Stahnkes Blick kreuzte den von Dr. Mergner. Der Mediziner deutete erneut auf sein Smartphone. »Wenn man Langeoog plus Wohnwagen googelt, bekommt man Bensersiel angezeigt«, sagte er. »Da steht jede Menge von den Dingern, keine 40 Fährminuten von hier entfernt.«
»Jeder Einzelne davon mit Chemietoilette«, ergänzte Stahnke. »Da kommt eine Menge von dem Zeug zusammen.« Er schob seine Teetasse weiter von sich weg.
»Und was schwebt dir jetzt vor? Rüberfahren und Proben nehmen? Von jeder verdammten Klokassette in Bensersiel? Um dann Gentests machen zu lassen und die Resultate mit dem Mageninhalt des Toten zu vergleichen?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Also ehrlich! Ich weiß noch nicht einmal, ob das überhaupt möglich ist.«
»Ach, das ginge durchaus«, erklärte Dr. Mergner. »Zunächst müsste gesichert festgestellt werden, inwieweit der Chemiecocktail die Struktur des enthaltenen Genmaterials womöglich verändert. Was wiederum abhängig von Menge und Verweildauer im Mischungsverhältnis sein dürfte. Das ist echtes Neuland, damit kämen wir in die einschlägige Fachliteratur!« Der Mediziner lächelte beseelt: »Und was den Umfang solch einer Maßnahme angeht, die Unmengen von Arbeitsstunden für Polizei und Labore und die damit verbundenen Kosten – damit kämen wir todsicher in die Zeitung!«
»Die Zeitung!« Lüppo Buss sprang auf, so plötzlich, dass Stahnke, der zu einer Erwiderung angesetzt hatte, das Wort im Halse stecken blieb. »Na klar, die Meldung in der Zeitung! Hab ich doch selbst dorthin geschickt. Jetzt fällt es mir wieder ein.«
»Was?«, stieß Stahnke hervor.
Der Inselpolizist schaute auf seine Armbanduhr. »Wenn wir uns beeilen, schaffen wir die Inselbahn zur Fähre noch. Infos bekommst du unterwegs. Herr Doktor, Sie halten die Stellung! In ein paar Stunden sind wir zurück.«
Dr. Mergner bekam den Mund erst wieder zu, als die Tür längst hinter den beiden Kommissaren ins Schloss gefallen war. Er stemmte die Fäuste in die mageren Hüften und schüttelte missbilligend den Kopf. Dann aber stahl sich ein spitzbübisches Lächeln auf seine dünnen Lippen. »Hilfssheriff wollte ich immer schon mal sein«, murmelte er vor sich hin. »Aber einen Sheriffstern hätte er mir wenigstens dalassen können!«
6.
»Himmel nochmal, nun guck dir den an!« Bea Wulf stand breitbeinig vor dem Schaukasten mit Veranstaltungsankündigungen der Kurverwaltung. »Das ist doch mal was! Wird dir da nicht auch gleich ganz anders, wenn du den siehst?«
»Kann ich dir nicht sagen. Dazu müsste ich ihn ja erstmal sehen können.« Sina Gersema drängelte ihre Freundin etwas beiseite, um einen Blick auf das ausgehängte Plakat werfen zu können. Was nicht gerade leicht war, denn Bea Wulf war deutlich größer und breiter als sie; ihre walkürenhafte Weiblichkeit war raumgreifend und gewichtig.
Das Plakat zeigte fünf Kerle. Fünf nackte Kerle. Nackte Kerle in Seestiefeln. Und mit Matrosenmützen auf dem Kopf.
Sina zwinkerte. Nackte Männer in einem Schaukasten der Langeooger Kurverwaltung? Nicht möglich! Nicht einmal als Plakat. Das konnte doch nur ein schlechter Traum sein. Sie musste sich mal kneifen.
»Aua! He, was soll das?« Bea schubste ihre Hand weg, ganz leicht nur, aber Sina geriet dennoch ins Taumeln. »Wieso kneifst du mich?«
»Ach, äh, ich … aber hör mal: Fünf nackte Männer?«
»Mein Gott, Sinchen! Was bist du denn auf einmal so prüde? Das sind doch die ›Steamboat-Boys‹, diese Männer-Strip-Truppe, die demnächst im ›Haus der Insel‹ auftritt! Im Rahmen der 1. Langeooger Dampfer-Tage! Sowas ist doch schon lange kein Skandal mehr, die treten sogar im Fernsehen auf. Und außerdem – die sind ja nur fast nackt. Da, guck! Die entscheidenden Stellen sind bedeckt.«
Jetzt bemerkte auch Sina die knappen Tangaslips. Hautfarben, aha, war ja kein Wunder, dass man erst dachte … Außerdem betonten die Dinger eher, als dass sie etwas verbargen, fand sie.
»Sind doch bestimmt ausgestopft!« Bea knuffte Sina in die Seite; wieder hob es sie fast aus den Schuhen. »Muss auch. Solche Muskelberge züchtet man doch nicht ohne Steroide! Tja, und was an der einen Stelle schwillt, das schrumpft an der anderen. Die Götter geben und die Götter nehmen, so ist das nun mal.«
»Götter, sagst du? Na, das weiß ich nicht.« Unbemerkt war eine dritte Frau zu ihnen gestoßen. Eine ältere Frau, hochgewachsen und hager. Sina kannte sie gut.
»Moin, Gertrud! So hat Bea das nicht gemeint mit den Göttern«, erwiderte Sina. »Obwohl – also früher … Ich meine, diese nordischen Götter … sieht man ja jetzt viel im Kino, in diesen Actionfilmen. Da besteht schon eine gewisse Ähnlichkeit, finde ich.«
Gertrud Reershemius zog die dünnen Augenbrauen hoch. »Also, wenn das eine Anspielung sein soll, dann muss ich dich korrigieren: Auch in meiner Jugendzeit war Ostfriesland bereits christianisiert. Soo alt bin ich nun auch wieder nicht.«
»Oh, äh, Entschuldigung, das wollte ich nicht …« Sina schoss das Blut in die Wangen.
Bea Wulf lachte als Erste los, Gertrud Reershemius stimmte ein. »Ach, Sina, du liebes Schäfchen!«, dröhnte die Walküre. »Dich kann man immer so leicht auf die Rolle nehmen! Vergiss niemals, mit wem Gertrud verheiratet ist. Bei der musst du immer mit allem rechnen, genau wie bei ihrem Kerl.«
Jetzt lachte auch Sina mit, ein bisschen beschämt, aber vor allem erleichtert.
Gertrud hatte inzwischen ihre Lesebrille gezückt, die sie sonst nur trug, wenn sie die Etiketten ihrer Gläser mit selbstgekochter Sanddornmarmelade prüfte. »Mädels, guckt euch bloß mal diese Bauchmuskeln an«, rief sie. »Die sind doch nachgeschminkt, ganz klar! Wetten, die sehen später auf der Bühne nicht halb so definiert aus?«
Bea beugte sich vor. »Respekt, Gertrud!«, dröhnte sie. »Was du alles siehst! Dir macht keiner was vor. Aber wenn schon, wir helfen doch alle ein bisschen nach, oder?« Jetzt knuffte sie Gertrud, und Sina bekam Angst um die dünne alte Frau. Aber die hielt deutlich mehr aus als erwartet.
»Klingt ja so, als würdest du dir das tatsächlich ansehen wollen«, fuhr Bea Wulf fort. »Hätte ich gar nicht von dir gedacht. Was sagt denn dein Klaas dazu? Und teuer sind die Karten auch, Donnerschlag, weiß gar nicht, ob ich mir das leisten kann.« Die Wirtin des Restaurants »Veggie-Paradies« machte kein Geheimnis daraus, dass ihr Lokal alles andere als eine Goldgrube war.
»Klaas soll bloß seinen Rand halten, der glotzt doch nach jeder Touristen-Mieze, dass ihm die Augen rausquellen«, schimpfte Gertrud. Versöhnlicher fuhr sie fort: »Das Geld hab ich übrig, die Touristen sind richtig wild auf meine Marmelade. Komm doch mit, Mädel, ich lad dich ein! Und dich auch, Sina.«
»Ach, danke, aber ich weiß noch gar nicht, ob …«
Weiter kam Sina nicht, denn Bea schnitt ihr das Wort ab. »Aber sagt mal, wieso sind das denn nur fünf Kerle auf dem Plakat? Ich dachte, die wären zu sechst. Da fehlt doch einer.«
»Ja, allerdings«, bestätigte Gertrud Reershemius. »Und zwar ausgerechnet Marco Heidergott. Der, den alle Langeooger unbedingt tanzen sehen wollen. Natürlich vor allem wir Mädels, klar. Aber es gibt auch ein paar vom anderen Ufer, die wären da spitz drauf gewesen. Schade, dass sie nicht reinkommen werden. Guck, hier steht es: Nur für Frauen.«
»Marco Heidergott?« Bea schnappte nach Luft. »Doch nicht etwa der Sohn von Renko? Einer von hier?«
»Ja, genau, der Sohn deines Kochkollegen und ehemaligen Konkurrenten«, bestätigte Gertrud Reershemius. »Marco, der wilde Bengel, der seinem Vater nichts als Ärger bereitet hat. Ist ja auch nicht leicht, solch einen Jungen ohne Mutter großzuziehen. Und dann geht der los, zieht in die weite Welt und wird berühmt. Nicht zu glauben!«
»Ist ja schön, dass er so berühmt sein soll – aber warum ist er dann nicht mit auf dem Plakat?« Bea verschränkte die Arme, so gut ihre Oberweite das eben zuließ. »Ist er sich etwa zu gut dafür, uns auf seiner Heimatinsel etwas vorzutanzen? Mit so gut wie nix am Mors?«
Sina öffnete schon den Mund,