vorhandenen Verstand nicht gut!“, befahl er, und als sie nicht sofort gehorchte, verlor er die Beherrschung. Er sprang auf, versetzte ihr eine kräftige Ohrfeige und brüllte: „Du hast gefälligst zu tun, was ich sage!“ Seine Hand griff in den Ausschnitt des Chiffonkleides – und mit einem wilden Ruck riss er es auf.
Erst hinterher begriff er, was er getan hatte, und er schnarrte: „Geh und lass das Kleid verschwinden! Ich habe keine Lust, meiner Schwester zu erklären, wieso ihr teures Kleid hin ist. Und gibt Nicolas Schmuck zurück. Ich möchte nicht, dass du ihn trägst, wenn sie nach Hause kommt.“
15
Dr. Torben Lorentz trat aus dem Operationssaal und tat einen tiefen Atemzug. Er hatte eine Kürettage hinter sich. Die Ausschabung der Gebärmutter war mit unerwarteten Komplikationen verbunden gewesen: Die Patientin hatte sehr viel Blut verloren, aber sie hatte rechtzeitig vorgesorgt und schon vor einem halben Jahr Eigenblut in der Seeberg-Klinik deponiert. Das hatte man ihr heute zugeführt, und der junge Chirurg war zuversichtlich, dass sie sich von dem Eingriff rasch erholen würde.
„Müde?“, sprach ihn plötzlich Dr. Nicola Sperling an.
Er nahm sie jetzt erst wahr. „Oh.“ Er lächelte erfreut. „Hallo.“
„Magst du eine Tasse Kaffee?“, fragte Nicola.
Er tippte mit dem Finger auf ihre Nasenspitze. „Schwangere Frauen sollen keine Suchtmittel konsumieren.“
„Ich nehme selbstverständlich koffeinfreien Kaffee“, erwiderte Nicola.
Sie gingen ins Casino. Dass Nicola ungeliebte Gäste in ihrem Haus hatte, wusste Torben noch nicht. Sie fand nie den richtigen Zeitpunkt, es ihm zu sagen.
Während sie den Kaffee tranken, fragte Torben: „Wie fühlst du dich?“
„Ganz gut“, antwortete Nicola.
„Und wie geht es unserem Baby?“
„Vermutlich auch nicht schlecht.“ Nicola lächelte. „Es macht sich jedenfalls auf keine wie immer geartete Weise bemerkbar.“
Torben griff über den Tisch nach ihren Händen. „Liebling, ich wollte schon seit längerem mit dir reden, aber man kommt ja vor lauter Arbeit zu nichts …“
„Was hast du auf dem Herzen?“, fragte sie.
„Naja …“ Er wiegte den Kopf. „Also … Ich wohne allein … Du wohnst allein … Wir führen zwei getrennte Haushalte … Ich meine, das ist irgendwie unsinnig, wo wir doch die Absicht haben, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Wäre es nicht angenehmer für uns beide, wenn ich meine Wohnung aufgeben und zu dir ziehen würde?“
Sie erschrak. „Wann?“
„Von mir aus gleich heute.“
Sie hatte urplötzlich ein flaues Gefühl im Magen. „Gleich heute?“, fragte sie krächzend.
Er musterte sie befremdet. „Wäre dir das etwa nicht recht?“
„Doch, doch“, beeilte sie sich zu versichern. „Schon.“ O Gott, sie war so entsetzlich durcheinander. „Natürlich. Es ist nur …“
„Ja?“
Sie hob verlegen lächelnd die Schultern. „Du überfällst mich damit ein bisschen.“
„Tut mir leid“, sagte Torben leicht pikiert. „Ich dachte, du würdest dich über meinen Vorschlag freuen. Wenn ich gewusst hätte, dass er so schlecht ankommt …“
„ Er kommt überhaupt nicht schlecht an“, fiel sie ihm aufgewühlt ins Wort. Bruno, ich hasse dich!, dachte sie. „Es es geht mir nur ein bisschen zu schnell.“ Sie drückte Torbens feingliedrige Hände und dachte: Verflucht, Bruno, in was für eine Situation hast du mich gebracht?
„Bitte sei nicht beleidigt, Liebling“, flehte sie. Ihr Geist suchte nach einer plausiblen Erklärung für ihr sonderbares Verhalten. Sollte sie Torben hier und jetzt die Wahrheit sagen? Sie entschied sich dagegen, nahm Zuflucht bei einer Notlüge. „Ich – ich wollte dich überraschen, doch nun muss ich es dir wohl sagen: Ich habe die Handwerker im Haus.“
„Wozu?“, fragte er erstaunt.
„Na ja, ich lasse mein Heim familiengerecht ausstatten. Ich wollte dich damit überraschen, aber daraus wird nun leider nichts …“
Mit dieser Unwahrheit hatte sie einen kleinen Aufschub erwirkt, aber aufgeschoben war nicht aufgehoben. Sie musste Torben so bald wie möglich von Bruno Pfaff, ihrem Stiefbruder, dem Schandfleck der Familie, erzählen.
16
Eine Stunde später begegnete Dr. Torben Lorentz dem Grünwalder Arzt auf der Frauenstation. Sven Kayser hatte eine Patientin mit grippeähnlichen Symptomen nach einem Zeckenstich zur Beobachtung in die Seeberg-Klinik eingewiesen.
„Zecken“, sagte Dr. Lorentz mit gerümpfter Nase. „Ich kann diese Viecher nicht ausstehen.“ Er schüttelte sich. „Diese Mini-Vampire lauern verborgen in Unterholz und Gebüsch, um dann bei arglos vorbeispazierenden Opfern zum Angriff zu blasen.“
Sven nickte. „Sie nutzen für ihre Attacken ein ausgeklügeltes Ortungssystem, erkennen, an Halmen hängend, frühzeitig Wärme, chemische Reize und Erschütterungen – und hat die Zecke es erst mal geschafft, auf ihren neuen Wirt zu gelangen, krallt sie sich an Kleidung oder Haaren fest und bahnt sich zügig den Weg auf eine geeignete Hautpartie.“
„Und nach all der Mühe hat das Biest natürlich einen unstillbaren Durst“, fuhr Torben fort. „Gerade mal vier Millimetergroß sind sie, nachdem sie sich aber am Lebenssaft des Gastgebers tüchtig gelabt haben, können sie bis zur Größe einer Weintraube anschwellen.“
Der junge Chirurg presste die Kiefer zusammen. „Das Fatale an der Geschichte ist, dass die Zecke bei dieser unfreiwilligen Blutspende nicht nur nimmt, sondern auch gibt. Viele Zecken sind mit Krankheitserregern infiziert, die beim Stich in die Blutbahn des Wirts gelangen können und gefährliche Infektionskrankheiten verursachen.“
„Wie zum Beispiel die Lyme-Borreliose“, pflichtete Dr. Kayser seinem Kollegen bei. „Nach Schätzungen treten allein in Deutschland bis zu achtzigtausend Fälle im Jahr auf – mit einer noch höheren Dunkelziffer. Deshalb rate ich meinen Patienten, sich nach jedem Waldspaziergang gründlich nach Zecken abzusuchen und den Winzling möglichst nah an der Hautoberfläche mit einer Zecken-Pinzette abzudrehen.“
„Wenn diese Biester erst mal in der Haut stecken, kommen die Leute auf die verrücktesten Ideen“, sagte Torben Lorentz. „Sie beschmieren sie mit einem Kleber, beträufeln sie mit Öl, betupfen sie mit Nagellack, ohne zu wissen , dass die Zecke im Todeskampf erst recht Krankheitserreger freisetzt.“ Er zog die Augenbrauen zusammen und brummte: „Sprechen wir über etwas Erfreulicheres, okay?“
Dr. Kayser nickte und fragte: „Wie geht es dem werdenden Vater denn so?“
Torben lächelte. „Der ist ohne Beschwerden.“
„Die Seebergs haben sich wieder telefonisch bei mir gemeldet“, berichtete Sven Kayser.
„Wo sind sie zur Zeit?“, wollte Torben Lorentz wissen.
„In San Francisco.“
„Und wie gefällt es ihnen da?“
„Sehr gut. Die Stadt ist ja auch wunderschön.“ Sven wies kurz mit dem Daumen über die Schulter. „Ich wollte mich vorhin mit Nicola unterhalten, aber sie hatte leider überhaupt keine Zeit.“
Torben Lorentz’ Blick verdunkelte sich.
„Ist irgend etwas nicht in Ordnung?“, fragte Sven Kayser sofort.
„Ich weiß es nicht.“ Dr. Lorentz zuckte mit den Schultern. „Es wird wohl nichts zu bedeuten haben.“