Peter Gerdes

Langeooger Dampfer


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die Viererbande von der Bahnhofsbank, ob vollzählig oder nur zu dritt oder zu zweit, die Inselurlauber ins Visier und ließ kein gutes Haar an ihnen. Das hieß aber nicht, dass nicht auch alteingesessene Insulaner ihr Fett abbekamen. Und natürlich die Mitglieder der Viererbande selbst. Keinen Augenblick durfte man die Deckung sinken lassen! Genau das war dem alten Klaas nun passiert, und man sah ihm an, dass er auf Rache sann.

      Dazu kam er aber nicht. Eine vierte Person ließ sich auf die Bank plumpsen, nahm den Platz des abwesenden Ocko Onken ein.

      »Watt!«, ließ Reershemius den Anschnauzer heraus, der eigentlich für Bengen gedacht gewesen war. Dann jedoch stutzte er. »Watt denn – Kante? Mann! Sieht man sich auch mal wieder!«

      Der Neuankömmling grinste und nickte in die Runde. Er war jung, sicher noch keine 30 Jahre alt, seine kurz gestutzten Haare waren ebenso blond wie sein dichter Vollbart, sein Mund war breit und seine Nase kräftig, die schmalen blauen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Breite Schultern krönten einen durchtrainierten, trapezförmigen Oberkörper. Die kräftigen Oberarme, die aus einem rot-weiß geringelten T-Shirt ragten, waren tätowiert, links ein Herz mit Anker, rechts ein martialischer Adler. Die ganze Erscheinung dieses Mannes schrie »Seemann!«. Das machte ihn – rein äußerlich – zum perfekten Ersatz für den abwesenden Ocko Onken. Nur eben deutlich weniger als halb so alt.

      »Well is dat?«, krächzte Harm Bengen und ruckelte an den Glasbausteinen seiner Brille.

      »Das ist Karl Antes«, wiederholte Klaas Reershemius förmlich. »Alle nennen ihn Kante. Wir beide haben drüben in Leer die ›Prinz Heinrich‹ wieder fit gemacht. Ehemaliges Seebäderschiff, wunderschönes Ding! Perfekt restauriert. Wie neu!«

      »Ihr beide?« Bengen wackelte mit dem Kopf, stärker als gewöhnlich. »Wie soll das angehen? Da glaub ich kein Wort von!«

      Der Neuankömmling lachte. »Natürlich nicht wir zwei alleine«, korrigierte er. »Außer Klaas und mir waren viele weitere Ehrenamtliche beteiligt. Meist Rentner. Ich selber konnte zuerst gar nicht so viel helfen, wie ich wollte. War ja noch Schüler und hatte nur in den Ferien Zeit.«

      »Bei uns Alten hat er mehr gelernt als in der dösigen Schule«, behauptete Klaas Reershemius. »Weil wir ja noch wissen, wie man alles selber macht! Die Mechaniker und Techniker heutzutage, die können ja nur noch Ersatzteile aus dem Regal nehmen. Nach Nummern! Und die bauen sie dann da ein, wo der Computer es ihnen sagt.«

      Karl Antes lachte, Bengen und Schmidt jedoch nickten ernsthaft und beifällig. Sie besaßen ein fest gefügtes Weltbild, und was Reershemius da eben von sich gegeben hatte, war kein Witz, sondern Teil ihres Glaubensbekenntnisses.

      »Damals bin ich ans Festland rübergefahren, so oft es ging«, erinnerte sich Reershemius versonnen. »Hat meiner Frau gar nicht gepasst, weil sich die Arbeiten so lange hingezogen haben. Wie viele Jahre waren das noch, zehn? Oder zwölf?«

      Kante zuckte mit den breiten Schultern: »Keine Ahnung. Als ich eingestiegen bin, war die Sache schon länger am Laufen.«

      »Wenn zwölf Jahre man reichen!«, krächzte Harm Bengen dazwischen. »Ging doch allerhand schief dabei, oder? Hab ich jedenfalls so gehört. Zog sich hin wie beim Berliner Flughafen! Irgendwann hieß der Dampfer nur noch Prinz Peinlich.«

      »Ja, bei Klaas war das genauso!«, dröhnte Bodo Schmidt, der es ebenfalls nicht ertragen konnte, wenn andere im Mittelpunkt standen. »Da haben zwölf Jahre auch nicht gereicht zum Restaurieren! Und guck dir bloß das Ergebnis an. Das nenne ich peinlich!«

      Reershemius schüttelte ärgerlich den Kopf. »Hör nicht auf die Döspaddel, Kante«, knurrte. »Erzähl mal lieber, wie ist es dir ergangen? Bist du Schweißer geworden? Das hattest du jedenfalls vor, das weiß ich. Schweißer auf der Leiner-Werft, große Schiffe bauen.«

      »Schweißer ja, aber nicht auf der Werft.« Antes grinste breit. »Ich bin quasi die Stammbesatzung der ›Prinz Heinrich‹! Bin Decksmann und verantwortlich für alles, was so anfällt. Ist ja immer noch ein alter Dampfer, auch wenn er aussieht wie geleckt.«

      »Klingt eher nach Hausmeister als nach Seemann«, meckerte Bengen. Aber er tat es leise, und die anderen überhörten ihn geflissentlich.

      Im nächsten Moment stand der vermisste Ocko Onken vor der Viererbank, die Wangen hektisch gerötet, die Brust pumpend, die Bartkrause zerzaust. Verwirrt schaute er auf seinen Platz auf der Bank und auf den jungen Mann, der ihn einnahm. Seine Lippen bewegten sich stumm.

      »Wat is, Ocko?«, schnarrte Harm Bengen. »Du kiekst so vergrellt. Is een dood bleeven?« Er lachte meckernd. Und verstummte abrupt.

      »Jo«, keuchte Onken. »Ein Toter. Ermordet.«

      Alle stöhnten auf, Bodo Schmidt am lautesten. Dann rief er: »Schon wieder?«

      5.

      Lüppo Buss hatte kaum den Telefonhörer aus der Hand gelegt, als sich die Tür öffnete. Er wusste, wer da kam, und wappnete sich. Aber dann schaffte er es doch nicht, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten.

      »Stahnke! Na, nichts los in Leer, dass sie dir schon wieder Erholung an der Seeluft verordnet haben?«

      »Moin.« Der massige Mann schob sich in das Polizeibüro An der Kaapdüne, blickte sich um und verzog den Mund. »Hier könntet ihr auch mal streichen«, brummte er. »Wenn ihr schon sonst nichts zu tun habt.« Er griff nach dem Besucherstuhl und schlenzte ihn dichter vor den Schreibtisch mit der auf Hochglanz polierten Platte. »Und Tee gibt es wohl auch nicht mehr.« Ächzend ließ sich der Hauptkommissar auf den Stuhl sinken. Der ächzte zurück.

      »Tee, ja?« Lüppo Buss schmunzelte. »Ich wusste doch, dass du nicht zum Arbeiten hier bist.«

      »Ganz im Gegenteil. Tee gehört zum Arbeitsmodus. Ich bin Ostfriese, und Ostfriesen laufen auf Tee. Tagsüber jedenfalls.« Jetzt grinste auch Stahnke: »Solltest du doch wissen, alter Inselsheriff.«

      Lüppo Buss’ Drehstuhl hatte Rollen, so musste er sich nur kurz mit dem Fuß abstoßen, schon hatte er den kleinen Aktenschrank, der als Anrichte diente, in Reichweite. Der Wasserkocher war gefüllt, er musste nur die Taste drücken. Alles andere war ebenfalls vorbereitet.

      Lüppo Buss war glücklich. Und das nicht etwa aus Vorfreude auf den Tee. Es war ihm richtig peinlich, aber als ihm die vorgesetzte Dienststelle vorhin mitgeteilt hatte, dass weder Aurich noch Wittmund ein Team entbehren konnten und man deshalb die Inspektion Leer/Emden um Amtshilfe gebeten hatte, da war es ihm warm den Rücken hinuntergelaufen. Hoffentlich Stahnke, hatte er gedacht, so inständig wie ein Kind vor Weihnachten. Und die Bescherung war gekommen.

      »Bis das Wasser kocht, kannst du mich ja auf Stand bringen«, brummelte der breite, stoppelköpfige Mann auf der anderen Seite des Tisches. »Was habt ihr bis jetzt?«

      »Robin Seefeld, 23 Jahre, engagierter Umweltschützer, Grüner, als Student in Oldenburg eingeschrieben. Sammelt Strandgut, produziert und verkauft Kunstobjekte. Überwiegend online.« Der Inselpolizist fasste zusammen. Das konnte er gut. Noch ehe der Wasserkocher zu summen und zu brodeln begann, war er mit seinem Abriss fertig.

      »Beim Spülfeld also«, wiederholte Stahnke, was Lüppo Buss zum Fundort der Leiche referiert hatte. »Gefährliches Geläuf. Wer da nicht aufpasst, versinkt wie in Treibsand. Unfall ausgeschlossen?«

      »Ja, allerdings. Hundertprozentig.« Der Oberkommissar goss das sprudelnd heiße Wasser über die Teeblätter in der bauchigen Kanne und stellte das Teesieb bereit. Beuteltee kam für ihn natürlich nicht in Frage. Kluntjes fielen klingelnd in die Porzellanbecher.

      »Weil?«

      Lüppo Buss setzte die Kanne heftiger als beabsichtigt auf das Stövchen; es schepperte, der Kannendeckel klirrte. Dann ließ er seinen Drehstuhl herumschwingen, bis er seinem Gegenüber direkt in die wasserblauen Augen schauen konnte. »Weil«, sagte er, »der Tote gefesselt war. Kabelbinder. Weil er eine Reihe von Verletzungen aufwies, alle prämortal. Weil er Würgemale am Hals hatte. Und weil …« Der Oberkommissar unterbrach sich; sein Husten klang unecht.

      »Würgemale?