Heidrun Wolkenstein

Der Mann aus Samangan


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auch schon sehr früh dafür gesorgt, dass ich zu Religion und Politik eine sehr kritische Haltung einnehme und nicht alles glaube, was der Mainstream sagt. Er erkannte immer mein Potenzial und dafür bin ich ihm sehr dankbar. Auch dafür, dass er immer stolz auf mich war und auf mich vertraut hat.

       „Kennst du den Platz zwischen Schlafen und Wachen?

       Der Platz, wo deine Träume noch bei dir sind?

       Dort werde ich dich auf ewig lieben!

       Dort werde ich auf dich warten!“

      („Wendy“ – PETER PAN)

       DER MANN AUS SAMANGAN

      1

      WENN DER BLITZ EINSCHLÄGT

      Schließlich rollt sie auf die Startbahn. Stolz und zielgerichtet. Diese große, weiße Maschine, die mich wieder nach Hause bringen soll. Es beginnt zu regnen. Die kleinen Fenster des Flugzeugs sind überzogen von dicken Regentropfen, die die bunten Lichter der Startbahn verzerren und wie ein Netz aus bunten Lichtern aussehen lassen. Beruhigend und aufregend zugleich, wie in der Silvesternacht zuvor. Leider sitze ich diesmal nicht am Fenster. Diesmal leistete ich mir keinen Fensterplatz, nachdem es schon mein dritter Flug nach Paris, innerhalb kürzester Zeit ist. Ich fühle mich traurig, weil ich nicht länger bei ihm bleiben konnte, und weil ich ihn nicht mit nach Hause nehmen kann. Dort, wo er eigentlich sein sollte! Ich vermisse ihn in meiner Wohnung, in der ich mit ihm so viele Monate lang glücklich war. Die Kraft des Flugzeugs drückt mich gegen die Rückenlehne. Ich liebe dieses fantastische Gefühl, wenn die Maschine ihre Höchstgeschwindigkeit aufbaut und bis zur Take-off Geschwindigkeit steigert. Dann - dieses befreiende und angenehme Gefühl des Abhebens – der Schwerelosigkeit, der Leichtigkeit. Das Flugzeug schwingt sich hinauf in die Lüfte und verschwindet im Nebel, der wegen des Regens, der Erde bereits sehr nah gekommen ist. Zurück bleiben die bunten Lichter, die schönen Erinnerungen und ein geliebter Mensch.

      „Nein, wir können uns leider heute nicht treffen. Ich habe den Jungs versprochen, dass ich sie heute besuche“, erklärte ich meiner Freundin Sabrina und es tat mir leid, weil eigentlich wollte ich mich gerne mit ihr treffen. „Ich habe es versprochen und das schaut dann blöd aus, wenn ich jetzt absage.“ – „Okay“, sagte sie schließlich. „Dann feiern wir deinen Geburtstag eben nächste Woche nach, weil morgen geht’s bei mir nicht“, schlug sie vor. So kam es, dass ich mich am Nachmittag vor meinem 47. Geburtstag, dem 8. Februar, auf den Weg machte, um meine afghanischen Freunde zu besuchen. Es waren vier Burschen im Alter von 20 bis 30 Jahren. Hamid und Arash hatte ich eine Saisonarbeit besorgt, bei Sahel hatte ich leider weniger Glück und Farid kam erst gar nicht in meine Beratung, weil er dachte, dass es ihm sowieso nichts bringen würde. Ich kannte ihn nicht. Die vier Jungs lebten zusammen in einer kleinen Wohnung. Ich arbeite seit vielen Jahren selbstständig als Sozialberaterin und Trainerin. Ich konnte mir meine Aufträge halbwegs aussuchen und zahlte brav, aber nie pünktlich, die unmöglichen, hohen Steuer- und Versicherungssätze. Aus politischen Gründen wurden aber dann meine Aufträge immer weniger und ich verlor einige davon, weil anscheinend die Öffentlichkeit an sozialen Hilfen und an Sozialprojekten kein Interesse mehr hatte. So verlor ich auch meinen Auftrag als Jobcoach, bei dem ich genau diese drei Afghanen kennlernte. Ja, der Kampf um die Arbeit, gerade im Sozialbereich, wurde immer schwieriger und ich hatte Geldsorgen wie noch in keinem Jahr zuvor. Aber dennoch war es mir wichtig, die drei Jungs zu besuchen und mich trotzdem weiter um sie zu kümmern. Sie waren alle in einer schlechten Situation, weil sie immer noch Asylbewerber waren, die darauf hofften, endlich einen positiven Bescheid zu bekommen.

      Die Wohnung der Jungs war im Innenhof eines alten Bauernhofes, mitten in einem idyllischen Dorf. Die Eingangstür zur Wohnung der vier Jungs, war eine normale, weiße Zimmertür mit einem Glasteil darin. Die Tür erinnerte an eine alte Küchentür. Weil ich nirgends eine Klingel entdeckte, klopfte ich an die Glasscheibe. Der grüne Stoffvorhang, der den Blick in die Wohnung verdeckte, wurde ein Stück weit aufgezogen und Hamid schaute mir fröhlich lachend entgegen. Schnell öffnete er die Tür. „Hallo Adriana! Herzlich willkommen!“, begrüßte er mich. Während wir uns umarmten, kamen auch Sahel und Arash, um mich zu begrüßen. Sie freuten sich, als sie mich vor ihrer Tür sahen. In dem Moment wusste ich, dass es richtig war, hierher zu kommen. Sie haben extra für mich die Wohnung geputzt. Es war eine kleine, muffige Wohnung, in der vor Feuchtigkeit der Putz von der Wand bröckelte. Ich setzte mich auf die durchgesessene, grüne Couch und wartete auf den Grünen Tee, der mir frisch und heiß serviert wurde. Die drei setzten sich entspannt auf die anderen Sitzmöbel. Ich hatte für Hamid ein paar Monate vorher einen Brief verfasst, damit er seine Chancen auf einen positiven Bescheid eventuell verbessern konnte. „Es wird schon“, sagte Hamid. „Ich werde sicher Positiv bekommen!“ Er wirkte sehr zuversichtlich. Während wir eine Zeit lang so plauderten, ging die Eingangstür auf und er kam herein: Farid. Er hatte eine schwarze Eisbär-Mütze tief in seine Stirn gezogen und warf mir mit seinen schwarzen Augen einen Blick zu, der mich in der Sekunde wie ein Pfeil traf. Ich hatte das Gefühl, für ein paar Sekunden keine zu Luft bekommen. „Hallo Adriana“, sagte er sanft und reichte mir die Hand. „Schön, dich kennenzulernen! Ich habe ja schon viel von dir gehört!“, sagte er weiter. „Hallo Farid“, antwortete ich verlegen und versuchte ihm frech die Mütze wegzunehmen. Aber eigentlich war es nur ein Versuch, meine Unsicherheit zu verbergen, die ich momentan empfand. „Nein, ich will nicht, dass du mich so siehst“, erklärte er. „Ich war beim Friseur und ich bin nicht zufrieden mit dem Ergebnis.“ Er setzte sich auf die Couch daneben und nahm auch einen Tee für sich selbst. Die Mütze behielt er auf. Wir unterhielten uns weiter, aber es war von diesem Moment an anders für mich. Plötzlich achtete ich besser darauf, was ich sagte und wie ich wirkte. Immer wieder zupfte ich meine Haare zurecht. Nachdem wir eine Stunde lang geplaudert haben, schlug Hamid vor: „Komm! Wir gehen jetzt Pizza essen!“ Er sprang von seiner Couch auf. „Wir wollen dich einladen, weil du so viel für uns gemacht hast.“ Ich wollte das eigentlich nicht und wehrte ab. Aber es gelang mir nicht. Die vier bestanden darauf, dass ich mit ihnen essen gehe. Also verließen wir die kleine, muffige Wohnung und gingen hinaus in den kalten, dunklen Februarabend. Ich war stolz, mit den vier Jungs die Pizzeria betreten zu dürfen. Mit vier attraktiven, jungen Männern unterwegs zu sein, putzte mein Ego stark auf. Die Leute schauten skeptisch. Egal, was sie dachten. Was die Leute denken, war mir schon lange egal. Ich wollte den Abend mit meinen Freunden genießen. Farid setzte sich neben mich und versuchte mich immer wieder zu necken. Wir hatten sehr viel Spaß an diesem Abend. Und es war schon spürbar, dass er auch Interesse an mir zeigte. „Weißt du überhaupt wie alt Adriana ist?“, fragte plötzlich Hamid seinen Freund. „Ja natürlich“, antwortete Farid. Ja, ich bin 20 Jahre älter als er. Aber es fühlte sich so an, als wäre ich keinen Tag älter als diese Jungs. Ich fühlte keinen Unterschied. „Mir ist es egal, wie alt sie ist“, sagte Farid weiter.

      Und so verging der Abend mit viel Lachen und Flirten. Es war allen klar, dass auch er Interesse an mir hatte. Der Funkenflug war wohl kaum zu übersehen. „Ich begleite dich noch zum Auto“, sagte Farid, als wir nach einigen gemeinsamen Selfies auf dem Stadtplatz, wieder auf das Wohnhaus der Jungs zugingen. Ich war froh, dass er mich alleine begleiten wollte. Insgeheim habe ich genau darauf gewartet und es wäre zu schade gewesen, wenn ich mich einfach nur verabschiedet hätte und nach Hause gefahren wäre. Aber es kam so, wie ich es mir gewünscht hatte. Farid begleitete mich bis zum Auto. Beim Auto standen wir noch lange und redeten über seine Situation. Darüber, dass er eigentlich schon seit Monaten das Land verlassen müsste, weil er vom obersten Gericht einen negativen Bescheid erhalten hat. Er hat sogar schon eine Polizeistrafe bekommen, weil er immer noch im Land war. Eine Polizeistrafe über eine lächerlich hohe Summe, die er als Asylbewerber natürlich niemals zahlen konnte. Und so unterhielten wir uns noch lange beim Auto, bis er mich plötzlich fragte: „Darf ich dich küssen?“ Genau das war der Moment, auf den ich die ganze Zeit gewartet habe. Ich nickte leicht und lächelte, während ich mich zu ihm drehte. Es war ein intensiver, heißer Kuss. Obwohl ich in meinem Leben schon viel erlebt und auch viele Erfahrungen in Beziehungen gemacht habe, muss ich sagen, dass dieser Kuss unvergleichbar war. Einzigartig! Genau wie sein Name! Farid bedeutet „einzigartig, einmalig, wertvoll“ – genau die Eigenschaften, die ich unmittelbar bei ihm spürte. Ich kannte