immer wieder wanderte sein Blick zum Tisch des Ministerpräsidenten, der mit sichtlichem Genuss speiste. Der Mann war kein Trottel, sonst hätte er sich nicht seit fünf Jahren in einem Amt gehalten, dessen Träger üblicherweise schneller aus Selbigem schieden, als man die Visitenkarten mit ihrem Namen drucken konnte. Also musste Stürgkh ganz genau wissen, dass exakt in dieser Minute, als er sich an seinem Mahl erfreute, wieder Zigtausende Männer aus allen Teilen der Monarchie irgendwo an der Front ihren letzten Seufzer taten. Doch das focht den Herrn Ministerpräsidenten sichtlich nicht an.

      »Entschuldige,