Thomas H. Huber

Hexenkolk - Wiege des Fluchs


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Tages, „wollen wir uns Terminator ansehen und noch ein paar Bier trinken?“ Jonathan sah Jack unsicher an, offenbar irritiert, dass sein Freund ihn nicht in eine Bar im Rotlichtviertel schleppen wollte, und nickte: „Ja, prima, gute Idee“.

      NEW YORK, CONOR MATHESON, 2019

      In der Klasse herrschte das reinste Tohuwabohu. Erst als Conor die Zimmertür lautstark ins Schloss fallen ließ, bemerkten die tobenden Schüler die Anwesenheit ihres Mathelehrers. Mit hochroten Gesichtern, vollkommen aufgewühlt von den Raufereien in der Pause, begaben sie sich nun in wildem Durcheinander auf ihre Plätze.

      Conor stand lächelnd neben seinem Pult und erinnerte sich an seine Schulzeit in der 3. Klasse. Es hatte sich seitdem nicht viel verändert. Zumindest nicht bei den Kindern in diesem Alter. Sie liebten es, ihre Kräfte zu messen, und verloren sich bei körperlichen Aktivitäten vollkommen im Hier und Jetzt, genau wie er und seine damaligen Klassenkameraden. Die älteren Schüler in den höheren Klassen, unterschieden sich in ihrem Verhalten allerdings sehr deutlich von denen aus seiner Zeit. Während man damals in Grüppchen zusammensaß und darüber grübelte, wie man die Welt verbessern konnte, hatte man heutzutage den Eindruck, dass jeder für sich allein blieb. Abgeschottet von der Außenwelt, galt ihre ganze Aufmerksamkeit nur einem einzigen Freund, dem Smartphone. Ob allein, am Schreibtisch sitzend, beim Gehen oder sonstigen Tätigkeiten, starrten sie auf das Display und chatteten mit bekannten und auch fremden Personen. Sie waren nie wirklich anwesend, zumindest hatte man den Eindruck, wenn man in ihre gelangweilten Gesichter sah.

      Conor entschied sich relativ früh für seinen Beruf. Schon während der High-School stand für ihn fest: „Ich will Lehrer werden, und zwar Lehrer der Theologie und der Mathematik“. An seinem achtzehnten Geburtstag wurde er allerdings von etwas heimgesucht, das sein Bewusstsein vernebelte, ihm seine Klarheit nahm. Von da an konnte er seine Umwelt nur noch durch einen dicken, nahezu undurchlässigen Schleier wahrnehmen. Nicht, dass er sich dabei krank gefühlt hätte, nein, ganz im Gegenteil, er fühlte sich kraftvoll und lebendig. Trotzdem hatte sich irgendwie alles verändert. Er fühlte sich als Sonderling, als Einzelgänger.

      Heute war aus seiner Sicht alles wieder in Ordnung, bis auf ein paar unerklärliche Blackouts, die er weder auf Alkohol noch auf Drogen zurückführen konnte, denn er nahm keine der beiden Substanzen im Übermaß zu sich. Er war auch durchaus davon überzeugt, eine Beziehung mit einem anderen Lebewesen eingehen zu können, doch einen Partner hatte er bislang nicht gefunden. Lag es vielleicht daran, dass er ein schräger Vogel war, der alles um sich herum mit Zahlen messen musste? Zugegeben, manchmal verlor er sich tatsächlich in seinen Berechnungen, ganz gleich ob es sich dabei um derart banale Dinge wie sein Haushaltsbudget drehte, den exakten Kraftstoffverbrauch seines Autos, oder die Dimensionen unseres Sonnensystems im Vergleich zur gesamten Größe des Universums. Alles, was sich um ihn herum abspielte, musste er auf irgendeine Weise berechenbar machen. Newtons Welt der Gravitation und Einsteins Relativitätstheorie fesselten ihn seit seiner Volljährigkeit so sehr, dass er sich heute oftmals darin verlor. Aber dennoch war er ein netter, aufgeschlossener Kerl, ein Mensch mit großem Herzen, wie man meinen könnte. Er war gepflegt, humorvoll, hatte ein ganz passables Einkommen und, wie er vor seinem Spiegelbild oftmals selbst betonte, sah er nicht übel aus.

      Aufgrund seiner Liebe für den Kosmos, die der Schleier damals auch mit sich brachte, hatte er sich einen 3D-Beamer angeschafft, selbstverständlich mit allem was dazugehört. 3D-Brillen, eine für ihn selbst, zwei für mögliche Freunde, eine Soundanlage und unzählige Filme, natürlich alle rein wissenschaftlicher Natur. „Heute Abend sehe ich mir einen IMAX-Film an. Hubble in 3D. Hast du Lust rüberzukommen?“ fragte er Charly, das Handy dabei fest ans Ohr gepresst. Charly war ein Freund aus der Nachbarschaft. „Na klar, gerne. Ich habe diese Woche aber Bereitschaftsdienst. Kann sein, dass ich zwischendurch wegmuss“. Natürlich wusste Conor, dass Charly Sanitäter war und regelmäßig zu Einsätzen gerufen wurde. Er sagte oft zu dem schüchternen, liebenswürdigen Mann, dass er ihn für seinen Mut bewunderte. „Ich könnte das nicht“, betonte er immer wieder, „blutige Menschen aus dem Auto ziehen, davor gruselt es mich“. Dabei schüttelte er sich immer und schlug dem netten Charly anerkennend auf die Schulter: „Gut, dass es Menschen wie dich gibt“.

      Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, klingelte es auch schon an der Tür. „Ich habe uns eine Tüte Chips mitgebracht. Ist gut für die Nerven“, lächelte Charly, der in voller Berufsmontur vor der Tür stand. „Mach es dir bequem, die Vorstellung geht gleich los“, sagte Conor aufgeregt. Er konnte es kaum abwarten, endlich ins All hinauszufliegen, wenn auch nur auf der Leinwand, die in seinem Fall eine nackte, weiß getünchte Wohnzimmerwand war. „Dreieinhalb Meter Bilddiagonale“, schwärmte er und Charly nickte anerkennend. Als sie beide auf der Couch platzgenommen und die 3D-Brillen aufgesetzt hatten, kommentierte Conor voller Vorfreude: „Tataaa, und nun geht’s los“. Allein das Intro entlockte den beiden Zuschauern ein entzücktes „Ahhh!“ Riesige Ziffern erschienen als Countdown auf der Bildfläche und flogen auf sie zu, woraufhin die beiden Männer unbewusst mit dem Oberkörper eine Ausweichbewegung machten und lachten. 5, 4, 3, 2, 1 und…. „Wow“ rief Charly begeistert, „das ist ja besser als im Kino“, und bemerkte dabei nicht, wie viel Stolz in diesem Moment in Conors Augen leuchtete, gerade so, als hätte er den Film selbst gedreht.

      Dann hörten sie in gewaltigem Sound die Stimme von Leonardo DiCaprio, die ihren Ausflug ins Weltall begleitete. Zuerst führte er sie ins Spaceshuttle, dann in ein riesiges Wasserbecken, in dem die Astronauten ihre Arbeit in der Schwerelosigkeit trainierten, und letztlich zu den Geburtsstätten der Sterne. „Das ist Wissenschaft zum Anfassen“, postulierte Conor, wobei er das Gefühl hatte vor seiner Klasse zu stehen, um seine Faszination für Mathematik und Astrophysik zum Ausdruck zu bringen.

      Genau wie Conor, liebte auch Charly seinen Job. Verletzten zu helfen, war seine Leidenschaft. Zum Medizinstudium reichte es allerdings nie. Es war nicht so, dass er dazu nicht genügend Grips gehabt hätte das Studium zu schaffen, nein, es war eher seine finanzielle Lage, die ihm das unmöglich machte. Er kam aus einem armen Haus, seine Eltern, Miguel und Bonita Rodrigues, beide mexikanische Einwanderer, hatten kaum genug Geld, um die sechsköpfige Familie zu ernähren. Von Kindesbeinen an musste er arbeiten, um seinen kargen Lohn mit der Familie zu teilen. Deshalb entschied er sich irgendwann für das Nächstbeste und wurde Rettungssanitäter.

      Kurz nachdem er seine erste feste Anstellung hatte, zog er von Zuhause aus und mietete sich eine kleine Wohnung in Brooklyn. Nicht gerade die beste Lage, aber hier aus hatte er es nicht weit zur Arbeit, und es war ein Ort, an dem er ein beschauliches, und vor allem, anonymes Leben führen konnte, denn er trug ein Geheimnis mit sich herum, von dem niemand jemals etwas erfahren sollte. Nicht einmal seine Eltern wussten davon, und schon gar nicht seine früheren Freunde. Charly war nämlich schwul und dafür schämte er sich. Wenn seine Clique davon Wind bekommen hätte, wären sie über ihn hergefallen und hätten ihn vermutlich zu Tode geprügelt. Schließlich musste er das selbst oft genug mit ansehen. „Taco-Schwuchtel oder Latino-Schwuchtel“ nannten sie Seinesgleichen, und dann quälten sie die armen Schweine, traten auf sie ein, bis sie nur noch ein blutendes Häufchen Elend waren. Einige davon haben diese Tortur auch nicht überlebt. Deshalb verließ er seinen Heimatort und war dankbar dafür, so gute Nachbarn wie Conor zu haben.

      Auch seine Kollegen waren zweifelsfrei nett, und ein paar von ihnen waren ebenfalls schwul, doch geoutet hätte er sich trotzdem nie.

      Seine Angst, wegen seiner Homosexualität ausgeschlossen zu werden war größer, als sein Wunsch nach einer Partnerschaft und einem freien, selbstbestimmten Leben. Deshalb blieb er lieber allein, und im Grunde genommen existierte er nur für seine Arbeit. Wenn da nicht hin und wieder die Einladungen von Conor gekommen wären, hätte er nur selten Gelegenheit für private Gespräche gehabt. Doch glücklicherweise gab es diesen netten, charmanten Nachbarn. Bei ihm fühlte er sich sicher und geborgen, obwohl er nicht einmal ihm sein dunkles Geheimnis anvertraut hatte.

      Doch er würde dies in Kürze nachholen, sagte er sich jedes Mal, wenn er Conors Wohnung wieder verließ, mit einem klitzekleinen Gefühl der Hoffnung in der Magengrube, dass er und Conor ein Paar würden.

      NEW YORK, THERAPEUTISCHE PRAXIS