Kehle hinunterglitt. Währenddessen erschienen Bilder vor seinem geistigen Auge, schreckliche Bilder, voller Blut und Verderben. Frauen, Männer und Kinder, die missbraucht und gequält wurden. Er sah Menschen grauenvoll sterben und er sah, dass er es war, der diese Taten begangen hatte. „Neeeiin, das war ich nicht. So etwas könnte ich niemals tun“, schrie er voller Furcht und Abneigung. Aber als der Nebel vollkommen in ihm verschwunden war, wusste er, dass es die Erinnerungen des Mönchs waren, der nun seinen Körper und seine Seele in Besitz genommen hatte. Als er einen letzten Blick nach außen richtete, konnte er erkennen, dass der Riese in der Kutte zu seinen Füßen lag. Dann senkte sich eine abgrundtiefe Dunkelheit auf seinen Geist hernieder.
NEW YORK, JONATHAN KRAMER
Dr. WILLIAM SUTHERFORD TEIL 1
21. AUGUST 2019
Es war ein Dessous Geschäft. Kein namhaftes, wie Victoria's Secret oder Bravissimo, nein, es war ein sehr unscheinbarer Laden mit dem Namen „Lady´s“. Unsicher trat er über die Türschwelle und erschrak fürchterlich, als dabei eine schrille Glocke aufheulte. Offenbar wurde diese über einen Bewegungsmelder aktiviert und kündigte mit einem wahnsinnigen Lärm neue Kundschaft an.
Sogleich kam eine Verkäuferin mit breitem Lächeln auf ihn zu. Sie war die Art Frau, vor der Jonathan sich insgeheim fürchtete. „Ein Vamp“, durchzuckte es ihn. Sie hatte nahezu hüftlanges, schwarzes Haar, welches im Neonlicht bläulich schimmerte. Sie trug ein sehr enganliegendes, karminrotes Kleid, das bis knapp über ihre Knie reichte und schwarze, wildlederne High-Heels. Ihr Lippenstift, im gleichen Rot wie ihr Kleid, ließ ihren Mund riesig aussehen, und wurde auf diese Weise zu einem optischen Highlight, das perfekt zu ihren Brüsten passte, die üppig aus dem Dekolleté quollen. Jonathan hielt einen gebührenden Sicherheitsabstand, lächelte aber freundlich zurück. „Was kann ich für Sie tun?“ fragte sie noch immer strahlend. Jonathan fragte sich, ob ihr Lächeln das Ergebnis einer Schönheitsoperation war, sozusagen eine in Stein gemeißelte Permanent-Mimik, da sich ihre Gesichtszüge niemals zu verändern schienen. Jonathan hätte Gabrielle, ihr Name stand auf einem goldenen Namensschild, das unterhalb ihres gewaltigen Ausschnitts baumelte, nicht unbedingt als echte Schönheit bezeichnen können, aber hässlich fand er sie auch nicht. So entschloss er sich, sie unter charismatisch, interessant und einzigartig einzustufen, aber unter keinen Umständen sah sie der Frau ähnlich, die er zwei Tage zuvor im Schaufenster gesehen hatte. Verlegen trat er von einem Bein aufs andere, bevor er räuspernd hervorbrachte: „Hören Sie, äh, Gabrielle, ich…. Ich, äh…“ Gabrielle musterte ihn grinsend und fiel ihm in sein Stammeln: „Hören Sie…, wie ist Ihr Name?“ „Jo…Jon…Jonathan, ich heiße Jonathan!“ Dann schwieg sie und zog angestrengt ihre Augenbrauen zusammen. „Oh, sie kann ihre Gesichtsmuskulatur ja doch steuern“, dachte Jonathan, als Gabrielle ihn mit ungläubigem Blick fragte: „Sie sind Jonathan Kramer, der Schriftsteller, stimmt´s?“ Jonathan, der leidenschaftlich gerne schrieb, von der dazugehörenden Publicity aber nichts wissen wollte, antwortete nur knapp: „Ja, das stimmt!“. „Oh mein Gott“, jaulte Gabrielle, „Jonathan Kramer, der berühmte Autor, ist in meinem Laden. Ich fühle mich geehrt“. Sie erweckte den Eindruck, als wollte sie jeden Moment die Tür aufreißen und die Neuigkeit hinaus auf die 5th Avenue brüllen. „Ist ja gut“, beschwichtigte Jonathan, sichtbar peinlich berührt von der überschwänglichen Reaktion der Ladenbesitzerin. „Ich habe Ihren Roman förmlich verschlungen. Der ist ja so was von spannend. Ganz besonders hat mir die Szene gefallen, in der man den Pfaffen festnimmt und es sich herausstellt, dass er tatsächlich der Mörder dieser Kinder war. Herrlich! Dürfen sich Ihre Leser schon auf ein neues Buch von Ihnen freuen?“ Ohne seine Reaktion abzuwarten, redete sie weiter: „Ach, schön, Jonathan, ich darf sie doch Jonathan nennen, nicht?“ Auch jetzt gab sie ihm keine Chance, ihre Frage zu beantworten „Hören Sie, Jonathan, hier kommen täglich Männer rein, die ihrer Frau etwas Schönes kaufen wollen. Seien Sie also ganz entspannt. Ich berate Sie gerne. Wer ist denn die Glückliche?“ Jonathan, dem nun fast der Geduldskragen platzte, starrte auf ihre roten Lippen und rang nach freundlichen Worten: „Ja, äh, Gabrielle, eigentlich möchte ich nichts kaufen, sondern…“ Nun wich Gabrielle, sichtbar irritiert, einen Schritt zurück, bevor sich wieder ihr bizarres Lächeln auf ihrem glatten Gesicht ausbreitete: „Nein, wie dumm von mir, Sie sind auf der Suche nach neuem Stoff für Ihr nächstes Buch, richtig? Oh mein Gott, dieser Tag wird der aufregendste in meinem Leben“. Wieder versuchte Jonathan Ruhe zu bewahren und erwiderte sachlich: „Nein, Gabrielle, das ist es auch nicht“. „Ach, und warum sind Sie dann hier?“ antwortete sie jetzt sichtbar brüskiert, während sie ihren berühmten, aber durchweg unschlüssigen Besucher, von Kopf bis Fuß musterte. Auf Jonathans Stirn bildeten sich ein paar kleine, glänzende Schweißperlen und seine Kehle trocknete aus wie die Serengeti im Hochsommer. Instinktiv nahm er den un-ausgeglichenen Wasserhaushalt seines Körpers wahr, schluckte daraufhin ein paar Mal angestrengt, und sagte schließlich mit zögerlicher Stimme: „Ich suche meine, äh, ich suche eine Frau“. Da begann Gabrielle donnernd zu lachen: „Da sind Sie bei uns aber falsch, mein Lieber. Wir ziehen Frauen an, nicht aus“. Jonathan versuchte über das kehlige Lachen der Verkäuferin hinwegzugehen und fasste nach: „Haben Sie vielleicht eine Kollegin? Sie ist etwa 165 cm groß, braunes, schulterlanges Haar, schlank, und damit meine ich nicht dürr“. Gabrielle rief über ihre Schulter hinweg, ließ Jonathan dabei aber keine Sekunde aus den Augen: „Mandy, kommst du mal?!
Dein Typ wird verlangt. Hier ist Jonathan Kramer, du weißt schon, der Schriftsteller. Er verlangt nach dir“. Dann drehte sie sich um, ließ Jonathan stehen und stöckelte auf ihren hohen Absätzen in Tippelschritten davon, da ihr enges Kleid sie zu dieser Art der Fortbewegung zwang. Kurz darauf kam besagte Mandy in den Verkaufsraum und Jonathan wusste im ersten Moment, dass auch sie es nicht war. Sie war durchaus sein Typ, gemessen an der allgemeinen Bedeutung des Begriffs „Beuteschema“, aber weit entfernt von seiner Idealvorstellung. Früher hätte er sie vielleicht auf einen Drink oder ein nettes Abendessen eingeladen. Doch heute war das für ihn eine unmögliche Vorstellung. Schon im Abstand von fünf Metern wurde ihm klar, dass sie den Anforderungen seines Sensogramms nicht standhielt. Zugegeben, sie war tatsächlich 165 cm groß, ihre Haare und ihre Figur entsprachen schon irgendwie seiner Vorstellung, aber sie hatte weder grüne, noch bernsteinfarbene Augen, und als sie den Mund aufmachte, wusste er wie wichtig es war, auf seine Sinneswahrnehmungen zu achten.
„Hallo, Sie suchen nach mir, Mr. Kramer?“ fragte sie sehr freundlich, jedoch mit einer impertinenten Piepsstimme, die Jonathan erschaudern ließ. Mit gekräuselter Stirn und einem Summen im Ohr, antwortete er: „Äh, wissen Sie, ich glaube, ich habe Sie verwechselt“. Er fühlte sich schlagartig elend. Wie konnte er nur so oberflächlich sein und Menschen im Allgemeinen, und Frauen im Besonderen, nach ihren äußeren Qualitäten einstufen.
„Ah, verstehe“, antworte Mandy mit gesenktem Blick und erweckte mit ihrer Haltung bei ihm den Eindruck, als wäre sie zutiefst enttäuscht, auch wenn das vermutlich nur auf sein schlechtes Gewissen zurückzuführen war. „Verzeihen Sie mir“, sagte er unbeholfen, „tut mir wirklich leid. Ich dachte…“. Dann verstummte er und Mandy antwortete: „Ist schon okay. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“. Da er sich sicher war, seine Frau hinter diesem Schaufenster gesehen zu haben, überlegte er kurz und legte noch eine Frage nach: „Gibt es hier vielleicht noch eine Kollegin, die Ihnen ähnlichsieht?“
Mandy legte nachdenklich einen Zeigefinger auf ihre Lippen, eine Geste, die in Jonathan freudige Erwartung aufsteigen ließ. Doch dann sagte sie äußerst frostig: „Nein, tut mir leid. Schönen Tag noch, Mr. Kramer“. Sie drehte sich um und Jonathan verließ niedergeschlagen das Dessous Geschäft. Er blickte kurz auf seine Armbanduhr und machte sich zu Fuß auf den Weg zum New York Plaza.
Er war dort um 13: 30 Uhr mit einem Reporter der Times verabredet, der mit ihm ein Interview hinsichtlich seines neuen Romans machen wollte.
Um 15: 00 Uhr stand dann ein ganz besonderes Event auf seiner Agenda, ein Vortrag von einem gewissen, Dr. William Sutherford, dem der Ruf eines hervorragenden Paar- und Beziehungstherapeuten vorauseilte. An diesem Tag wollte er die jüngsten Erkenntnisse aus seiner Praxis der Öffentlichkeit vorstellen. Die Überschrift seines Vortrags