Manche Hunde, so hieß es, wollten ja nur spielen. Dieser Hund spielte eindeutig nicht. Marian hob den Hintern aus dem Sattel. Die Pedale fühlten sich plötzlich an wie einbetoniert, und es dauerte einen Moment, bis er auf die Idee kam herunterzuschalten. Einen kostbaren Moment. Die Bestie hatte fast das offene Gatter erreicht, das drohende Grollen klang lauter und lauter.
Echte Radprofis konnten während voller Fahrt unter der eigenen Achsel hindurch nach hinten schauen, um die Konkurrenz im Auge zu behalten; Marian wusste das von den Tour-de-France-Übertragungen im Fernsehen. Als er das jetzt selbst versuchte, hätte er sich um ein Haar auf die Nase gelegt. Ein Blick zurück gelang ihm trotzdem: Die Zähne dieser Töle waren lang und blendend weiß.
Marian hatte Fahrt aufgenommen, schaltete hoch. Und gleich noch einmal. Viel schneller ging es nicht mehr. Noch ein Blick, diesmal oben über die Schulter: Es würde nicht reichen. Der Hund kam immer näher, und er schien wild entschlossen, seinen Angriff zu Ende zu bringen.
Zu Ende? Zu welchem Ende?
Früher, als Schüler, hatte Marian mal morgens Zeitungen ausgetragen, mit seinem alten Fahrrad. Ein riesiger Hirtenhund war ihm bellend auf die Pelle gerückt; Marian hatte sein Rad als Schild benutzt und das tobende Tier so lange auf Distanz gehalten, bis der verschlafene Besitzer ein Fenster geöffnet und gepfiffen hatte. Ob er das wieder versuchen sollte? Aber dazu müsste er zunächst mal anhalten und absteigen, und in den paar Sekunden hätte er das Biest garantiert am Bein hängen. Oder am Hintern.
Was also tun? Nach dem Tier treten, sobald es nahe genug heran war? Mit dem Sommerschuh samt ungeschütztem Knöchel mitten hinein ins Labyrinth dieser blitzenden Hauer? Außerdem müsste er dazu aufhören zu treten und konnte ins Schlingern kommen, dann war er geliefert. Oder schlagen? Aber womit? Er hatte nichts dabei, nicht einmal einen Regenschirm. Höchstens die Luftpumpe unten am Rahmen. Nur war die aus Plastik und federleicht, darüber lachte diese Riesentöle doch nur! Aber irgendetwas musste er tun. Also bückte er sich und angelte nach dem Ding, ohne dabei aus dem Tritt zu kommen, was nicht leicht war, denn die Pumpe war nicht eingehakt, sondern mit Lochbändern angelascht. Als er sie endlich gelöst hatte, war der Hund neben seinem Hinterrad. Marian spürte, wie die Angst alles in ihm zusammenkrampfte. Andeuten, dachte er, erstmal nur andeuten. Vielleicht lässt sich das Tier erschrecken. Muss ja nur ein bisschen auf Distanz bleiben. Irgendwann sind wir an seinem Territorium vorbei, dann wird es aufhören, mich zu jagen. Allerdings ließ ein Blick auf den schier endlosen Zaun keine nahende Grundstücksgrenze erkennen. Also hob Marian die Plastikpumpe und fuchtelte damit nach hinten, vor der Nase des Hundes vorbei. Überraschenderweise traf seine Finte auf Widerstand. Der Hund jaulte kurz auf, dann wurde sein Grollen lauter.
Und wurde von einem schrillen Pfiff übertönt. »Rasmus!«, rief eine Männerstimme. »Rasmus, hierher!«
Der Hund gehorchte, ohne zu zögern, ließ von Marian ab und rannte auf den Zaun zu. Dort, in Fahrtrichtung, stand ein Mann. Grüßend nickte er Marian zu, während er das Tier mit knapper Geste zum Sitzen aufforderte. Wieder gehorchte der Hund augenblicklich.
Keine Sekunde zu früh, dachte Marian. Er fühlte sich am Ende seiner Kraft. Seine Beine hatten das Treten eingestellt, ohne auf seinen Entschluss zu warten; sie brannten und schmerzten. Das Fahrtmoment trug ihn dennoch an dem Mann am Zaun vorbei. Aus den Augenwinkeln nahm er dessen Bild in sich auf: schwarzes T-Shirt, knielange schwarze Hose, derbe hohe Schuhe. Dunkle Haare, seitlich raspelkurz gestutzt, hinten zu einem kurzen Zopf geflochten. Dichter dunkler Vollbart. Der Mann trug etwas Länglich-Schmales in der Hand, einen Wanderstab vielleicht.
Sollte Marian sich bei diesem Menschen bedanken? Immerhin hatte der ihn durch sein Eingreifen – na ja, wenn nicht gerettet, so doch vor Schaden bewahrt. Andererseits wäre sein Hund der Verursacher dieses Schadens gewesen und damit quasi er selbst. Also wofür bedanken? Aber doch wenigstens grüßen, dachte Marian und hob die freie Hand. Zu spät fiel ihm ein, dass er die Luftpumpe darin hielt.
Der schwarze Mann lachte. Es klang weder böse noch spöttisch, sondern einfach nur heiter.
Im selben Moment wurde Marian etwas klar. Er bremste scharf und hielt an, stemmte ein prickelndes Bein auf den Boden und schwang sein Fahrrad herum. Jetzt stand der Mann in seinem Blickfeld, schwarz gekleidet, den schwarzen Hund neben sich sitzend. Und in der Hand dieses Ding.
Marian stieß sich ab, ließ sein Rad dichter an den Zaun heranrollen. Der Hund zeigte seine scharfen Zähne, aber nur beim Hecheln. Es sah aus, als ob er lachte.
Der Mann am Zaun tat das wirklich. »Clever, das mit der Luftpumpe«, rief er. »Sowas schnallt ein Hund natürlich nicht, dass sich solch ein Ding beim Zuschlagen verlängert. Woher soll er das auch wissen? Also weicht er nicht aus, und zack! Schon bekommt er eins auf die Nase. So verschafft man sich Respekt, ohne dem Tier allzu sehr wehzutun. Was, Rasmus?« Er rubbelte den Hals des Hundes, der daraufhin so heftig mit dem Schwanz wedelte, als gelte es, die ganze Wiese stoppelkurz zu mähen.
»Godehau«, keuchte Marian, immer noch um Atem ringend. »Marian Godehau. Tut mir leid, wenn ich Ihren Hund …«
»Petersen«, unterbrach ihn der Mann. Er mochte Mitte 30 sein, vielleicht auch jünger; die Fältchen in seinem hageren, sonnenverbrannten Gesicht konnten täuschen. »Sven Petersen. Und Sie heißen also Godehau, ja? Ein sprechender Name, sehr interessant. Einer Ihrer Vorfahren war wohl ein angesehener Handwerker. Wissen Sie, was der gehauen hat? Holz oder Stein? Und was hat er hergestellt?«
Marian fühlte sich auf dem falschen Fuß erwischt. »Äh, nein, weiß ich nicht«, musste er zugeben. »Meine Mitschüler früher haben den Namen ganz anders interpretiert. Sie wollten immer, dass ich ihnen beweise, wie gut ich hauen kann.«
»Auch eine mögliche Erklärung.« Er grinste breit. Rasmus hechelte.
Marians Lächeln blieb schmal. Es ging diesen Petersen nichts an, dass er den Beweis guten Hauens schuldig geblieben war.
Lieber wollte er über das Ding reden, das der Schwarzgekleidete in der Hand hielt. »Ein Langbogen. Sie schießen? Auf diesem Gelände?«
»Ja, genau. Hier auf meinem Land.« Er hielt Marian den Langbogen hin; die Sehne war entspannt, weshalb der Bogen keine Krümmung aufwies und für einen unkundigen Betrachter wie eine Stange oder ein Stab aussah. Lediglich die Ledermanschette in der Mitte wies auf den wahren Verwendungszweck hin, ebenso wie die Kerben für die Sehne an beiden Enden.
»Sie sind auch Bogenschütze?«
»Ja, bin ich. Allerdings Recurve. Und ich bin schon ewig nicht mehr dazu gekommen.« Ehrfürchtig betrachtete er die geflochtenen Zierbänder ober- und unterhalb des Ledergriffs. Der Bogen selbst war etwa so lang wie sein Besitzer, vermutlich 1,80 Meter; er war völlig schlicht gehalten, das Holz war dunkel gescheckt, vermutlich mit einem kleinen Brenner geflämmt, und braun lasiert.
»Tja, das ist so eine Sache, wozu man kommt und wozu nicht. Ich sage immer, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.« Er wies hinter sich, quer über die Weide: »Hab mir meine eigene Strohscheibe aufgestellt, abseits der Schießbahn für Touristen, da kann ich trainieren, wann immer ich will.« Auf seinem ausgestreckten Unterarm zeichnete sich eine großflächige Tätowierung ab.
Marian konnte nicht erkennen, was sie darstellen sollte. Vielleicht war es auch nur ein Tribal, ein Muster aus einer anderen Kultur. Tja, dachte er, wenn man sein eigenes Land hat, dann ist der Weg vom Willen zur Zielscheibe natürlich nicht weit. Das behielt er aber für sich. Stattdessen nickte er anerkennend: »Haben Sie den Bogen selbst gebaut?«
»Ja«, sagte Petersen. »Aus Manau-Holz. War mein erster, da ist man mit Manau auf der sicheren Seite, das ist wie Rattan, hat keine Jahresringe. Das kann man bearbeiten, wie man will, ohne dass es bricht.« Spielerisch drehte er den Bogen in der Hand: »Inzwischen habe ich ganz andere Kaliber gebaut. Aber dem hier halte ich trotzdem die Treue.«
Jetzt erst entdeckte Marian die Sehne, ebenfalls geflochten, aus verschiedenfarbigen Strängen; auf der einen Seite war sie eingehakt, auf der anderen Seite mit der Schlaufe, Öhrchen genannt, über den verjüngten Bogenarm nach unten geschoben, sodass das Bogenholz entspannt und nahezu gerade war. Diese Technik hatte den Vorteil, dass solch ein Langbogen sekundenschnell schussbereit gemacht