Die einzige Begleiterin, die uns garantiert nie von der Seite weicht, ist unsere Sterblichkeit. Diese Gewissheit dürfte Ihnen das vorangehende Kapitel nochmals unerbittlicher nähergebracht haben als Ihnen vielleicht lieb ist.
Doch da waren auch andere Botschaften und die lassen uns durchaus staunen. Allem voran steht die schier unglaubliche Regenerations- und Erneuerungsfähigkeit unseres Körpers. Sagenhafte 50 Millionen Zellen bildet jeder von uns neu – und zwar pro Sekunde. Weil 50 Millionen Zellen verloren gehen im Sekundentakt. »Ja, dann wird doch jeden Tag ein großer Teil meines Körpers ersetzt«, denken wir uns – und schauen nicht nur auf Haut, Haare, Nägel. Das stimmt nicht ganz. 50 Millionen Zellen sekündlich neu – das sind nur winzig kleine Reparaturen. Denn unser Körper hat so unfassbar viel mehr Zellen in Gebrauch, dass uns schwindlig wird: 100 Billionen nämlich, also bitte: 100.000.000.000.000!
Würden die Zellen unseres Körpers – jede ist etwa ein 40stel Millimeter groß – aneinandergelegt, reichte diese mikrofeine Zellkette 60-mal um die Erde herum. Denn sie wäre zweieinhalb Millionen Kilometer lang. Das relativiert die Sache mit den 50 Millionen ausgetauschter Zellen pro Sekunde deutlich – aber es ist dennoch eine geniale Sache. Sie beleuchtet die enorme Regenerationsfähigkeit unseres Körpers. Ein Wunder! Und dieses Wunder hat zur Folge, dass der Körper, den wir mit uns herumtragen, viel jünger ist als unser Bewusstsein. Über eine längere Zeitspanne betrachtet, wird unser Körpermaterial alle sieben Jahre komplett ersetzt. Na ja, nicht alles. Aber immerhin rund 90 Prozent. Welch eine Leistung!
Manche Zellen tun uns allerdings den Gefallen des wartungsmäßigen Austauschs leider nie. Nervenzellen gehören dazu. Jedenfalls fast alle, denn eine sehr geringe Neuronen-Neubildung findet routinemäßig statt. Die Sehzellen der Netzhaut können gar nicht ausgetauscht werden – deshalb ist ihre Degeneration mit irreversiblen Sehstörungen verbunden. Magenzellen leben knapp zwei Tage, Dünndarmzellen noch kürzer, nämlich nur 1,4 Tage. Im Dickdarm sind die Zellen immerhin zehn Tage lang aktiv. Da all diese Zellen des Verdauungstraktes relativ häufig mit giftigen Stoffen in Berührung kommen, wird hier lieber ständig ausgewechselt. Anders in den Knochen: Dort können es sich die Zellen 25 bis 30 Jahre gemütlich machen.
Übrigens: Wer sich jetzt kritisch an die Telomere erinnert und an die begrenzte Zahl der möglichen Teilungen, bis eine Zelle in Altersstarre versinkt und ausgemustert wird – dem sei gesagt: Für fast alle dieser schnellen Erneuerungsprozesse stehen Stammzellen parat. Ohne sie wäre eine Produktion von 50 Millionen Zellen pro Sekunde niemals möglich. Und jetzt kommt die Frage der Fragen! Sie ahnen es: Wenn wir denn über dieses geradezu geniale Reparatur- und Erneuerungssystem verfügen, wieso, verflixt nochmal, versagt es denn dann so kläglich mit den Jahren? Könnte es vielleicht eine Erklärung geben, die viel tiefer liegt als alles, was die Alterstheorien bislang zutage gefördert haben? Die schier unübersehbare, komplexe Fülle an Alterungsprozessen und -theorien – kann man denen weiter auf den Grund gehen und nach generalisierbaren, übergreifenden Degenerationsprozessen suchen, die das Altern und seine vielen ungünstigen Ausfallserscheinungen begründen?
Gibt es also eine Art Grundmechanismus des Alterns? Und wenn dem so sein sollte, dann wollen wir natürlich wissen: Könnte man, wenn man genau an dieser Stelle eingreift, den Alterungsprozess zumindest verlangsamen? Oder – kühn gedacht – sogar umkehren? Wäre dann so etwas wie »gesundes Altern« möglich? Die Regenerationsmedizin arbeitet daran. Es ist eine junge Richtung von Forschung und Therapie, die Krankheiten und Verletzungen an der Wurzel heilen will. Funktionsgestörte Zellen, fehlprogrammierte Gewebe und »kranke« Organe will sie regenerieren, indem sie körpereigene Reparaturmechanismen stimuliert und reaktiviert. Oder sie versorgt den Körper mit biologisch gezüchtetem Ersatz wie zum Beispiel mit Knorpelmaterial, Knochen oder Haut. Die Stammzellenforschung spielt hierbei eine große Rolle.
Die Zellen – und so kommen wir zu unserem Eingangszitat, das einen wunderbaren literarisch-philosophischen Perspektivenwechsel anregt. Goethes »… so musst du das Ganze im Kleinsten erblicken« soll uns im Folgenden leiten, wenn wir den »Kern vom Kern« des Alterns verstehen und dann auch zu steuern lernen wollen.
Neben der anspruchsvollen und erfüllenden klinischen Tätigkeit als Mediziner verbringe ich (Dominik) einen großen Teil meiner Zeit mit Forschung. Der Hauptgrund für meine Faszination lautet: Ein medizinischer Erfolg wirkt sich direkt auf den betreffenden Patienten aus. Ein Forschungserfolg aber hat Einfluss auf die Weltbevölkerung und nicht nur auf die 5000 bis 10.000 persönlichen Patienten, die ein plastischer Chirurg normalerweise im Laufe seines Berufslebens operieren kann. Sogar kleine, oftmals auf den ersten Blick unscheinbare Fortschritte in der Wissenschaft können die medizinische Praxis nachhaltig verändern und somit das Leben von Patienten weltweit beeinflussen. Ohne Forschung sind wir Ärzte nur Küchenjungen, die immer wieder die Rezepte der alten Meister nachkochen. Immer wieder die gleichen Gerichte – das war von Anfang an für mich zu wenig. Mein Wunsch, neue Erkenntnisse zu gewinnen, ist der Grund, warum die scheinbar endlosen Möglichkeiten des jungen Feldes der regenerativen Medizin einen besonderen Reiz für mich darstellen. Die Gewebe- und Organregeneration ist ein aufstrebendes Gebiet und birgt enormes Zukunftspotenzial. Bahnbrechende Erfolge wie die Entdeckung der Fähigkeiten embryonaler Stammzellen oder die Züchtung ganzer Köperteile im Labor (der eine oder andere erinnert sich an die Maus mit dem menschlichen Ohr auf dem Rücken) weckten mein Interesse. Ich wollte unbedingt an dieser Forschungsbewegung teilnehmen. Mein Grundsatz lautet seit jeher: Neues stets von den Besten lernen. Und so verbrachte ich zwei Jahre im Mekka für Regenerative Medizin, dem »Hagey Laboratory for Regenerative Medicine« und am »Institute for Stem Cell Biology and Regenerative Medicine« der Stanford University (Palo Alto, Kalifornien), um an der Verbesserung der Gewebsregeneration im Alter zu forschen.
Aus der alltäglichen klinischen Erfahrung wusste ich, dass ältere Patienten nach Operationen oftmals besonders komplikationsgeplagt sind und dass viele chronische Krankheiten als altersbedingt gelten. Im Alter ist die Regenerationsfähigkeit aller Gewebe drastisch herabgesetzt. Doch was steckt hinter diesem Phänomen? Warum heilen Wunden bei alten Patienten schlechter und warum werden wir mit dem Alter dement, erkranken an Alzheimer, bekommen häufiger Herzinfarkte und erholen uns davon schlechter?
Im Zuge meiner Forschung musste ich leider erkennen, dass die Zellen alter Patienten in ihrer Funktion stark eingeschränkt sind. Meine Ergebnisse zeigten eindrucksvoll, dass alte Stammzellen ihre regenerativen Eigenschaften verlieren, dass Reparatursignalwege in alten Zellen zum Erliegen kommen und dass der Abbau von Schadstoffen in der Zelle an Effektivität verliert. All diese Erkenntnisse führten zu Publikationen in wissenschaftlichen Journalen höchsten Ranges. Doch was bedeuteten sie für mich und meine Patienten? Was bedeuteten sie für uns alle? Die eine oder andere Form der »Zellschwäche« ist der Grund für viele Probleme und Krankheiten des Alters. Aber wie hängt das alles zusammen? Diese Fragen ließen mir keine Ruhe.
Anfang 2015 spazierte ich an einem angenehm sonnigen kalifornischen Wintertag den kurzen Weg von meinem Apartment in der Sand Hill Road in Palo Alto in Richtung Labor. Mein Forschungsgebäude an der Stanford University war kaum fünf Minuten weit weg und während dieses Fußmarsches plante ich gewohnheitsmäßig die Experimente des Tages. Doch meine Gedanken kreisten weiterhin um diese Themen: Wenn »Zellschwäche« das Problem ist, was ist dann eigentlich »Zellstärke«? Was macht eine gesunde, starke Zelle aus? Obwohl sie, die 100 Billionen Zellen, die wir alle besitzen, die kleinsten Einheiten unseres Organismus sind, sind sie geradezu unheimlich komplex organisiert und teilen sich viele Eigenschaften mit uns, dem Gesamtorganismus. Zellen leben und sterben. Sie können sich auch bis zu einem gewissen Grad reparieren, sich selbst heilen, allerdings nur, wenn sie gesund sind. Was sind die grundlegendsten Fähigkeiten, die Zelle haben sollten, um zu funktionieren? Ähnlich wie der menschliche Gesamtorganismus müssen Zellen sich selbst erneuern können, wenn sie beschädigt werden, Energie aus Nährstoffen und Sauerstoff produzieren können, um ihren Stoffwechsel am Laufen zu halten, und die Abfälle, die dabei entstehen, wieder entsorgen, sie müssen sich also entgiften können. Meine Erkenntnisse aus dem Labor beleuchteten zwar Mechanismen, wie Zellen so manche wichtige Fähigkeit im Alter verlieren, jedoch waren dies nur Teilaspekte des Problems. Zellgesundheit ist Voraussetzung für kompetente Zellen, also Zellen, die ihre Aufgaben im Gewebeverbund und Organismus korrekt ausführen können. Und da traf mich die Erkenntnis: