Thomas H. Huber

Hexenkolk - Wiege des Fluchs


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Rande eines gepflegten Parks lag. Es waren sieben Männer und sechs Frauen. Einer der Männer war sehr groß und trug eine dunkelbraune Mönchskutte. Er überragte alle anderen um fast einen halben Meter. Ob sie Touristen waren, oder vielleicht einer Theatergruppe angehörten, hätte niemand genau sagen können. Seltsam erschien nur ihre Kleidung, die an eine weit zurückliegende Zeit erinnerte. Die Stoffe ihrer Kleider, Hosen und Jacken waren grob, wobei die Farben grau und beige überwogen. Ihr Schuhwerk ähnelte dem von mittelalterlichen Bauern. Nur eine der sechs Frauen trug ein modernes, schwarzes Etuikleid und Pumps, wodurch sie sich vom Rest der Gruppe deutlich abhob. Der große Mann in der Kutte war entweder ihr Reiseleiter oder der Regisseur, denn er führte sie an und erklärte ihnen bei jedem Schritt, wo sie sich gerade befanden: „Ja, meine Freunde, das ist das moderne Herford der Gegenwart. Momentan befinden wir uns im Aawiesen-Park. Das kleine Wäldchen, aus dem wir gerade gekommen sind, war früher mal ein Friedhof, aber das haben Sie anhand der herumstehenden Grabsteine sicherlich schon bemerkt. Nun gehen wir mal eine kleine Runde über den Stadtwall, oder besser gesagt über das, was seit dem Mittelalter noch von ihm übriggeblieben ist“. Vor ihnen lag eine prächtige Lindenallee, die gesäumt war von Jugendstilvillen und hübsch restaurierten Fachwerkhäusern. Sie gingen etwa eine halbe Stunde auf dem Wall entlang und überquerten dabei immer mal wieder eine Straße. Manchmal blieben Passanten stehen und beäugten die seltsam gekleidete Truppe voller Neugier. Einige von ihnen grüßten die Fremden freundlich, andere ließen sie mit offenem Mund an sich vorüberziehen. „Was Sie jetzt gleich auf der linken Seite sehen werden, kennen Sie ganz bestimmt“, kommentierte der Anführer der Gruppe nicht ohne Stolz in der sonoren Stimme. Und in der Tat, jeder von ihnen erkannte das außergewöhnliche Gebäude sofort wieder. Die rot verklinkerten Mauern, bei denen es keinen rechten Winkel gab, schienen kreuz und quer in den Himmel zu ragen. „Das ist das MARTa, das hiesige Kunstmuseum. Entworfen und geplant von einem unserer Landsleute, dem Architekten Frank Owen Gehry. Von ihm ist auch das berühmte Guggenheim-Museum in Bilbao und das Weis Art Museum in Minneapolis, wie Sie vielleicht wissen“. Das Museum glich eher einer organischen Masse, als einem Gebäude aus Stein und Metall, und zog aufgrund seiner Einzigartigkeit zwangsläufig sämtliche Blicke auf sich. Nach weiteren zehn Gehminuten, sprach er erneut: „Durch dieses Tor haben wir damals die Stadt betreten, erinnern Sie sich? Man nennt es auch heute noch das Steintor“ Aber keiner von ihnen wusste, wo sie sich gerade befanden, schließlich lagen zwischen dem heutigen und ihrem damaligen Besuch knapp vierhundert Jahre. Und außerdem war von dem alten Stadttor nicht mehr viel zu sehen. Als sie jedoch nach wenigen Gehminuten, und dem Durchqueren enger Gassen innerhalb der ehemaligen Stadtmauer die Münsterkirche sahen, deren Kalksteinmauern golden in der Sonne leuchteten, freuten sie sich wie Kinder. „Sie sieht aus wie damals“, rief die älteste Frau der Gruppe aufgeregt, und der Mann neben ihr fügte stolz hinzu: „Kaum zu fassen, dass wir schon einmal hier waren“. Sie blieben vor dem großen, gotischen Eingangsportal stehen und staunten, wie gut der Bau erhalten war. „Wussten Sie, dass sie so alt ist wie Notre Dame? Nur spricht kaum jemand darüber, ein echter Jammer“, seufzte er. Natürlich hatte sich das angrenzende Stadtbild seit ihrem letzten Besuch wesentlich verändert, doch noch immer konnten sie das mittelalterliche Flair fühlen. Auf den ehemals freien Feldern standen nun Wohnhäuser und gegenüber der Kirche lag jetzt ein prächtiges, neobarockes Gebäude, in dem die Büros des Bürgermeisters und der städtischen Angestellten untergebracht waren. Als sie jedoch um die Kirche herumgingen, fühlten sie sich wieder in der Zeit zurückversetzt. Heute war dort wohl kein Markt mehr, aber es schien, als hätten die Pflastersteine alle Geräusche und Gerüche von einst in ihrem Inneren gespeichert. Sie hörten plötzlich wieder die Marktfrauen schreien, sahen vor ihrem geistigen Auge die Barden und Feuerschlucker, und natürlich auch die Scheiterhaufen am Rande des Platzes, auf denen unbescholtene Frauen ihr schmerzhaftes Ende fanden. „Durch diese Tür sind wir damals hineingegangen“, sagte einer der Männer und zeigte auf die Südseite der Kirche. „Ohne Wilhelm wären wir dort weder rein, noch rausgekommen“. „Ich würde sagen, ohne unsere Goldmünzen hättet ihr das nicht geschafft“, fügte der Reiseleiter lachend hinzu.

      Dann führte er sie am ehemaligen Abteigelände vorbei, wieder in Richtung Radewig, dem ältesten Herforder Stadtteil. Als sie vor dem Hexenkolk stehenblieben, schmiegte sich die modern gekleidete Frau ganz nah an den großen Mann, der ihr auf väterliche Art seinen Arm um die Schultern legte: „Für Sie muss dieser Anblick furchtbar schrecklich sein. Wollen Sie vielleicht schon einmal weitergehen?“ Aber die Frau schüttelte vehement den Kopf. „Es ist ja glücklicherweise vorbei. Ich komme darüber hinweg“. Danach schlenderten sie wieder durch den Park, beobachteten Eltern, die ihren Kindern beim Spielen zusahen, und betraten schließlich wieder das kleine Wäldchen. Vor einer Nebelwand, die wie waberndes Quecksilber aussah, blieben sie kurz stehen, bevor einer nach dem anderen darin verschwand.

      Foto: iStock/Thomas H. Huber

      NEW YORK, MELISSA UND JEREMIAH

      31. Dezember 2010

      Es war Liebe auf den ersten Blick und es war Silvester. Jeremiah Clover stand bereits seit Stunden mit ein paar Freunden auf dem Broadway Ecke 47. Straße. Wie in jedem Jahr, wollten sie auch heute wieder beim Ball-Drop dabei sein, New Yorks berühmtestem Silvesterevent. Wenn man eine gute Sicht auf den Ball haben wollte, musste man sich allerdings sehr früh an Ort und Stelle einfinden, am besten schon nachmittags. Nun war es bereits kurz vor Mitternacht und Jeremiah steckte seine behandschuhten Hände noch tiefer in die Taschen seines Parkas, um sich gegen die frostigen Temperaturen der Nachtluft zu wappnen. Dabei trat er von einem Bein aufs andere, damit sein Blutkreislauf nicht ins Stocken geriet. Er arbeitete als Bauarbeiter und war an Kälte gewöhnt. Doch dabei bewegte er sich in der Regel, und stand nicht bewegungslos im Schnee, so wie an diesem Silvestertag. Jeremiah war fünfunddreißig Jahre alt und arbeitete gern in seinem Beruf. Obwohl er ein abgeschlossenes Studium in Maschinenbau hatte, entschloss er sich für diesen Job an der frischen Luft. Kritische Zeitgenossen könnten jetzt durchaus behaupten, dass New York nicht für seine besonders frische und reine Luft bekannt ist. Andere hingegen, würden darauf antworten, dass sie dafür jedoch von etwas ganz Besonderem erfüllt ist, nämlich mit Leben.

      Wenn man sich durch die überfüllten Straßen schlängelt, hat man tatsächlich den Eindruck, als befänden sich alle Einwohner zur gleichen Zeit auf den Gehwegen und in den Parkanlagen. Überall sieht man Gesichter, soweit das Auge auch reicht. Mal strahlen sie freundlich, mal sind sie mürrisch. Ein anderes Mal verängstigt, dann wieder mutig und voller Selbstvertrauen. Die Gesichter haben alle Farben und ihre Besitzer entstammen den unterschiedlichsten Ethnizitäten. In New York hat man das wahrhaftige Gefühl, Weltbürger zu sein, und gleichzeitig könnte man meinen, die ganze Welt würde sich an diesem Ort befinden. Und genau dieses Empfinden war der eigentliche Grund. für Jeremiahs Entscheidung. Er wollte jeden Tag im Zentrum dieser globalen Vernetzung sein und welcher Job hätte sich da besser geeignet, als der eines Straßenbau-Arbeiters. Er hätte es sich nicht vorstellen können, eingesperrt in einem Büro zu sitzen und Pläne zu zeichnen. Sein Job bot ihm alles, was er zum Leben brauchte, und das war die Nähe zum Leben, zu den Menschen. Deshalb begab er sich auch an diesem besonders kalten Silvesterabend wieder ins Herz dieser wundervollen Stadt.

      Bereits am Morgen fielen die ersten Schneeflocken und mit ihnen die Temperaturen. Jetzt schneite es wohl auch noch, doch glücklicherweise nicht mehr so stark wie noch wenige Stunden zuvor. Das hätte ihnen die schöne Aussicht auf das gesamte Spektakel vermasselt und das stundenlange Warten wäre umsonst gewesen. Gerade als er eine Schneeflocke beobachtete, wie sie sich sanft auf die Nasenspitze seines Freundes und Arbeitskollegen, Sammy, legte, und sich innerhalb eines Wimpernschlags in einen winzigen Wassertropfen verwandelte, sah er sie, eine Frau in seinem Alter. Sie hatte langes dunkles Haar, das üppig unter einer purpurroten Strickmütze hervorquoll. Sie trug nahezu den gleichen Parka wie er, und auch sie hatte ihre linke Hand tief in dessen Seitentasche vergraben. In der rechten Hand trug sie einen Koffer und sah damit wie eine Touristin aus, die gerade die schönste Stadt der Welt besuchte. Als sich ihre Blicke trafen wussten beide sofort, was mit ihnen geschah. Die meisten Menschen hätten es als Liebe auf den ersten Blick bezeichnet, aber in ihrem Fall schien es so zu sein, als