Nina Ruge

Altern wird heilbar


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Gegenthesen aus der Wissenschaft stellte das Landwirtschaftsministerium der USA 2012 fest, dass es keinen Beweis für die Theorie der freien Radikale gebe, sodass die Theorie in ihrer Grundform als überholt betrachtet werden könne. Was jedoch sehr wohl für unsere Zellgesundheit von Relevanz ist, ist die Mitochondrienfunktion. Sie ist unerlässlich für die Energieproduktion unserer Zellen und viel mehr Quelle des alles antreibenden Moleküls ATP als freie Radikale (dazu später mehr).

      Naja! Bislang waren auch wir überzeugt: Frischer Salat, Gemüse in rauen Mengen und dazu antioxidative Nahrungsergänzungsmittel wie Vitamin E und C – all das hält jung. Denn die Theorie scheint so unglaublich schlüssig. Und was ihren zerstörerischen Effekt für unsere Jugend und Gesundheit angeht, dürfte sie bis heute eine der anerkanntesten in der Altersforschung sein. Die Theorie der »freie Radikale« stammt von DENHAM HARMAN, Professor am Nebraska Medical Center in Omaha. Er war Chemiker und Mediziner, deshalb hatte er eine besondere Spürnase für molekulare Prozesse in unserem Körper. Seine Überlegung lautete: Wenn Lebewesen mit niedrigerer Stoffwechselrate länger leben, könnte das an der geringeren Menge von Sauerstoff liegen, die sie jeden Tag pro Kilogramm Körpergewicht einatmen? Was wäre, wenn es der Sauerstoff wäre – oder genauer gesagt, seine aggressiven Nebenprodukte bei der Verstoffwechselung dieses Moleküls, die den Körper altern lassen? Das würde bedeuten, dass Tiere mit schneller Atmung und hohem Stoffwechsel viel mehr davon bilden und deshalb früher sterben. So entdeckte er die freien Radikale, und seine Veröffentlichung dazu im Jahr 1956 machte Furore. Mehrmals wurde er für den Nobelpreis vorgeschlagen, erhielt ihn aber nie.

      Freie Radikale entstehen in unserem Körper, wenn unsere Mitochondrien (die Zellkraftwerke, dazu hören wir später noch viel mehr) Energie unter Sauerstoffverbrauch produzieren. Der Vorgang wird »Atmungskette« genannt. Der Sauerstoff, den wir über die Lunge aufnehmen, wird dabei »radikalisiert« – zu einem sogenannten Hydroxylradikal zum Beispiel. Dieses wird enorm aggressiv allein durch die Tatsache, dass einem seiner Elektronenpaare ein Elektron verloren geht. Das Molekül mit dem verbliebenen, nun »ungepaarte« Elektron geht nun sofort auf Raubzug. Es sucht sich nämlich andere Moleküle, denen es ein Elektron entreißen kann – um erneut sein Elektronenpaar wieder zu vervollständigen. Dabei kann es Proteine, Fette und sogar unsere DNA zerstören. Das ist zum einen ein ganz normaler Prozess, weil er permanent abläuft, zum anderen ist er ganz und gar nicht angenehm – und wird, wenn viele freie Radikale in den Zellen unterwegs sind, »oxidativer Stress« genannt.

      Es wäre schwer nachvollziehbar, wenn unser Körper keine Abwehrmechanismen gegen diese Bataillone von Miniatur-Zerstörern entwickelt hätte. Schließlich sind diese ja wohl seit Hunderttausenden von Jahren in sämtlichen tierischen und menschlichen Zellen unterwegs. Dem ist wohl auch so, und da ist der Haken in HARMANs Theorie. Denn heute weiß man: Der Anstieg von freien Radikalen in der Zelle führt zu einer oxidativen Stressreaktion, die Schutzmechanismen in der Zelle aktiviert. MICHAEL RISTOW, Professor für Energiestoffwechsel an der ETH in Zürich, fand heraus, dass unser Körper offenbar Abwehrkräfte gegen oxidativen Stress entwickelt, wenn er mit freien Radikalen konfrontiert wird. Er hat diese Abwehrreaktion »Mitohormesis« getauft. Und noch mehr: Wer nun hochdosiert Antioxidantien zu sich nimmt, erreicht das Gegenteil – er blockiert diese körpereigene Abwehr. Zur Verdeutlichung: Beim Training von Sportlern beispielsweise entstehen – aufgrund der erhöhten Sauerstoffaufnahme – sehr viel mehr freie Radikale als im Ruhezustand. Wenn diese Sportler hochdosiert Antioxidantien einnahmen, wurden die freien Radikale blockiert – und die gesundheitsfördernde Wirkung des Trainings gleich mit. Woran das liegt? Nun, bereits seit PARACELSUS wissen wir, dass geringe Mengen einer prinzipiell schädlichen Substanz gesundheitsfördernd sein können. Diese Form der »Impfung« mit freien Radikalen scheint für unseren Organismus höchst positiv zu sein. Aber ebenfalls von PARACELSUS haben wir gelernt: »Dosis facit venenum.« (»Die Dosis macht das Gift.«) Also: Unser Körper braucht offenbar eine aktive Auseinandersetzung mit freien Radikalen, um die natürlichen Schutzmechanismen zu aktivieren. Starker oxidativer Stress allerdings ist nachgewiesenermaßen schädlich. Das gilt zum Beispiel für Raucher, die mit jedem Zug an der Zigarette gigantische Mengen an freien Radikalen inhalieren, aber auch für Menschen, die in stark verschmutzter Luft leben müssen. Und schlechte Nachrichten auch für Sonnenanbeter: UV-Licht lässt freie Radikale sprudeln.

      Wie ist nun der Alterungsprozess hier einzuordnen? Es sieht leider ganz danach aus, als ob bei jungen Zellen freie Radikale und die entsprechenden Schutzmechanismen in einem ausgeglichenen Verhältnis stehen. Diese hübsche Balance scheint sich im Laufe des Lebens zu verschieben – zugunsten der Mörder, der freien Radikale. Das System unserer selbst gebildeten Antioxidantien scheint schwächer zu werden. Oxidierte, aggressive Substanzen häufen sich in den Zellen an. Bei der Parkinson-Erkrankung zum Beispiel gehen bestimmte Nervenzellen im Gehirn zugrunde. Und genau dort wurde ein stark erniedrigter Oxidationsschutz festgestellt.

      Freie Radikale sind also offenbar entscheidenend für den schleichenden Selbstzerstörungsprozess unserer Zellen. Sie zerstören DNA, oxidieren Proteine und die körpereigenen Schutzmechanismen lassen mit dem Alter nach. Auch gelingt es immer weniger, die von freien Radikalen schachmatt gesetzten, oxidierten Proteine abzubauen und aus den Zellen »in den Müll« zu schleusen. So stehen Radikale unter Generalverdacht, ja unter Anklage: Sie sollen erheblich an der Entstehung von altersbedingten Krankheiten wie Krebs, Arteriosklerose und Diabetes mellitus beteiligt und auch Mittäter bei Parkinson und Alzheimer sein. Also: Obwohl die antioxidative Schutzwirkung von Salat und Gemüse, von Vitamin C und E, sowie von Q10 bis heute nicht eindeutig nachgewiesen ist, scheint es immer noch sinnvoll zu sein, darin geradezu zu baden.

      Wie gesagt: Sie müssen stark sein. Nun geht es weiter mit dem, was unser Körper an Selbstzerstörungsmethoden auf Lager hat.

      Eine weitere wissenschaftlich akzeptierte Theorie im Mosaik der Degenerationsprozesse ist die »Telomertheorie«.

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      Telomere erinnern an Hartkapseln, die die Enden unserer Schnürsenkel schützen. Die schützenden Enden nehmen im Alter ab.

      Telomere sind die Schutzkapseln am Ende der in der arbeitenden Zelle ordentlich zusammengefalteten und aufgerollten Chromosomen. Sie sorgen dafür, dass die 46 Chromosomen in jeder unserer Zellen weder untereinander verkleben noch verhaken – und, dass die Zellteilungen, bei denen sich sämtliche Chromosomen auswickeln und verdoppeln, schön geordnet ablaufen.

      Was die beiden Nobelpreisträger BARBARA McCLINTOCK und HERMANN JOSEPH MULLER über diese Schutzkapseln herausfanden, war eine Sensation: Mit jeder Zellteilung verkürzen sie sich an den Chromosomenenden ganz leicht. Und das Bestürzende dabei ist: Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der Kürze der Telomere und dem Alter. Je kürzer die Telomere, desto weiter fortgeschritten ist der Alterungsprozess.

      Und wenn die Kapselenden eine bestimmte Kürze erreicht haben, dann hört die Zelle auf, sich zu teilen. Aus, basta. Dann beginnt im besten Falle die Selbstzerstörung der Zelle: Dieser programmierte Zelltod wird als »Apoptose« bezeichnet. Schlimmer wird es, wenn die Zelle plötzlich anders tickt als vorgesehen – oder gar Amok läuft. Dann kann im schlimmsten Fall sogar Krebs drohen, dann degenerieren ganze Gewebe.

ALTERTELOMERLÄNGE (Anzahl Basenpaare)
Neugeborenes10.000
35-Jährige7500
65-Jährige4800

      Mit diesen bahnbrechenden Enthüllungen zu der Funktion der Telomere konnten die Forscher eine frühere, ebenso bedeutsame Erkenntnis von LEONARD HAYFLICK begründen. Der hatte nämlich schon 1965 mit der verbreiteten Auffassung aufgeräumt, dass sich unsere Zellen ewig weiter und weiter teilen würden. Wie bei den Einzellern halt. Nix da! Zumindest der allergrößte Teil unserer Körperzellen hat nur eine bestimmte Zahl von Teilungen im Köcher … bis sie sich zunächst nur noch ganz langsam, später aber