»Nee, er hat sich verletzt«, sagte stattdessen Gertrud Reershemius. »Soll ein Unfall gewesen sein. Wie schlimm, weiß ich nicht, aber auf jeden Fall kann er nicht mit auftreten. Und überhaupt in nächster Zeit nicht, heißt es. Muss wohl was Ernsteres gewesen sein.«
»Ach, das ist ja schade«, sagte Bea; ihr Bedauern klang echt. »Den Marco hätte ich doch zu gerne nackig auf der Bühne herumhampeln sehen.«
»Ach, wirklich? Ist der Kleine nicht ein bisschen grün für dich? Du holst dir doch deine Männer sonst nicht aus dem Kindergarten!« Gertrud lachte derart schamlos, dass Sina stellvertretend gleich rot anlief.
»Nee, deswegen doch nicht!« Schallend stimmte Bea in das Gelächter ein. »Nee, wegen Renko, seinem Papa, dem alten Fischbräter! Dem wär es doch hochnotpeinlich, wenn sein Sohn sich zum nackten Affen machen würde! Auch wenn er seinen Laden letztes Jahr verkauft hat und jetzt in Esens wohnt. Die Peinlichkeit wäre auch bis dorthin gedrungen.«
Was für eine Hassliebe zwischen diesen beiden Gastronomen, dachte Sina, so verschieden und dabei doch so ähnlich. Und vielleicht hätte sie das auch ausgesprochen, wenn nicht im selben Moment ein Hubschrauber im Tiefflug über sie hinweg gedonnert wäre, dass ihr buchstäblich Hören und Sehen verging. Unwillkürlich duckte sie sich; die beiden anderen Frauen rissen schützend die Arme über die Köpfe.
»Der kurvt schon den halben Tag herum«, schimpfte Bea, sobald sie sich verständlich machen konnte. »Was ist da bloß los? Ein Krankentransport wird das ja nicht schon wieder sein. Und der würde auch nicht so bescheuert fliegen.«
Eine Gruppe Touristen stürmte an ihnen vorbei, die Augen geradeaus gerichtet, Handys in Bereitschaft. Einer der jüngeren Männer rempelte Gertrud Reershemius an. »He, pass doch auf, du blinde Bitch!«, pöbelte er und holte aus, als wollte er nach der alten Frau schlagen. Als er bemerkte, wie Bea ihre Fäuste ballte, ließ er das bleiben und eilte den anderen hinterher.
»Die rennen zum Strand«, sagte Bea. »Irgendwas ist da passiert. Bestimmt nichts Gutes.«
Eine junge Frau lief an ihnen vorbei. Sina drückte sich dichter an den Schaukasten, weil sie glaubte, es handele sich um eine Nachzüglerin der Pöblertruppe. Mit ihrer langen schwarzen Hose und dem rot-weiß geringelten T-Shirt wirkte sie jedoch geschäftsmäßig, nicht wie eine Touristin. Dann bemerkte Sina das verzerrte Gesicht und die verheulten Augen. Schlimm sah das aus, vor allem das verlaufene Make-up. Oder hatte die Frau ein blaues Auge? Schon war sie vorbei. Hinten auf ihrem T-Shirt prangte die Aufschrift »Prinz Heinrich«.
»Ich glaube, wir müssen uns dringend umhören«, konstatierte Bea und stapfte los, den Passanten hinterher. Gertrud Reershemius war ihr ein paar Schritte voraus. Sina eilte den beiden nach.
7.
Die Pressekonferenz im »Haus der Insel« fand Marian wenig ergiebig. Jedenfalls, was den Informationstransfer anging; er hatte nichts erfahren, das er nicht bereits gewusst hätte. Manches war bestätigt worden, aber längst nicht alles. Was nicht weiter tragisch war, denn für die morgige Ausgabe hatte er mehr als genügend Stoff.
Als eigenständiges Event dagegen gab die PK weitaus mehr her. Dieses Getümmel von Festlandkollegen jeder Couleur, die sich gegenseitig zu überschreien versuchten, dieses Gerangel von Fotografen und Kameraleuten, die um die besten Plätze rivalisierten! Trittleitern verschiedenster Längen kamen zum Einsatz. Einige trugen noch die Preisschilder der örtlichen Läden. Darüber ließe sich bestens schreiben, fand Marian. Eine bunte Geschichte, eine Art Sittengemälde – eines, auf dem die besseren Sitten durch Abwesenheit glänzten.
Aber das war etwas für die kommenden Tage. Jetzt ging es um das Aktuelle, um die Fakten und deren Einordnung. Mit der ihm eigenen Akribie hackte Marian den neuen Aufmacher in die Tasten, konzipierte dazu einen Infokasten und einen Extrabericht mit Stimmen von Augenzeugen und bedeutsameren Persönlichkeiten. Wie man das halt so machte. Gelernt war eben gelernt. Die Stimmen lieferte ihm überwiegend Ocko Onken, der ein Talent dafür hatte, Leute zum Reden zu bringen. Oder zum Schwätzen, dachte Marian, während ihm der alte Onken ein Bündel Notizen nach dem anderen neben die Tastatur legte, begleitet von Erläuterungen, die die bekritzelten Zettel fast überflüssig machten. Augenzeugen und Persönlichkeiten, repetierte Marian bei sich. Von wegen! Gaffer und Wichtigtuer waren das, nichts anderes. Aber was half es, solcherlei Anreicherungen wurden eben verlangt. »Namen sind Nachrichten, Menschen sind per se interessant«, lautete das gültige Journalismusprinzip. Schon als Volontär hatte Marian sich dagegen aufgelehnt: »Interessant sind doch nur interessante Menschen!« An die Abfuhr, die ihm das eingebracht hatte, erinnerte er sich heute noch.
Irgendwann war es geschafft, der letzte Artikel getippt, auf Zeile gekürzt und Korrektur gelesen, das letzte Foto elektronisch beschnitten und eingepasst, die letzte seiner Seiten fertig gebaut. Noch ein letzter Blick. Und noch ein allerletzter, damit es nicht wieder einen Abschuss gab. Dann klickte er auf »send«. So, das war’s. Für heute jedenfalls. Morgen begann wieder alles von vorn.
Und jetzt? Draußen war es noch einigermaßen hell, und Marian war hellwach. Was tun? Mit ein paar Bieren Helligkeit und Wachheit dimmen? Oder mit ein paar Gläsern Wein? Das tat er in letzter Zeit häufig. Oder vielleicht bei Sina anklingeln? Bisschen zusammensetzen, vielleicht etwas essen, von alten Zeiten erzählen? Immerhin hatten sie mal gemeinsam die Redakteursausbildung im selben Zeitungsverlag absolviert. Und noch mehr hatten sie zusammen gemacht, viel mehr. Aber nein, Stahnke war auf der Insel. Marian hatte ihn bei der Pressekonferenz gesehen, in Aktion, wortkarg und ruppig wie immer. Was fand Sina bloß an diesem Klotz? Warum hatte sie ihn seinerzeit in die Wüste geschickt, nur um sich an diesen Kerl zu hängen, der so viel älter war als sie beide? Sie beide, die doch so viel besser zusammenpassten. Marian schloss die Augen und atmete tief durch. Solche Gedanken hatte er sich doch verboten! Mit dem Erfolg, dass Sina ihn immerhin als Freund akzeptierte und wieder an sich heranließ. Auf Armeslänge sozusagen. »Lass uns doch Freunde bleiben«, hatte sie nie gesagt. Aber nerven lassen würde sie sich nicht von ihm, das stand felsenfest.
Er schloss die Redaktion hinter sich ab und stieg die knarrende Treppe hinunter. Das mit den Bierchen war bestimmt nicht die schlechteste Idee. Aber vorher ein bisschen Bewegung, um Dampf abzulassen. War sowieso besser, denn mit dem Alkohol würde der Hunger kommen, und er fühlte sich mal wieder etwas zu schwer. Spazieren? Nein, lieber das Fahrrad. Das lag ihm mehr, und er liebte den Fahrtwind im Gesicht. Sein Trekkingrad liebte er auch. Es war extrem leichtgängig, durch die beiden Hörner seitlich am Lenker auch auf längeren Strecken sehr bequem und durch die Schaltung mit 21 Gängen sowohl ergonomisch als auch flott. Mancher hatte ihm schon »Elektrospinner« nachgerufen, wenn er ihn mit viel Speed überholt hatte. Dabei hatte das Rad gar keinen Elektroantrieb.
Wenn er so darüber nachdachte, dann waren die unfreundlichen Kommentare in letzter Zeit häufiger geworden. Und die Wortwahl deftiger. Pöbeln lag offenbar im Trend, selbst hier auf Langeoog, wo die meisten Menschen im Urlaub waren und eigentlich entspannt sein sollten! Woher kam das eigentlich? War das die allgemeine Verrohung der Gesellschaft, von der man las?
Marian hörte auf zu treten, ließ sein Rad ausrollen und richtete sich im Sattel auf. Ganz schön weit war er in den letzten zehn Minuten gefahren; er befand sich irgendwo im Niemandsland zwischen Inselbahnhof und Hafen. Musste hier nicht der Golfplatz sein? Ach nein, da war ja der neue Reiterhof, wo man Großpferde und Ponys für Ausritte mieten konnte. Die Betreiber boten Kutschfahrten und andere Freizeitbeschäftigungen an, Lassowerfen und Bogenschießen zum Beispiel. Hatte erst letzte Woche in einer größeren Anzeige im »Inselboten« gestanden. Außerdem hatte er gehört, dass Landwirtschaftliches und Handwerkliches zum Angebot gehören sollten: Käseproduktion, Bier brauen, Holz- und Schmiedearbeiten und solche Dinge. Klang alles in allem nach einer Bereicherung der insularen Infrastruktur.
Zur Straße hin war das Hofgelände eingezäunt. Das breite Holztor der langen, schnurgeraden Einfahrt stand offen. Am Mast vor dem Wohn- und Stallgebäude flatterte eine Flagge. Die deutsche war das nicht. Die Grundfarbe sah nach Orange aus, darauf war ein schwarzer Kreis zu sehen mit etwas Geknicktem innen drin. Ein Ellbogen? Oder etwa ein Bumerang?
Ein Hund!
Nicht auf der Flagge,