Weiterhin weist der Oberkörper des Opfers blaue Flecke und Rippenbrüche auf. Vermutlich starb das Opfer aufgrund stumpfer Gewalteinwirkung auf den Hinterkopf. Das ist selbstverständlich nur eine erste Einschätzung von mir. Die zusätzlich am Oberkörper festgestellten Hautabschürfungen scheinen ebenfalls vom Tatwerkzeug zu stammen.“ Tim fragte den Rechtsmediziner, was er zum Tatwerkzeug und dem Todeszeitpunkt sagen kann. Dr. Bergmann nahm erneut seine Brille ab und begann sie zu putzen. Seine kleinen Augen blickten Tim ernst an. „Wie immer eine gute Frage, Herr Beck. Das Tatwerkzeug scheint ein länglicher Gegenstand gewesen zu sein. Das lässt sich aus dem Verletzungsmuster erkennen. Alles Weitere dazu ist noch Untersuchungsgegenstand der Obduktion. Bei der Bestimmung des Todeszeitpunktes hilft uns das warme Juniwetter keineswegs. Da der Unterschied zwischen Körperkerntemperatur des Toten und der Umgebungstemperatur nicht groß genug war, kann ich den Zeitraum nur auf gestern Abend bis heute Nacht eingrenzen.“ Zu genaueren Angaben wollte er sich trotz hartnäckiger Nachfrage von Tim nicht festlegen. Allerdings gab Dr. Bergmann der versammelten Gruppe einen wichtigen Hinweis. Da an der Leiche keine Schleifspuren feststellbar waren, schien der Fundort zugleich auch der Tatort zu sein. Die Staatsanwältin hatte genug gehört. Nach einer flüchtigen Verabschiedung stieg sie in ihren Sportwagen ein und fuhr los.
Nachdem der Rechtsmediziner den Toten zum Abtransport freigegeben hatte und die Kriminaltechnik auch noch keine konkreteren Hinweise geben konnten, entschieden Tim und Rainer, zum Haus des Toten zu fahren. Trotz mehrmaligen Durchsuchens der Taschen von Jacke und Hose des Opfers waren keine Haustürschlüssel zu finden. Ebenso wenig hatte die Kriminaltechnik im Umkreis des Fundortes etwas gefunden, was der Tatwaffe hätte entsprechen können, geschweige denn noch einen Schlüsselbund. Rainer rief den örtlichen Schlüsseldienst an und verabredete sich mit ihm am Haus des Toten. Sie stiegen in ihren Dienstwagen und fuhren Richtung Ortsmitte von Wünsdorf.
7
Mittlerweile war es schon Nachmittag. Rainer hielt kurz an einer Bäckerei, um belegte Brötchen und Kaffee zu kaufen. Tim nutzte die Zeit um Sarah anzurufen. Sie kannte die Erfordernisse seines Berufs nur zu gut und hatte sich schon daran gewöhnt, wenn er kurzfristig Verabredungen absagen oder auch nachts arbeiten musste. Er teilte ihr mit, dass er nicht weiß, wann er am Abend nach Hause kommen würde. Auch wenn sie am Telefon Verständnis für die Verschiebung ihres gemeinsamen Abends äußerte, meinte Tim ihre Enttäuschung spüren zu können. So richtig konnte er es nicht nachvollziehen, denn außer einem gemeinsamen Abendessen mit Lea und einem Fernsehabend zu Hause, hatten sie nichts weiter geplant. Traurigkeit und gleichzeitig Wut spürte Tim in sich aufkommen, nachdem er das Telefonat mit Sarah beendet hatte. Auch er hatte sich auf den gemeinsamen Abend mit ihr gefreut. In letzter Zeit hatten sie nicht viel Zeit füreinander aufbringen können, was neben dem Beruf von Tim auch an der Selbstständigkeit von Sarah mit ihrer Konditorei lag. Aber er hasste es, dass sie ihm immer irgendwie unterschwellig die Schuld dafür gab.
Rainer kam zurück zum Dienstfahrzeug und reichte Tim einen Becher Kaffee und ein mit Käse belegtes Brötchen. Da der Schlüsseldienst mitgeteilt hatte, dass er erst in einer viertel Stunde am Haus von Günther Ludwig sein konnte, hatten sie Zeit für eine erste kurze Pause am heutigen Tag. „Lass es dir schmecken“, sagte Rainer und nahm einen großen Bissen von seinem Wurstbrötchen.
Als sie am Haus eintrafen, wartete der Mann vom Schlüsseldienst schon auf sie. Nachdem Rainer ihm die Durchsuchungsanordnung gezeigt hatte, die die Staatsanwältin zuvor ausgestellt hatte, holte er sein Werkzeug und ging zur Haustür. Tim betrachtete das rotbraune Backsteinhaus. Die Rollläden der drei Fenster im Erdgeschoss waren geschlossen. Die Gardinen der beiden Giebelfenster waren vergilbt. Der Innenhof war durch ein hohes Wellblechtor geschützt, das offen stand. Dahinter kam ein gepflasterter Innenhof zum Vorschein, auf dem zwischen den Fugen hohe Gräser wuchsen und den sich die Natur Stück für Stück zurückeroberte. Das Haus machte auf Tim einen einsamen und traurigen Eindruck. Am Fenster des Nachbarhauses bewegte sich die Gardine. „Schau mal dort drüben, mal wieder einer dieser wachsamen Nachbarn.“, entfuhr es Tim. Er beschloss, gleich nach der Hausdurchsuchung dort zu klingeln und ein paar Informationen über Günther Ludwig zu erfragen.
Mittlerweile hatte der Fachmann vom Schlüsseldienst die Haustür erfolgreich geöffnet. Tim quittierte ihm den Einsatz und verabschiedete sich von ihm. Dann betraten er und Rainer das Haus. Im Flur roch es abgestanden und muffig, als ob hier nicht oft gelüftet worden war. Sie teilten sich auf. Während Rainer nach links in die Küche abbog, ging Tim in das Wohnzimmer. Ein altes Sofa mit zwei Sesseln und ein dunkler Couchtisch nahmen einen Großteil des Wohnzimmers ein. Tim öffnete den Rollladen, um mehr Licht in den Raum zu lassen. An der gegenüberliegenden Wand war eine deckenhohe Schrankwand aus dunklem Holz angebracht. In den Regalen befanden sich viele Bilderrahmen mit Fotos. Das Wohnzimmer erinnerte Tim an das seiner Großeltern. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Günther Ludwig den Raum selbst so eingerichtet hatte. Er betrachtete die vielen Bilderrahmen. Neben Familienfotos mit zwei Kindern waren einzelne Fotos von einem Jungen und einem Mädchen zu sehen. ‚Der Junge könnte Günther Ludwig sein‘, dachte Tim. ‚Dann müsste er also eine Schwester haben‘. Plötzlich rief Rainer nach ihm. Er hatte mittlerweile die Küche und das Esszimmer durchsucht ohne etwas Auffälliges zu finden. Jetzt stand er in einem Raum, der das Arbeitszimmer sein musste. Als Tim den Raum betrat, versperrte Rainers Körper einen Durchgang zu einem weiteren Zimmer. Dieser schien das Interesse von Rainer geweckt zu haben. Als Tim näher trat, verstand er warum. „Sieh dir das mal an! Da hat wohl einer Privatdetektiv gespielt!“ Und zeigte auf die Wände.
Der Boden war mit einem dunkelbraunen Teppich bedeckt, der von Trittspuren und einzelne Flecken mitgenommen aussah. Außer einem einfachen Tisch mit darauf gestapelten Aktenmappen enthielt der Raum keine weiteren Möbel. Allerdings war die gegenüberliegende Wand von unten nach oben mit einer Vielzahl von Dokumenten, Landkarten, Fotos, Zeitungsausschnitten und handbeschriebenen Postits bedeckt. Einige Dokumente und Fotos waren mit einer roten Schnur verbunden worden. Tim versuchte die Anordnung der Dokumente und Fotos nachzuvollziehen. Zentral in der Mitte der Wand hingen, neben dem Foto eines Mädchens, drei weitere Aufnahmen, die jeweils einen sowjetischen Soldaten in Ausgehuniform zeigten. Rainer stellte sich neben Tim und betrachtete die Wand. „Welchem Hobby ist dieser Günther Ludwig nur nachgegangen?“ Tim reagierte nicht, sondern betrachtete das Foto des Mädchens und die Zeitungsartikel genauer. Es handelte sich um mehrere Berichterstattungen aus dem Jahr 1989, die von der Vergewaltigung und dem Selbstmord eines Mädchens berichteten. Das Foto des Mädchens kam Tim bekannt vor. Er hatte es erst vor kurzem gesehen. Er drehte sich abrupt um und verließ den Raum, ohne ein Wort zu sagen. Rainer lief hinter ihm her und wollte wissen, was mit ihm los sei. Doch Tim ging weiter, bis er im Wohnzimmer vor der Schrankwand stand. Er zeigte auf eines der gerahmten Fotos. „Sieh dir das an! Das ist das Mädchen aus dem Zeitungsartikel“. Beide gingen zurück in das Arbeitszimmer. Tim las die Zeitungsartikel über die Vergewaltigung nochmals durch und entdeckte in der Bildunterschrift schließlich den Namen Beate Ludwig. „Dann wird sie seine Schwester gewesen sein?“, meinte Rainer.
Es schien, als ob Günther Ludwigs Schwester 1989 vergewaltigt worden war und sich einige Wochen später das Leben genommen hatte. So viel konnten Tim und Rainer in der kurzen Zeit schon ableiten. Aber was hatte es mit all den anderen Dokumenten und Fotos auf sich? Günther Ludwig schien mit seinen Recherchen viel Zeit verbracht zu haben. Vielleicht ergab sich hieraus eine Spur. Rainer rief die Kollegen der Kriminaltechnik an und bat sie, nach Abschluss der Untersuchungen am Tatort, direkt hierher zum Haus zu kommen.
Zwischen den Aktenmappen auf dem Tisch entdeckte er ein Smartphone. Das erklärte auch, warum sie am Tatort kein Handy finden konnten. Tim nahm es in die Hand. Da es eingeschaltet und der Bildschirm nicht mit einem Passwort geschützt war, konnte er durch die Anrufliste scrollen. „Heutzutage hat doch jeder sein Smartphone mit einem Passwort geschützt. Anscheinend hatte Günther Ludwig keine Sorge, dass jemand sich für sein Telefon interessiert!“ Rainer schaute Tim an. „Ich wusste gar nicht, dass man überhaupt den Sperrbildschirm ohne Passworteingabe deaktivieren kann.“ Tim grinste. „Vielleicht solltest du mal Sven fragen. Unser junger Kollege ist doch so fit in der digitalen Technik. Er kann dir sicherlich noch viel zu deinem Smartphone beibringen.“ Rainer schnaubte: „Als ob du schon in der digitalen Welt angekommen wärst. Ohne deine Tochter wüsstest du noch nicht einmal, wie man ein Smartphone einschaltet.“