Manuel Lippert

Fluch der verbotenen Stadt


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und es für ihn keinen Ausweg mehr gab. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Weniger aus Gewissheit, dass er sterben würde. Vielmehr aus einer Mischung aus körperlichem Schmerz und den Gedanken an seine jüngere Schwester Beate.

      Beate! Nach all den Jahren nach ihrem Tod musste er immer noch so oft an sie denken. Mittlerweile waren dreißig Jahre vergangen. Sie war ein so fröhlicher und beliebter Mensch gewesen. Bis zu dem Abend, der nicht nur das Leben von Beate komplett verändert hatte, sondern auch sein eigenes und das ihrer Eltern. 'Warum konnte ich ihr damals nicht helfen? Warum konnte ich ihren Tod nicht verhindern? Wenigstens für Gerechtigkeit wollte ich sorgen. Dafür habe ich die letzten Jahre doch gekämpft!', litt Günther Ludwig voller Wehmut. 'Auch das werde ich nicht schaffen. Ich habe mal wieder versagt'.

      Das waren seine letzten Gedanken, bevor er für immer in die Dunkelheit eintauchte.

       2

      'Dafür, dass ich eben improvisieren musste, ist es doch echt gut gelaufen', dachte er auf dem Weg zurück zu seinem dunkelgrauen BMW und zog die Lederhandschuhe aus.

      Nachdem ihn dieser Günther Ludwig mit seinen Fragen geradezu bombardiert hatte, war ihm klar, dass dieses Gespräch nur durch eine Art zu beenden war: Mit seinem Tod.

      Sicherheitshalber hatte er ihm genau diesen Treffpunkt vorgeschlagen, abgeschieden, aber trotzdem gut erreichbar. Und vor allem ohne sein Misstrauen zu erwecken. Seinen BMW hatte er vor neugierigen Blicken geschützt in einem abgelegenen Waldweg in der Nähe geparkt. Das war nicht verdächtig. Vielmehr sah es so aus, als ob jemand seinen Abendspaziergang nach einem anstrengenden Arbeitstag in Ruhe genießen wollte und dazu direkt in den Wald gefahren wäre. Günther Ludwig hatte keine Ahnung, wem er da gegenüberstand und zu was er in der Lage war. Nicht ohne Grund war er so erfolgreich in dem was er tat. Es war geradezu einfach, ihn bei seiner Ankunft auf seinem lächerlichen Fahrrad zu beobachten und sich ihm lautlos zu nähern. Das war sozusagen die Generalprobe für das, was noch kommen sollte. Ziel des Gesprächs war für ihn gewesen zu erfahren, was Günther Ludwig wusste und wen er noch eingeweiht hatte. Dass der Trottel so naiv war und niemandem von den Problemen erzählt und über das Treffen informiert hatte, war schon bemerkenswert. Es passte sehr gut, dass Günther Ludwig das Treffen so kurzfristig vorgeschlagen hatte. Dadurch hatte dieser wenig Zeit zum Nachdenken und zur Vorbereitung. Der Rest war ein Kinderspiel und er mitten in seinem Element. Der erste Schlag war für ihn wie eine Befreiung, das Geräusch beim Auftreffen auf den Schädel ein Genuss. Dieses Gefühl der Macht über Leben und Tod hatte er schon einmal erlebt und es ließ sich einfach nicht in Worte fassen. Günther Ludwig hatte keine Chance zur Gegenwehr, dazu schlug er zu schnell und gezielt zu. Aber wenigstens etwas Gegenwehr wäre doch wünschenswert gewesen. Ein leichtes Schmunzeln durchzuckte sein Gesicht bei diesem Gedanken, aber jetzt musste er sich wieder auf seinen nächsten Schritt konzentrieren, denn jeder Fehler konnte sich bitter rächen. Aber Fehler machte er nie. Dafür war er einfach zu gut.

       Kapitel 1

       3

      Kriminaloberkommissar Tim Beck saß an seinem Schreibtisch in dem Dienstzimmer der Mordkommission in Brandenburg an der Havel. Er blickte gedankenverloren aus dem Fenster des zweiten Stocks. Das Dienstzimmer war zweckmäßig eingerichtet. Neben zwei hellbraunen Schreibtischen gab es ein Sideboard und einen Aktenschrank sowie ein großes Whiteboard, das an der Wand befestigt war. Die Wände waren weiß verputzt und der Fußboden mit hellgrauem Linoleum ausgelegt. Durch die beiden großen Fenster wirkte der Raum hell und großzügig geschnitten. Sein Kollege, Kriminaloberkommissar Rainer Sauer, saß ihm gegenüber und war auf seinen Bildschirm konzentriert, um den Abschlussbericht zu ihrem letzten Fall zu schreiben. Dabei hämmerte Rainer so sehr auf die Tastatur ein, dass Tim sich nicht sicher war, ob Rainer gerade wirklich den Computer oder eher eine alte Schreibmaschine nutzte.

      Rainer war jetzt schon seit zwölf Jahren sein Kollege und seit fünf Jahren arbeiteten sie beide als Ermittler bei der Mordkommission der Polizeidirektion West in Brandenburg zusammen. In den gemeinsamen Jahren war eine Art Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Aufgrund ihres unterschiedlichen Körperbaus wurden Tim und Rainer von den Kollegen gerne „Pat und Patachon“ genannt. Tim war sich nicht sicher, ob Rainer dies wirklich witzig fand, auch wenn er es immer betonte und mit den Kollegen darüber lachte. Seine Vorliebe für karierte Hemden, kombiniert mit Jeans und Lederjacke, dazu seine dunklen Naturlocken, die sein rundes Gesicht umgaben, betonten sein Übergewicht und sein markantes Doppelkinn. Doch in der Mordkommission wusste jeder Kollege, dass man Rainers Fähigkeiten als Ermittler keinesfalls von seinem Äußeren ableiten sollte. Tim dagegen wirkte durch seine schlanke, sportliche Figur und seiner Körpergröße äußerlich wie eine Art Gegenpol zu Rainer. Mit seinen 1,90m überragte er viele seiner Kollegen deutlich. Während Tim eher ein ernster Gesichtsausdruck und eine sachliche Art ausmachten, fiel Rainer durch seine stets gute Laune und seine lockeren Sprüche auf.

      Tim hatte in diesem Augenblick Mühe, sich auf den Abschluss ihres letzten Falles zu konzentrieren. Die Körperverletzung mit Todesfolge hatten sie schnell aufgeklärt. Jetzt lag es an der Staatsanwältin und dem zuständigen Gericht, den von ihnen überführten Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

      Tim und Rainer waren stolz auf ihre sehr hohe Aufklärungsquote bei ihren Fällen. Aber zum Leidwesen von Tim gehörte zu jeder Ermittlung eine lückenlose Dokumentation der Kriminalpolizei, auch wenn er sich lieber auf die eigentlichen Ermittlungen konzentrierte. Zum Glück machte Rainer das Anfertigen des Abschlussberichts zu ihrem letzten Fall nichts aus, so dass Tim sich seinen Gedanken zu seiner beruflichen Zukunft und der Vereinbarkeit mit dem Familienleben widmen konnte. Er liebte seinen Beruf als Ermittler bei der Mordkommission. Er konnte sich keinen erfüllenderen und abwechslungsreicheren Beruf vorstellen. Bis heute trieb ihn sein sehr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn und sein sehnlicher Wunsch, die Welt nicht nur für seine Familie etwas sicherer zu machen, an. Genau wie beim letzten Fall, empfand Tim bei jedem abgeschlossene Fall ein geradezu euphorisches Glücksgefühl, insbesondere in dem Augenblick, wenn sie den Täter überführt hatten. Auf dem Weg dahin war er ohne einen Augenblick zu zögern bereit, seine Gesundheit und, im Zweifelsfall, auch sein Leben zu riskieren. Zum Glück war dies bisher immer gut für ihn ausgegangen. Aber Tim wusste, dass seine hohe Risikobereitschaft wie ein Ritt auf der Rasierklinge war.

      Das waren genau die Worte, die seine Frau Sarah gerne benutzte, wenn sie wieder über Tims Prioritäten in seinem Leben diskutierten. Er hasste diese Diskussionen mit ihr und war froh, wenn sie endlich vorbei waren. Irgendwie hatte er dabei immer das Gefühl, am kürzeren Hebel zu sitzen. Es fiel ihm schwer, mit ihren Vorwürfen konstruktiv umzugehen. Oft zog er sich noch während der Diskussionen innerlich in eine Art Schneckenhaus zurück und ließ es einfach geschehen. Er liebte seine Frau und ihre gemeinsame Tochter Lea und genoss die Zeit mit beiden. Aber Tim spürte oft eine Art innere Zerrissenheit zwischen der Leidenschaft für seinen Job mit all den zeitlichen Belastungen auf der einen Seite und dem Familienleben auf der anderen Seite. Er würde so viel dafür geben, die Zauberformel für den Einklang beider Welten zu besitzen! Denn das Leben war für die vielen Diskussionen mit Sarah zu kurz.

      Plötzlich wurde Tim aus seinen Gedanken gerissen, als Rainer ihm auf die Schulter haute. „Aufwachen du Tagträumer!“ Kriminalkommissar Sven Ziegler stand in der Tür und grinste. Er war als Sachbearbeiter ebenfalls Mitglied im Team der Mordkommission und wiederholte seine Nachricht an Tim und Rainer. „Dann wiederhole ich nochmal, was ich gesagt habe. Gerade hat sich die Schutzpolizei Zossen gemeldet. Ein Toter wurde in der Waldstadt Wünsdorf entdeckt. Die Schutzpolizei hat den Fundort gesichert, hält einen Zeugen fest und wartet auf euch. Ich habe gesagt, dass ihr euch direkt auf den Weg macht. Die Kriminaltechnik habe ich auch bereits informiert. Sie werden gleich losfahren.“ Die Kriminaltechnik war in der Polizeidirektion West für die kriminaltechnische Tatortarbeit verantwortlich und gehörte immer mit zu den ersten am Tatort.

      Tim und Rainer sprangen auf, holten ihre Dienstwaffen und den Fahrzeugschlüssel und eilten zu ihrem Dienstfahrzeug im Innenhof der Polizeidirektion. Dort angekommen gab Tim die von Sven Ziegler genannte Adresse ins Navi ein. ‚Das war es wohl mit dem frühen Feierabend und dem netten Familienabend!‘, dachte Tim.

       4

      Normalerweise