A. F. Morland

5 Romane Auswahlband Ärzte und Schicksale Februar 2019


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nicht sprechen, aber ich werde es ihm beibringen – Guten Tag, Auf Wiedersehen, Pipsi ist brav, Schönes Wetter heute – und all solche Sachen.“

      „Er wird dir bestimmt viel Freude machen, dein gefiederter Freund.“

      „Davor hatte ich einen Goldhamster, aber der wurde nicht alt – nicht einmal zwei Jahre. Wir haben ihn in unserem Garten unter einer Tanne begraben.“

      „Pipsi wird mit Sicherheit länger leben“ , versicherte die junge Kinderärztin. „Ich kenne eine Frau, die hatte ihren Wellensittich zwölf Jahre.“

      Matthias staunte. „Zwölf Jahre.“

      Nicola Sperling nickte. „Hat die Frau gesagt.“

      „Zwölf Jahre. Jetzt bin ich fünf. Dann – dann bin ich …“

      „Siebzehn.“

      „Dann bin ich siebzehn. Das ist lang.“

      „Ja“, gab Nicola dem Kleinen schmunzelnd recht. „Das ist sehr lang.“ Sie strich ihm noch einmal sachte übers Haar, weil das so ein angenehmes Gefühl für sie war, und verließ das Krankenzimmer dann.

      Eine halbe Stunde später trat sie aus der Seeberg-Klinik. Der Himmel war bleigrau. Es war sehr schwül und sah nach Regen aus. Nicola stieg in ihren Wagen und fuhr zu Torben – und sie bemühte sich, nicht daran zu denken, wie ihr Stiefbruder und seine Braut in ihrem Heim gerade eben wieder hausten.

      Wenn die beiden draußen sind, muss ich mir tatsächlich eine andere Sanierung überlegen, dachte sie. Je näher sie der Adresse ihres zukünftigen Ehemannes kam, desto unruhiger wurde sie.

      Heute sage ich Torben alles, ging es ihr durch den Kopf. Von heute an verstecke ich Bruno nicht mehr. Ich kann nichts dafür, dass es Bruno gibt, kann nichts dafür, dass er ist, wie er ist – ein Lump, ein Schurke, ein Gauner, ein Parasit, der alle Menschen ausnutzt und auf ihre Kosten ein faules Leben führt.

      Sie fand vor dem Haus, in dem Torben wohnte, einen Parkplatz, stellte ihren Wagen ab und stieg aus. Ihr Blick wanderte an der Fassade hoch.

      Torben wusste, dass sie kam. Er erwartete sie. Sie hatte ihn angerufen, aber sie hatte ihm am Telefon nicht gesagt, was er von ihr zu hören bekommen würde.

      Mit einem flauen Gefühl in der Magengrube betrat sie das Haus, und als sie an Torbens Tür läutete, war dieses unangenehme Gefühl schon fast unerträglich.

      Torben öffnete, und Nicola knipste ein Lächeln an, das auch echt hätte sein können. Torben nahm sie ahnungslos in die Arme und küsste sie liebevoll.

      Er hatte einen netten, gemütlichen Abend geplant. Sie vibrierte innerlich. Es ist nicht leicht, dem Mann, den man liebt, zu gestehen, dass man ihn wiederholt belogen hat. Torben legte vier Baguettes in die Mikrowelle und stellte eine Flasche hefetrübes Weißbier und zwei Gläser auf den Tisch.

      Nicola erzählte ihm belangloses Zeug, weil sie nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen wollte. Und das schlechte Gewissen plagte sie immer mehr …

      Nachdem sie die Baguettes gegessen hatten und die Bierflasche leer war, sagte Nicola beklommen: „Ich muss dir etwas erzählen, Torben.“

      Er nickte unbekümmert. „Ich höre.“

      Sie deutete auf das Sofa. „Setzen wir uns.“

      Er musterte sie erstaunt. „Wieso machst du auf einmal so ein ernstes Gesicht?“

      „Weil es eine ernste Sache ist, über die ich mit dir reden möchte.“

      Sie setzten sich.

      „Du hast doch nicht etwa deine Entscheidung, das Baby zu bekommen, geändert“, sagte Torben unsicher.

      Nicola schüttelte heftig den Kopf. „Um Himmels willen, nein. Das würde ich doch niemals tun.“

      „Was könnte sonst so ernst sein, dass …“

      Das Telefon läutete. Ausgerechnet jetzt, dachte Nicola ärgerlich, wo ich endlich den Mut gefasst habe, ihm alles zu erzählen. Wer immer der Anrufer ist, ich könnte ihn erwürgen.

      „Entschuldige“, sagte Torben Lorentz. „Wir sprechen gleich weiter.“ Er stand auf, ging zum Telefon und meldete sich. Am anderen Ende war die Seeberg-Klinik. Nicola beobachtete, wie sich Torbens Miene verfinsterte. „Wann?“, fragte er gespannt. „Kann Dr. Schlüter nicht …? Ich verstehe … Ich komme sofort. Ist doch selbstverständlich.“ Er legte auf und sah Nicola bedauernd an. „Du hast es sicher mitgekriegt. Die Seeberg-Klinik. Ich werde ganz dringend gebraucht. Ein Notfall. Dr. Schlüter steht seit drei Stunden im OP und ist unabkömmlich. Ich schlage vor, du bleibst über Nacht hier, und wir unterhalten uns weiter, sobald ich zurück bin.“

      Fünf Minuten später war Nicola Sperling allein – und ihre Beichte hing immer noch unausgesprochen in der Luft.

      Es fing an zu regnen. Schwere Tropfen prasselten gegen die Fensterscheiben, und Nicola wanderte rastlos durch Torbens große Wohnung. Die Räume waren geschmackvoll und gediegen eingerichtet. Von einigen Möbeln würde Torben sich bestimmt nicht trennen wollen, wenn er bei ihr einzog, und sie überlegte, wo und wie sich in ihrem Haus dafür Platz schaffen ließ.

      Sie kreuzte im Geist an, was sie von ihrer Einrichtung leichten Herzens entbehren konnte. Viel ist es nicht, dachte sie. Wir werden eine Menge Kompromisse schließen müssen, aber wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.

      Als das Telefon anschlug, befand sie sich gerade in der Küche. War das Torben? Wenn ja, konnte er sie nur über sein Handy anrufen, denn in der Seeberg-Klinik konnte er noch nicht eingetroffen sein.

      Sie lief ins Wohnzimmer, übersah einen kleinen Schemel aus massivem Olivenholz – ein Souvenir aus Tunesien , verlor das Gleichgewicht und stürzte.

      Ihr erschrockener Schrei gellte durch den Raum. Sie sah die Kante der Kommode auf sich zurasen, schloss instinktiv die Augen – und dann wusste sie nichts mehr …

      19

      Eine besorgte Mutter saß Dr. Kayser in dessen Sprechzimmer gegenüber. Ihre dreizehnjährige Tochter hatte vor wenigen Tagen einen epileptischen Anfall gehabt, und nun befürchtete die Frau, dass sich das wiederholen könnte.

      „Was bedeutet das Wort Epilepsie eigentlich, Herr Doktor?“, fragte Grete Meeritz den Grünwalder Arzt.

      „Das Wort ist vom Griechischen abgeleitet und bedeutet plötzlich heftig ergriffen und überwältigt zu werden“, erklärte Sven Kayser. „Im antiken Griechenland stellte man sich vor, dass die Epilepsie dem Menschen durch Götter oder Dämonen auf erlegt würde, man sprach deshalb von einer heiligen Krankheit. Epilepsie umgibt auch heute noch das Fluidum des Unerklärlichen und Unheimlichen, viele Ängste und Vorurteile ranken sich um diese Krankheit. Die Epilepsie ist eine Organkrankheit wie jede andere Krankheit auch.“

      Frau Meeritz fragte mit schmalen Lippen: „Ist meine Tochter nach diesem Anfall als Epileptikerin zu bezeichnen?“

      „Es muss von vornherein zwischen den Begriffen epileptischer Anfall und Epilepsie unterschieden werden“, gab der Allgemeinmediziner Auskunft, „denn damit ist keinesfalls dasselbe gemeint.“

      „Ach – nicht?“

      Dr. Kayser schüttelte den Kopf. „Beim epileptischen Anfall handelt es sich um ein einzelnes Geschehen, das sich plötzlich ereignet und meist – wie bei Ihrer Jennifer – nach Sekunden oder Minuten auch wieder aufhört. Erst wenn bei einem Menschen ohne ersichtlichen Grund mindestens zwei epileptische Anfälle aufgetreten sind, spricht man von Epilepsie.“

      Frau Meeritz hörte gespannt zu.

      „Wenn bei einem Menschen nur ein einziger Krampfanfall durch eine vorübergehende, sich rasch wieder zurückbildende Störung des Gehirns ausgelöst wird“, fuhr der praktische Arzt fort, „so nennt man einen solchen Krampfanfall Gelegenheitsanfall.