wenigen Minuten in einem langatmigen Monolog endete. Da er heute dafür keine Zeit hatte, wechselte er, in weiser Voraussicht, schon ein paar Meter vor der kleinen Backstube die Straßenseite. Er war auf dem Weg zur St. Marien-Kirche, die außerhalb der Stadt auf dem Stiftberg lag. Das Gotteshaus wurde Anfang des 14. Jahrhunderts errichtet, um einer Marienerscheinung zu gedenken, die um das Ende der Jahrtausendwende in Erscheinung getreten sein soll. Der Legende nach war es ein Hirte oder Bettler, dem die Jungfrau Maria in strahlendem Licht erschienen war, als er gerade auf dem Weg zum Kloster um Almosen bettelte.
Priester Alba war ein vom Vatikan abgesandter Hüter dieser Marienerscheinung und er bewohnte seit vielen Jahren eine kleine Wohnung im Ortskern. Da er sich zu den liberalen Katholiken zählte, fühlte er sich in der überwiegend protestantischen Stadt sehr wohl. Herford war für Gläubige der unterschiedlichsten Religionen ein ganz besonderer Ort, denn obwohl sie unmittelbar zum Katholischen Reich gehörte, gab es kein Landesherr, der eine bestimmte Konfession vorgeschrieben hatte. Dadurch entwickelte sich Herford zu einer Stadt, die offen war für viele fremde Kulturen und Glaubensrichtungen.
Man schätzte sich gegenseitig und gestattete jedem, seine religiöse Meinung zu vertreten, ohne ihn dafür zu bestrafen oder zu diskriminieren. Die Bürger Herfords waren weltoffen und stolz darauf, ein Teil dieser Stadt zu sein. Für Männer wie Alba, die zölibatär und normalerweise unter strenger Aufsicht lebten, bedeutete dies viel Freiheit. Deshalb war er nicht nur hier, weil er es musste, sondern weil er diesen ganz besonderen Ort von Herzen liebte. Und genauso wurde er von den Bewohnern anerkannt und geschätzt. Seine Aufgabe bestand nicht darin zu predigen, denn er leitete keine Kirchengemeinde, sondern er kümmerte sich ausschließlich um den Erhalt des Mariendenkmals und gab den Pilgerscharen Gottes Segen, die täglich kamen und Marias Gnade erflehten. Natürlich gab es in der Stadt nicht nur freudige Ereignisse, sondern seit vielen Jahrzehnten wurden dort auch abgrundtief schlechte Dinge begangen, und das unter dem Deckmäntelchen der Frömmigkeit. Das Werk am Hexenkolk wurde von seiner Glaubensgemeinschaft ins Leben gerufen, und er fühlte sich dafür schuldig. Auch wenn der Klerus längst Handlanger aus den Reihen der städtischen Ratsmitglieder die Drecksarbeit machen ließ, war seine Kirche der Auslöser dieser Misere. Konstantin setzte sich wohl nicht offiziell dafür ein, dieser Ungerechtigkeit ein Ende zu bereiten, doch gutheißen konnte er es nicht.
Er distanzierte sich deutlich von dem Hexenwahn und tat auch seine Meinung kund, sofern man ihn darum fragte. Aufgrund seiner aufgeschlossenen Art und seinem Sinn für Nächstenliebe, war er bei den Herforder Bürgern und auch bei seinen protestantischen Kollegen ein gern gesehener Gast. Kurzum, der Priester war ein gottesfürchtiger Mann mit hellem Verstand und einem ebensolchen Herzen. Und genau dieses liebevolle Herz wollte irgendwann mehr, als der Zölibat ihm erlaubte. Er verliebte sich in eine Frau, genauer gesagt in Magdalena, die Tochter eines Bauern. Zunächst trafen sie sich heimlich, doch schon bald wollte Magdalena mehr. „Konstantin, ich liebe Euch, und flehe Euch an: Pfeift auf das Zölibat“. Da sie ihn mit ihrer Bitte in die Enge trieb, antwortete er zunächst etwas harsch: „Wir Priester bevorzugen den Artikel „der“. Es heißt also der Zölibat, auch wenn der Volksmund dies anders sieht“. Als er bemerkte, dass er sie mit seiner abweisenden Haltung verletzte, fügte er in sanfterem Ton hinzu: „Magdalena, das kann ich nicht. Wenn man das im Vatikan erfährt, bin ich erledigt“. „Wollt Ihr mit dem Papst zusammen sein oder mit mir? Ihr habt die Wahl“. Doch konnte er tatsächlich wählen? Er hatte Gott die Treue geschworen und Keuschheit war schließlich ein Teil dieses Schwurs. „Was ist das nur für ein Gott, an den Ihr da glaubt? Wie kann er Adam und Eva erschaffen, und sie dann nicht zusammenleben lassen“. „Magdalena, mein Herz, ich bin kein normaler Mann. Ich bin ein treuer Diener Gottes!“
Sein Freund und Vertrauter, Johannes Bredenkamp, er war ein protestantischer Pfarrer, sagte unzählige Male zu ihm: „Das mit dem Zölibat ist eine kranke Sache, sage ich Euch. Die Triebe sind stärker als alles andere. Wer glaubt, sie beherrschen zu können, bewegt sich auf sehr dünnem Eis. Ich will nicht darüber nachdenken, was die Priester Eurer Zunft alles tun, um diese heimlich zu stillen. Die nutzen vermutlich jede Gelegenheit, um sich abzureagieren, und vertuschen danach alles, weil sie sich davor fürchten, dass Gott ihre Taten verurteilen könnte. Mein lieber Konstantin, ich frage Euch wirklich: Wollt Ihr ein solches Leben führen? Ein Leben voller heimlicher Gelüste, stets mit der Angst im Nacken, Gott könnte Euch dafür bestrafen. Habt Ihr Euch schon einmal gefragt, was mit Eurem Herzen passieren würde, wenn Magdalena Euch plötzlich nicht mehr liebte?“ Dieser Gedanke trieb dem Priester ein paar Tränen in die Augen, die er ungeschickt mit dem Handrücken abzuwischen versuchte. Es blieb allerdings nur bei einem sehr kläglichen Versuch, denn plötzlich öffneten sich sämtliche Schleusen und Konstantin brach zitternd in sich zusammen. Die Vorstellung, Magdalena könnte sich von ihm abwenden, weil er lieber den Gesetzen der Katholischen Kirche folgte und nicht seinem Herzen, war das entscheidende Element in seiner Gedankenkette. Seine Angst, durch einen Bruch des Zölibats Gottes Liebe zu verlieren, war groß, doch die Angst, Magdalena könnte ihn verlassen, war letztlich größer.
So setzte er sich an einem verschneiten Januartag im Jahr 1627 an seinen Schreibtisch und verfasste einen Brief an Papst Urban VIII. Darin bat er seine Heiligkeit um Nachsicht, dass er, Konstantin Alba, sich dazu entschieden hatte, von seinem Amt zurückzutreten. Um dem Papst möglichst wenig Angriffspunkte zu bieten, erwähnte er nichts von seiner Liebe zu Magdalena.
Es vergingen sieben Monate, bis ein Bote des Vatikans ihm endlich das langersehnte Antwortschreiben des Heiligen Vaters überbrachte. Mit zitternden Händen zerbrach er das päpstliche Siegel und las mit ebensolcher Stimme die Antwort des Kirchenoberhauptes. Darin stand, dass man nach reiflicher Überlegung zu dem Entschluss gekommen sei, sein Rücktrittsgesuch anzunehmen. Allerdings bat der Papst ihn darum, sich trotz seiner Amtsniederlegung weiterhin um den Ort der Marienerscheinung zu kümmern. Dafür wollte man ihn wie bisher entlohnen. Auch die Priesterkleidung sollte er weiterhin tragen, um nicht zu viel Aufsehen in der Bevölkerung zu erregen. Als Abschlusssatz schrieb der Heilige Vater, dass man keinen Priester finden konnte, der im protestantischen Herford diese Arbeit übernehmen wollte. Konstantin traute seinen Augen nicht und las den Brief erneut. Anschließend noch drei weitere Male, bevor er voller Freude zu Magdalena lief, um ihr den Brief aus dem Vatikan zu zeigen. Die beiden waren außer sich vor Glück, und als ihre Freudentränen versiegt waren, liefen sie zu Johannes, der die Trauung durchführen sollte. Nach einem kurzen Blick in seinen Kalender entschieden sie sich für den 21. August 1627.
Und dieser große Tag war nun gekommen.
Als er die Steigung zur Kirche am Stiftberg überwunden hatte, blieb er schnaufend stehen und blickte hinunter auf die Stadtmauer. „Herr Gott, ich danke dir“. Dann betrat er die Kirche, um nachzusehen, ob für die Hochzeit, die am Nachmittag stattfinden sollte, alles in Ordnung war. Außer ihm war niemand hier und seine aufgeregten Schritte hallten laut durch das Gewölbe. Am Altar bekreuzigte er sich und kniete nieder. Während er im stillen Gebet seinem Schöpfer dankte, spürte er, wie ein kühler Luftzug seine Soutane umspülte. „Ungewöhnlich für diese Jahreszeit“, dachte er, zumal es gerade an diesem Sommertag außergewöhnlich heiß war. Als er seine Augen wieder öffnete bemerkte er von hinten einen Schatten über sich kommen, der nahezu den ganzen Altar überdeckte. Langsam stand er auf und drehte sich um. Sein Blick fiel auf einen baumgroßen Mönch mit bernsteinfarbenen Augen. Er fühlte sich im Vergleich zu diesem Hünen wie ein Zwerg. „Was wollt Ihr? Was kann ich für Euch tun?“ fragte er unsicher. Der Mönch sah auf ihn hinab und erwiderte mit sehr tiefer Stimme, die dem Brummen eines Bären gleichkam: „Ich habe ein Geschenk für dich“. „Was…was für ein Geschenk?“ stammelte der Priester verwirrt. „Ich schenke dir ewiges Leben“. „Ewiges Leben? Wer bist du?“ Wieder erfüllte die gewaltige Stimme des Mönchs den Raum: „Ich bin Noah, der Oberste Wächter des Universums, und ich will deinen Körper. Ich werde dich unsterblich machen, doch dein Leib soll mir dienen, jetzt, und bis in alle Ewigkeit“.
Dann wurden Konstantins Knie weich, aber er war dennoch weit entfernt von einer Ohnmacht. Der heutige Tag sollte der glücklichste seines Lebens werden, da durfte er sich keine Schwäche erlauben. Er starrte den fremden Riesen ungläubig an, brachte jedoch kein Wort mehr über die Lippen. Der Mönch packte ihn unter den Achseln und zog ihn zu sich hinauf, bis ihre Augen auf einer Höhe waren. „Hab keine Angst, Menschlein, es geht ganz schnell“.