bis sich das Sehnen-Öhrchen nach oben schieben und einhaken ließ. Fertig, schon konnte man … Apropos, wo hatte dieser Petersen eigentlich seine Pfeile? Am Gürtel, wo Marian immer seinen Köcher trug, baumelte bei ihm nichts.
Der Schwarzgekleidete tätschelte seinen Hund, beugte sich dabei leicht zur Seite. Aha, er trug einen Rückenköcher! Und zwar tief und eng, sodass die Pfeile hinter dem Oberkörper verborgen blieben. Die Haltegurte des Köchers waren ebenso schwarz wie Petersens T-Shirt.
Marian wandte sich Rasmus zu, hielt ihm den Handrücken hin; der Hund schnupperte neugierig, dann schlappte er darüber, ehe Marian zurückzucken konnte. Die Zunge war warm, weich und rau zugleich. Und natürlich nass.
Petersen lachte. »Na, jetzt habt ihr beide ja schon Freundschaft geschlossen! Da könnten Sie doch nächstens mal zum Schießen rüberkommen, oder? Oder darf ich Du sagen, Marian? Macht man doch so unter Sportkollegen.«
»Ja, aber klar, das ist nett.« Marian war ehrlich erfreut über die Einladung. Wäre schön, endlich mal wieder mit dem Bogen zu trainieren! Wär bestimmt auch gut für seinen gestressten Rücken und seine Haltung. »Wann wollen wir denn … ich meine, ich rufe am besten vorher an, oder?«
»Ja genau, mach das. Wir kommen bestimmt zusammen, terminlich. Die Nummer hast du ja, stand letztens in der Anzeige bei euch im Blatt.« Er zwinkerte Marian zu; offenbar war er bestens darüber informiert, wen er vor sich hatte.
Petersen musterte den Himmel, der nach und nach dämmerig wurde. »Ich hätte sonst gesagt, wir schießen gleich mal ein paar Passen mit meinem Bogen, aber das Büchsenlicht kommt uns abhanden. Also ein andermal.«
Marian verabschiedete sich, auch bei Rasmus, der ihm mit vollem Körpereinsatz nachwedelte. Unglaublich, wie schnell solch ein Tier sein Verhalten ändern konnte!
Langsam radelte er in Richtung Wasserturm. Jetzt noch ein Bierchen im »Dwarslooper«, dann war er endgültig reif fürs Bett. Trotz all der Aufregung, die der Tag gebracht hatte, würde er bestimmt gut schlafen.
Interessanter Mann, dieser Petersen, dachte Marian. Typ Waldläufer, aber auf eigenem Terrain. Und dass der auch noch Bogenschütze war! Vielleicht hatte er endlich eine verwandte Seele gefunden. Schöner Bogen, spannender Rückenköcher. Und diese Pfeile – irgendetwas an denen war ihm komisch vorgekommen. Ihm fiel ein, was. Es waren die Federn. Jeder Pfeil trug drei Federn an seinem Ende, gewöhnlich zwei gleichfarbige und eine in anderer Couleur, nämlich die Leitfeder. Damit man den Pfeil immer gleich richtig an der Sehne einnockte. Petersens Federn jedoch zeigten drei verschiedene Farben: Schwarz, weiß und rot. Merkwürdig. Aber auch nicht so wichtig, fand Marian und trat kräftiger in die Pedale.
8.
Inselbahn und Fähre waren nichts für Ungeduldige, das wusste Stahnke aus Erfahrung. Er war kein geduldiger Mensch. Gut, er konnte sich dazu zwingen, geduldig zu sein, wenn es sein musste. Das aber war eine rein rationale Angelegenheit. Von seinem Wesen her jedoch war er ein impulsiver Mensch. Tief in ihm drin brodelte ein Vulkan. Und der stand mal wieder kurz vor dem Ausbruch.
Noch in der Bahn hatte Lüppo Buss ihn aufgeklärt, worum es ihm ging und was ihn so eilig nach Bensersiel trieb. Während sie in der Schlange beim Abfertigungsgebäude darauf warteten, dass die Fähre sich endlich all der Urlaubermassen entledigt hatte und sie an Bord gehen konnten, hatte er ihm auf seinem Smartphone gezeigt, worauf er im Internet gestoßen war. Die Postings waren nur laienhaft anonymisiert. Stahnke hatte durch die Zähne gepfiffen: »Maik Schubert, aha. Mein lieber Mann, ganz schön heftig.« Der Inselpolizist hatte mit düsterer Miene genickt.
Die Fährtour zog sich dann hin, dass es körperlich schmerzte. Das erste Stück der Strecke ging ja noch; da ließ die dröhnende Maschine das Schiff vibrieren, da zerstampfte der Bug die Seegatt- und Wattenmeerwellen zu weißem Schaum und heller Gischt. Das gab ein gutes Gefühl, da kam man richtig voran.
Dann aber kam der Hafenschlauch. Das war das Stück der Fahrrinne, das zwischen Steindämmen verlief, damit das Fahrwasser nicht ständig vom nachdrängenden Schlick verstopft wurde. Je mehr die Flüsse vertieft wurden, um immer gewaltigere Containerriesen, Tanker und Kreuzfahrtschiffe aufzunehmen, desto mehr Schlick sammelte sich im Wattenmeer. Klar, dass man die Fahrrinnen davor schützen musste. Das Fahren in diesen Rinnen war nur in langsamem Tempo möglich. Und das zerrte gewaltig an den Nerven.
So richtig nervig jedoch wurde es, als sie endlich in Bensersiel angekommen waren und sich ausgeschifft hatten. Der Campingplatz war schnell gefunden – kein Problem, denn er war riesig. Was jedoch nicht zu finden war, war jemand, der ihnen die gewünschte Auskunft geben konnte. Wen immer sie auch zu fassen bekamen, kannte sich entweder nicht aus, hatte keinen Zugang zum Büro, kannte das Passwort für den PC nicht oder verstand schlicht kein Deutsch. Es war zum Verzweifeln. Vulkan Stahnke drohte jeden Moment auszubrechen.
Als sie endlich vor dem richtigen Wohnwagen standen, war schon der Abend angebrochen. Die Bewohner, nach denen sie gesucht hatten, waren anwesend. Und die des benachbarten Wohnmobils auch. Lauter junge Männer zwischen 25 und 30. Man hätte sie für Teile einer Fußballmannschaft halten können; was sich da unter den verblichenen Trikots wölbte, ließ jedoch eher auf Fußballfans schließen als auf Aktive. Ebenso die Tatsache, dass die zwei zusammengestellten Campingtische zur Abendbrotzeit mit vollen und leeren Bierdosen und Chips-Tüten bedeckt waren. Die Tischgespräche, laut und aggressiv geführt, verstummten augenblicklich, als die beiden Ermittler die Campingparzelle betraten. Kein Wunder, war Lüppo Buss doch wie stets in Uniform. Sechs Augenpaare starrten ihn und Stahnke an, die meisten blutunterlaufen.
»Guten Abend, die Herren«, grüßte der Inselpolizist betont korrekt. »Ich bin Oberkommissar Buss, das hier ist Hauptkommissar Stahnke. Wir würden gerne mit Herrn Schubert sprechen. Maik Schubert. Ich nehme an, das ist einer von Ihnen?«
Keine Antwort. Jedenfalls keine verbale. Dass sich Arme und Schultern anspannten, Augen zusammengekniffen und Unterkiefer vorgeschoben wurden, konnte durchaus als Antwort gewertet werden. Das Schweigen der Gruppe aber hielt an, und es wurde von Sekunde zu Sekunde bedrohlicher.
Was Lüppo Buss ganz betont ignorierte. Er zückte sein Smartphone und wischte kurz über das Display. »Maik Schubert, oder sollte ich sagen: MaityMaik?«, ergänzte er. »Ihr Profilbild zeigt zwar eindeutig eine Bulldogge, aber zum Glück haben Sie auch einige Partyfotos gepostet. Mit Begleittext. Demnach müssten Sie Maik Schubert sein, stimmt’s?« Er nickte dem jungen Mann zu, der ganz rechts saß, die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Fäuste gestemmt.
»Wer will das wissen?«, fragte der zurück. Seine Worte klangen verwaschen, was an seinem aufgestützten Kinn liegen mochte. Vielleicht auch an den leeren Bierdosen.
»Oberkommissar Buss und Hauptkommissar Stahnke. Wie schon erwähnt«, erwiderte der Inselpolizist freundlich lächelnd.
Oha, dachte Stahnke. Lüppo provozierte. Wenn das mal gut ging!
Ging es nicht. Der Angriff kam sogar schneller als erwartet, und er kam überraschenderweise von links. Einer der Burschen, die den Ermittlern zunächst den Rücken zugewandt und sich dann zu ihnen umgedreht hatten, katapultierte sich förmlich aus seinem Campingklappstuhl hoch. Für einen Sekundenbruchteil nahm Stahnke ein hassverzerrtes Gesicht und gefletschte Zähne wahr, dann folgte der Schlag. Eine mörderische Rechte, unmöglich abzublocken.
Jedenfalls für ihn. Der Schlag jedoch galt nicht Stahnke, sondern Lüppo Buss. Vielleicht auch dessen Uniform. Der Kopf des Inselpolizisten zuckte im letzten Moment nach rechts; der Hieb verfehlte Kinn und Nase, streifte jedoch sein linkes Ohr und brachte den Inselpolizisten aus der Balance. Vom eigenen Schwung vorwärts getrieben, rauschte der Körper seines Gegners auf ihn zu, bestimmt zwei Zentner Muskeln im Speckmantel. Keine Chance mehr auf einen Konterschlag, registrierte Stahnke. Lüppo Buss drohte der Infight. Gegen solch ein Viech von einem Gegner kam das einem Glücksspiel gleich. Der Inselpolizist aber war kein Spieler. Im letzten Augenblick fuhr sein Kopf nach vorn, seine Stirn traf das Nasenbein des Angreifers. Mit unterdrücktem Schmerzgeheul taumelte der zu Boden, beide Hände auf sein Gesicht gepresst. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor.
Die Reaktion der Tischrunde ließ nicht auf sich warten.