Malik konnte sich nicht erinnern, wie er zurück zum Freizeitpark gekommen war. Aber sein Autopilot schien noch zu funktionieren. Leidlich. Mit Blick auf die Halle wies er die Familien, Paare und Einzelbesucher ein, verteilte Anzüge und Brillen. Aber manche Gäste wurden ungeduldig, weil er in allem unglaublich langsam war.
„Fühlen Sie sich nicht gut?“, erkundigte sich eine Frau bei ihm.
Maliks Mund zuckte. Was sollte er seinem Gegenüber sagen? Wissen Sie, meine Wut und Traurigkeit liefern sich im Moment eine erbitterte Schlacht. Erstere hat gerade eine komplette Zahnreihe verloren, kann kaum noch sprechen, setzt aber umgekehrt ihrer Gegnerin so zu, dass die tränenlos und desorientiert im Ring hängt. Ich warte darauf, dass sich eine von beiden durchsetzt, gehe vermutlich aber vorher selbst zu Boden.
Tat er nicht. Stattdessen drangen Erinnerungen an seinen Vater an die Oberfläche. Der Sturz vom Gerüst, das panische Agieren, Hilfeholen, das Warten und die Besuche in der Klinik. Die Gewissheit, dass Leon Cerny auf Rollstuhl und Pflege angewiesen war. Malik konnte damals nicht mit Sicherheit sagen, wie viel sein Vater von den Streitigkeiten innerhalb der Familie mitbekam. Überzeugt aber war er davon, dass er sich durch den Selbstmord seinem unerträglichen Schicksal entzog. Warum hatte er sie im Stich gelassen, nicht weitergekämpft? Maliks Wut auf die Gesundheitsbehörden, die bei jeder Kleinigkeit Probleme machten, war damals unbeschreiblich groß gewesen. Als er es durch einen Trick endlich geschafft hatte, dass der Antrag für die etwas komfortableren Windeln bewilligt wurde, folgte das, was Malik als absolute Demütigung und zugleich Spitze der Seelenlosigkeit empfand. Die Software von Kronberg machte den Differenzbetrag durch die Großlieferung einer ganzen Palette von Windeln wieder wett. Datenbanken und Sachbearbeiter wussten, dass sie in großen Wohnwagen lebten. Das Bild von den völlig durchnässten, nicht mehr verwendbaren Pappboxen der Pflegeeinlagen, die auf einer Holzpalette neben ihrem Wohnmobil im Regen standen, brannte sich tief in Maliks Gedächtnis ein. Es war unzertrennlich mit dem langsamen Verschwinden und dem Suizid seines Vaters verbunden. Ich will so etwas nie wieder erleben, dachte er.
Nachdem er die letzten Besucher nach draußen gebeten und abgeschlossen hatte, ging er zum alten Riesenrad. Er schaltete es an, nahm die Fernbedienung, ließ sich von der zweiten Kabine die Beine weghebeln und nach oben tragen. Der Wind war kühl geworden und es roch nach Gras und feuchter Erde. Mitte März, eigentlich die allerschönste Zeit im Jahr. Er fühlte sich immer noch betäubt, aber seine Emotionen nahmen allmählich wieder Konturen an.
Eigentlich hätte er Suri den Park gerne gezeigt. Jetzt wusste er noch nicht mal, ob es ein Wiedersehen geben würde. Er stellte sich vor, dass sie neben ihm saß. Ihr Pony im Wind. Die tiefe Stimme, die so gar nicht zu ihrem zierlichen Körper passte. Dann zog er den Notizblock aus seiner Hosentasche und las im Schein der LED, die in die Armlehne des Sitzes integriert war.
Kasten, Schachbrett, Kontrolle, Projektstatus.
Sie war beunruhigt, vielleicht auch ein wenig empört gewesen. Wer war verantwortlich für ihren Zusammenbruch? Wie wahrscheinlich war es, dass die Firma nichts damit zu tun hatte? Und warum hatte sie sich ihn als Vertrauensperson ausgesucht? Es war noch nicht mal Zeit gewesen, ihr zu erzählen, dass auch er vom Fach war. Aber war das überhaupt wichtig?
Noch vor seinem Arbeitsantritt hatte er mit Charlie im Friendsnet gescherzt, dass sie sich bald ein wenig in der Firma umsehen konnten. Gedacht hatte er dabei an Informationen über unsaubere Standorte von Serverfarmen, Nicht-Einhaltung der CO2-Verordnungen und Ähnliches.
Jetzt stellte sich die Frage, ob er mutig genug war, nach einer umfassenderen Sauerei zu suchen. Hatten sie Suri etwas angetan? Konnte er ihr helfen?
Das war definitiv größenwahnsinnig in seiner Lage. Er war ein S 100, ein kleinkrimineller, geduldeter Helfer, der mit einem Bein im Knast stand. Die Mitarbeiter empfanden es vermutlich als wunderbar exotisch, dass der ihnen den Nachtisch reichte.
Aber im Gegensatz zu früher, als er mit zwölf Jahren in die Systeme eingedrungen war, hatte er nun ungleich mehr Erfahrung. Das wirklich Entscheidende aber war, dass er förmlich an der Quelle saß. Es nicht wenigstens zu versuchen, würde er im Nachhinein gegenüber Suri schwer rechtfertigen können. Wahnsinn war das trotzdem.
Sein Kopf sagte ihm, dass er sich hier gerade auf ein Kamikazeprojekt einschoss, sein Bauch, dass er nur so seine Traurigkeit und Wut in vernünftige Bahnen gelenkt bekam und in der Lage war, wieder einigermaßen zu funktionieren. Und er würde die Mischpoke um Hans Vidal nur weiter bedienen können, wenn er das Gefühl hatte, sie wenigstens dabei ausspionieren und so etwas tun zu können.
Als er Montagmorgen durchs Tor schritt, hatte er sich einen groben Plan zurechtgelegt. Am leichtesten würde er über Suris Highcontroller an Information kommen. Wenn er ihn geknackt bekam. Dabei sollte ihm Suris Kollegin Momoko helfen. Er hoffte, in den Gesprächen, Digitalprotokollen und Nachrichten einen Hinweis auf ihre Recherchen zu finden. Natürlich wollte er das Momoko Sandgruber nicht auf die Nase binden. Da er aber von seinem Besuch und sogar dem Kontakt zu den Eltern erzählen konnte, würde er die Basis einer gewissen Glaubwürdigkeit schaffen können. Er hatte auch vor, Suri den Apparat zu bringen, wenn auch nicht, bevor er selbst einen Blick auf die Nachrichten geworfen hatte. Schließlich musste er damit rechnen, dass er an der Pforte aufgehalten und der Kommunikator wieder einkassiert wurde.
Froh war er, dass er gefühlt bereits Routine dabei hatte, sein Analysetool in die Firma zu schleusen. Das würde ihm bei der Auslese gute Dienste tun. Auch bei Suris Gerät.
Der Vormittag verstrich im Schneckentempo. Als er mit Hedi an der Buffetfront Aufstellung nahm, musste er seinen Widerwillen unterdrücken. Er sah auf die mit Beeren und Kräutern verzierten Medaillons von Känguru und Wildgans, die er vor drei Tagen weder ge-, geschweige denn erkannt hätte. Wer nur eine Sekunde innehielt, musste doch eigentlich verstehen, wie absurd das hier war. Es widersprach allen Regeln der Vernunft. Sämtliche KI-Flotten rechneten ständig aus, wo wie viel CO2 einzusparen war und wie die Ressourcen gerechter und effektiver eingesetzt beziehungsweise verteilt werden konnten. Wieso schlugen die hier nicht Alarm? Er musste an Dragusch denken. Der hätte vermutlich sein letztes Knäckebrot für den Platz in einer Entzugsklinik gegeben. Das Einzige, was er bekam, waren eine gut überwachte Nichthilfe und ein Update für seinen Neurodreamer. Und Suri? Woran war sie gescheitert?
Momoko Sandgruber tauchte am Eingang auf. Malik betete, dass sie zu seiner Buffethälfte schlenderte. Er würde seine Überlegungen jetzt flott hintenanstellen und ihr so viel Känguru und Wildgans kurzbraten, wie sie maximal verdrücken konnte. Genialerweise schien sie allein zu sein. Kein Gerald Kronberg, kein Hans Vidal in Sicht. Malik verfolgte jede ihrer Bewegungen, ging ihr ein paar Schritte entgegen und lächelte sie an, als sie ihren Blick über die Vorspeisen wandern ließ.
„Sie entwickeln ja eine richtige Dienstleistungslust, wie mir scheint“, sagte Momoko Sandgruber schnippisch.
Malik musste grinsen. „Mir ist auch schon ganz schwindelig.“ Momoko Sandgrubers Schnoddrigkeit gefiel ihm. Er hoffte, dass er einen Draht zu ihr bekam. „Nach was ist Ihnen denn? Salat mit Lachscarpaccio oder was Gejagtes?“
„Ersteres hört sich gut an.“
Malik nahm einen großen, viereckigen Porzellanteller, trug den zart geschnittenen Fisch auf, dann Rucola, Postelein, Tomaten und schaute immer wieder zu Momoko Sandgruber, um das Stoppsignal registrieren zu können.
„Von der Sahne-Chilli-Sauce noch, bitte“, sagte sie. Jetzt war der entscheidende Moment gekommen. Noch hielt er ihren Teller fest.
„Ich habe eine Bitte, Frau Sandgruber“, sagte Malik, während er aus einer Glasflasche Vinaigrette über den Salat träufelte.
„Dachte ich mir doch, dass etwas hinter der neu entdeckten Haltung steckt.“
Malik sah sie ernst an, worauf Momoko Sandgruber die Augenbrauen hochzog.
„Ich habe Suri Temme am Wochenende im Krankenhaus besucht. Sie hat mir erzählt, dass sie neulich ihren privaten Highcontroller an ihrem Arbeitsplatz vergessen hat. Sie meinte, es wäre schön, ihr den zu bringen. Denken Sie, das wäre möglich? Ich würde sie morgen oder übermorgen wieder