und Farid meldete sich nicht. Es sind schon fast zwei Wochen vergangen und ich erhielt kein Lebenszeichen von ihm. In so einer Situation, wenn du Angst und Schmerzen hast und niemand ist für dich da, fühlst du dich erst so richtig elend und allein. Kein Lebenspartner – niemand! Du bist völlig allein! Erst dann wird dir bewusst, wie gut es die Menschen haben, die in eine intakte Familie integriert sind. Selbstverständlich riefen mich meine Freunde an! Sabrina fragte täglich nach, wie es mir ging und auch Thomas. Aber niemand war hier bei mir! Niemand nahm mich in den Arm und tröstete mich! Es ist ein Unterschied, ob jemand anruft, oder ob jemand hier bei dir ist. So toll die modernen Technologien auch sind, aber sie können nicht die Anwesenheit eines Menschen ersetzen. „Das ist ein Tumor, drei Zentimeter groß und nicht abgegrenzt“, erklärte mir der Radiologe, nachdem er das Ding in meinem Rücken gefühlte zehn Sekunden untersucht hat. „Das muss sofort operiert werden!“, bemerkte er weiter. Ich war fertig mit den Nerven. Das konnte doch nicht sein! Wieso ein Tumor? Woher kommt das? Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass meine Schwägerin mit 48 an Krebs verstorben war. Das ist doch nicht möglich! Wie ferngesteuert fuhr ich nach der Untersuchung nach Hause. Keine Ahnung, mit wem ich während der Fahrt telefoniert habe. Ich war verzweifelt und erschüttert über dieses Ergebnis. Vielleicht war es sogar gut, dass sich Farid überhaupt nicht meldete? Ich wollte mich ihm doch gar nicht so hilflos und schwach zeigen. Er hatte selbst schon genug Probleme, da brauchte er meine Sorgen nicht auch noch! Am nächsten Tag hatte ich Befundbesprechung bei meiner Hausärztin. Ich hoffte darauf, dass sie die Aussage des Radiologen relativieren würde. Es gibt doch immer Ärzte, die maßlos übertreiben! Der Warteraum war voller Leute, die durcheinander husteten und niesten. Und ich saß mitten unter ihnen. Ich, wo ich mich doch noch so jung fühlte! Jung genug, um einen jungen, attraktiven Mann zu lieben! Auf einmal fühlte ich mich schlecht und vor allem hatte ich Angst, dass mein Leben eine dramatische Wendung nehmen könnte. Als mein Name aufgerufen wurde, schämte ich mich, wie eine alte Frau, mit gekrümmten Rücken aufzustehen und in die Praxis zu krabbeln. Die Schmerzen im Rücken waren seit über einer Woche gleichbleibend stark. Es war schon längst nicht mehr nur ein Hexenschuss. Die Ärztin saß mir gegenüber und schaute mich besorgt an. „Ja, leider ist das ein Tumor in Ihrem Rücken“, erklärte sie mit besorgter Stimme. „Ich muss Sie zu einem Chirurgen überweisen. Zu welchem möchten Sie gerne gehen?“, sagte sie weiter. Entsetzen machte sich in meinem Gesicht breit. Ich spürte einen dicken Knoten im Hals und konnte kaum Antwort geben. Mein Herz schlug wie wild und erst jetzt fühlte ich mich wirklich einsam, allein und hilflos. „Ja leider“, sagte die Ärztin weiter. „Wir müssen schnell operieren, damit wir sehen können, ob der Tumor gut- oder bösartig ist.“ Ich war schockiert, aber es half nichts. Wir einigten uns auf einen Chirurgen mit einer eigenen Praxis, denn ich wollte auf keinen Fall ins Krankenhaus gehen. Aufgeregt und völlig fertig mit den Nerven, schnappte ich mir die Überweisung und schleppte mich aus der Ordination hinaus. Der Weg durch den Warteraum und durch den Gang bis zum Empfang beim Eingang, schien mir plötzlich länger zu sein als noch vor zwei Stunden, als ich hierher gekommen bin. „Moment!“, rief mir eine der beiden Assistentinnen nach. „Sie bekommen noch ein Rezept für die Schmerztabletten!“ Das musste ich wohl überhört oder vergessen haben, dass ich noch ein Rezept erhalte. Langsam drehte ich mich um und schleppte mich zu dem Pult. Innerlich kochte ich! Etwas braute sich in mir zusammen, wie eine große, rotierende Kugel. Es war der laute Aufschrei der Verzweiflung, den ich wohl noch eine Weile unterdrücken musste. Ich trommelte unbewusst ein wildes Tremolo auf das Pult. „Hier, bitte!“, sagte die Assistentin und händigte mir das Rezept aus. „Bitte maximal zwei Tabletten am Tag! Wollen Sie einen neuen Termin haben?“ Ich vereinbarte einen Termin für die nächste Woche. Die Ärztin sagte mir schließlich, dass ich bei dem Chirurgen sicher schnell einen Termin bekommen würde. Dann verabschiedete ich mich und schleppte mich gebückt zur Tür hinaus. Jede weitere Sekunde wäre für mich zur Qual geworden. Erst im Auto begann ich laut zu weinen. Warum passiert mir sowas? Ich hatte Angst. Bisher hatte ich immer nur Angst, dass ich nicht genug Geld am Konto hatte, oder einen Job oder Auftrag verlieren könnte. Meine Lebensängste drehten sich meistens um Geld. Schließlich ist Geld das Lebensblut unserer Gesellschaft und irgendwie war ich immer völlig am Limit, egal wie viel ich auch arbeitete. Aber diese Angst jetzt war stärker und wichtiger als die Angst um Geld und Job. Plötzlich lag eine echte Existenzbedrohung vor! Plötzlich relativierten sich alle angstvollen Gedanken aus der Vergangenheit. Ich fühlte mich allein, wie noch nie zuvor und ich war allein! Meine Mutter war schon lange gestorben. Ich konnte nicht einmal sie anrufen, um mich bei ihr auszuweinen! Mein Vater hatte Demenz und außerdem wollte ich ihn nicht auch noch damit belasten. Ich hatte sonst keine Familie, außer meinen Hund. Und auf Farid wartete ich vergebens. Ihm schien es völlig egal zu sein, wie es mir ging. Wahrscheinlich wäre es sowieso keine gute Idee gewesen, die Beziehung gleich mit so einem schweren Problem zu beginnen. Vielleicht war es sogar gut, dass er sich gerade jetzt nicht meldete. Die schlimmsten Bilder stiegen in mir hoch, während ich meine Stirn auf das Lenkrad stützte und meinen Tränen freien Lauf ließ. Ich fühlte mich außerstande, jetzt nach Hause zu fahren. In diesem Moment würde ich jemanden brauchen, der mich in den Arm nimmt und tröstet. „Was willst du denn haben?“, fragte mich meine Mutter immer, wenn ich traurig war und wenn ich Angst vor dem Zahnarzt hatte. Meistens bekam ich dann von ihr eine Marzipanfigur oder ein Eis, damit ich mich wieder etwas besser fühlte. „Mama, ich vermisse dich!“, sagte ich verzweifelt und laut. „Warum hast du mich verlassen? Warum habt ihr mich alle alleine gelassen? Ich schaffe dieses Leben nicht!“ Mir war, als würde meine Mama in diesem Moment neben mir im Auto sitzen und mich liebevoll anschauen. Deshalb schaute ich auf den Beifahrersitz. Tatsächlich saß sie da! Sie hatte ein selbstgeschneidertes, modisches Kleid an und hatte schön frisierte rote, lockige Haare. Sie sah wesentlich jünger aus als in den letzten Jahren ihres Lebens. Um einige Jahrzehnte jünger und sie sah sehr attraktiv und glücklich aus. Ihre Erscheinung wirkte so real, dass ich mich gar nicht anstrengen musste, diese scheinbare Projektion von ihr aufrecht zu erhalten. Ein lieblicher Duft strömte in meine Nase. „Chanel Nr. 5“, der Lieblingsduft meiner Mama. Es war so, als würde sie tatsächlich neben mir sitzen – in der besten Version ihres vergangenen Lebens. Ich war verwirrt und froh zugleich. „Sei nicht so traurig, Mäuschen“, sagte sie mit sanfter Stimme zu mir. „Es wird alles gut, du wirst es sehen!“, fuhr sie fort. Und so beruhigte ich mich wieder einigermaßen. Ich spürte ihre Anwesenheit so stark! Die Energie meiner Mutter füllte den Innenraum meines Autos. „Mach die Untersuchung, denke positiv und du wirst sehen, dass alles gut wird!“, betonte sie. Ich schloss meine Augen und wischte mit einem Arm die Tränen aus meinem Gesicht. Meine Mama konnte mich mit ihren sanften Worten immer schon sehr gut beruhigen. Als ich wieder auf den Beifahrersitz schaute, war sie nicht mehr da. Zurück aber blieb der Duft von „Chanel Nr. 5“.
An diesem Tag belohnte ich mich nicht mit einer Marzipanfigur oder einem Eis. Jetzt erst wusste ich, was es wirklich heißt, wenn die Existenz gefährdet war. Es ging dabei nicht darum, dass man Geld verlieren könnte, oder Aufträge, oder einen Job. Wenn die Gesundheit gefährdet ist, dann ist es das Schlimmste, was passieren kann. Ich weiß nicht mehr, was ich an diesem Tag machte. Ich war wie traumatisiert – wie ferngesteuert. Und Farid meldete sich nicht. Wahrscheinlich fühlte er nicht, was ich fühlte. Wahrscheinlich hat er sich schließlich gedacht, dass ich ihm zu alt bin. Wahrscheinlich hat er ohnehin eine Freundin. Was könnte es sonst für einen Grund geben, dass er immer um 10.00 weg musste? Also beschloss ich, allein weiterzukämpfen. Warum musste ich mein Herz so schnell an diesen Mann verlieren? Ich entschied mich, ein paar Tage in eine ganz ruhige, abgelegene Therme zu fahren. Thomas empfahl mir eine wunderschöne Therme, die noch dazu ein geheimer Tipp war und deshalb nur mäßig besucht wurde. „Komm dort zur Ruhe!“, empfahl er mir. Thomas ist einer meiner besten Freunde und hatte immer einen guten Rat für mich parat. Ich buchte ein Zimmer, schnappte Felix und fuhr am nächsten Tag los.
Glücklicherweise waren in der Therme wirklich kaum Leute und trotzdem schämte ich mich, gebückt wie eine alte Frau zu gehen, weil die Schmerzen im Rücken und vor allem an der Stelle, wo sich der Tumor befand, einfach nicht besser wurden. Im warmen Wasser ging es mir etwas besser. Aber schlimm war der Moment, an dem ich das Wasser verlassen wollte. Einmal hatte ich keine Ahnung, wie ich da rauskommen sollte. Ich wollte schon jemanden um Hilfe bitten. Aber das war mir dann doch zu peinlich. Nach einer Weile begann ich damit, mich in die warme, angenehme Infrarotkabine zu setzen. Die Behandlung dauerte 20 Minuten. Ich nutzte die