Manuel Lippert

Fluch der verbotenen Stadt


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Nachdem Rainer sie mit eingeschaltetem Blaulicht und Sirene zügig und geschickt aus der Stadt gebracht hatte, kamen sie auf der Autobahn Richtung Osten schnell voran. Rainer fuhr mit hoher Geschwindigkeit konzentriert auf der linken Spur der Autobahn und kämpfte sich Fahrzeug um Fahrzeug voran. Tim beobachtete die Autos, die sie überholten. Der deutsche Autofahrer beherrschte im Gegensatz zu denen anderer Länder das Bilden der Rettungsgasse im Stau in der Regel ganz gut. Dagegen fiel es aber vielen anscheinend schwer, den mühsam erkämpften Platz auf der linken Spur der Autobahn aufzugeben und sie passieren zu lassen. Sie saßen schweigend nebeneinander. Tim betrachtete den roten Asphalt, den er nur von diesem Autobahnabschnitt kannte, und fragte sich, was Sarah wohl sagen würde, wenn sie erfuhr, dass er die nächsten Tage schon wieder bis spät abends an einem Mordfall arbeiten musste. Er wusste, dass die Insassen der Fahrzeuge ihn im Vorbeifahren neugierig musterten. Ein ziviles Polizeifahrzeug mit eingeschaltetem Blaulicht löste bei Schaulustigen Neugier und Sensationslust aus. Nach all den Jahren machten Tim die Blicke der Leute nichts mehr aus, außer sie behinderten die Rettungs- oder Ermittlungsarbeiten. Er konnte einfach nicht verstehen, was den Reiz des Gaffens für diese Leute ausmachte. Aber er wollte es auch nicht verstehen.

      Rainer unterbrach seine Gedanken und fing ein unverfängliches Gespräch an. Tim musste grinsen. Rainer war nicht gerade dafür bekannt, Schweigen gut auszuhalten. Reden war genau wie das Rauchen etwas, das er gern und viel tat. Irgendwie war Tim aber auch froh, nicht mehr über das anstehende Gespräch mit Sarah denken zu müssen. „Haben Sarah und du diese Woche schon etwas geplant?“, wollte er wissen. „Außer, dass wir das Open Air Kino besuchen wollten, nichts Konkretes“, antwortete Tim. „Wisst ihr schon, welchen Film ihr euch anschauen wollt?“, fragte Rainer. „Ich glaube, irgendeine romantische Komödie. Ich kann mich aber an den Filmtitel nicht erinnern. Sarah hatte den Vorschlag für das Open Air Kino gemacht.“ Sie plante die meisten ihrer Freizeitaktivitäten. Dies war einer ihrer Kritikpunkte an Tim. „Da kenne ich mich sowieso nicht so gut aus, wie du weißt. Ich stehe mehr auf Action!“, antwortete Rainer. Tim eigentlich auch. Er liebte Actionfilme über alles. Aber da er wusste, dass Sarah romantische Filme mochte, hatte er ihrem Vorschlag direkt zugestimmt. „Was hast du denn die nächsten Abende geplant?“, wollte Tim nun wissen. „Auf jeden Fall werde ich meine Stammkneipe diese Woche wieder mit meinem Besuch beehren“. Tim kannte die Stammkneipe von Rainer. Sie lag nur zwei Straßen von dessen Wohnung entfernt. Neben der gemeinsamen Zeit in der Mordkommission trafen sich beide ab und zu auf ein Bier, meistens in dieser Kneipe. Dabei gesellten sich auch immer wieder andere Kollegen aus der Mordkommission dazu.

      Mittlerweile waren sie von der Autobahn abgefahren und mühten sich über die engen Landstraßen, welche links und rechts durch große Laubbäume gesäumt waren. In unregelmäßigen Abständen konnte Tim an den Baumstämmen die von Autounfällen stammenden Narben in der Rinde sehen. Es war allgemein bekannt, dass in dieser Gegend immer wieder nachts Unfälle aufgrund überhöhter Geschwindigkeit passierten. Hier nützte ihnen ihr Blaulicht wenig. Die engen Kurven der schmalen Landstraße gaben die maximale Geschwindigkeit vor. Rainer wusste dies und die Kollegen der Polizei Zossen würden den Fundort nicht verlassen, bevor sie eingetroffen wären.

      Rainer las gerne historische Bücher und wollte Tim unbedingt noch einen Überblick über die Waldstadt geben, bevor sie dort eintrafen. „Was weißt du eigentlich über Wünsdorf und insbesondere über die Waldstadt, zu der wir fahren?“, fragte er Tim. Dieser kannte das jetzt begonnene Ritual nur zu gut. Es fing immer mit einer Art Wissensabfrage durch Rainer an, die ihn sehr an seine Schulzeit im Fach Geschichte erinnerte. Tim wusste natürlich die Dinge, die den meisten Bewohnern aus Brandenburg und Berlin bekannt waren. Das große Militärareal in Wünsdorf beherbergte im Dritten Reich das Oberkommando der Wehrmacht und nach dem Zweiten Weltkrieg war es der Sitz des Oberkommandos der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Da der Zutritt streng reglementiert und fast ausnahmslos den sowjetischen Soldaten, Zivilbediensteten und ihren Familien vorbehalten war, wurde sie auch die „Verbotene Stadt“ genannt. Aber Tim wollte ihm nicht vorgreifen, daher tat er so, als ob er nichts zu dem Thema beizutragen hätte.

      Jetzt war Rainer in seinem Element und begann seinen Vortrag. Er startete mit dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 und den in dieser Zeit entstandenen Artillerieschießplätzen, berichtete von der Entstehung der Bunkeranlagen der Wehrmacht und widmete sich ausführlich deren Nutzung durch die sowjetische Armee. Gerade als er über den Abzug der Russen 1994 erzählte, erblickten sie die Ansammlung von Streifenwagen, Rettungswagen und Notarzt. Tim war erleichtert, so sehr er auch Rainer mochte, aber auf diesen ausführlichen Geschichtsunterricht konnte er jetzt gut verzichten. Es wartete schließlich Arbeit auf die beiden. Tim merkte, wie seine Anspannung zunahm. Bei jedem neuen Fall spürte er diese Aufregung. Es war wie die Teilnahme an einem Sportwettbewerb, wenn einen ein Kribbeln kurz vor dem Start erfasste und die Spannung sich ins Unermessliche steigerte.

       Kapitel 2

       5

      Seit seinem letzten Besuch vor drei Jahren hatte sich hier in der Waldstadt, wie der ehemals militärisch genutzte Bereich von Wünsdorf mittlerweile heißt, einiges verändert. Damals war Tim mit seiner Frau und seiner Tochter bei einem Familienausflug das erste Mal in der Waldstadt zu Besuch. Besonders spannend fanden sie die Bunkertour mit der Besichtigung der ehemaligen Wehrmachtsbunker. Für Lea schien damals die gemeinsame Zeit als Familie wichtiger zu sein, als der historische Rückblick bei der Führung. Sie hörte ihrem Führer der Tour kaum zu, sondern erzählte Tim und Sarah ohne Unterbrechung von der Schule.

      Wo sie damals noch verlassene und dem Verfall preisgegebene Militärbaracken gesehen hatten, waren mittlerweile Einfamilienhäuser gebaut worden. Tim hatte gelesen, dass in der Waldstadt gerade in mehrere Neubaugebiete investiert wurde. Ziel war es, dass durch viele neu ansiedelnden Familien hier neues Leben entstehen konnte.

      Rainer parkte den Dienstwagen hinter dem Streifenwagen. Nachdem sie ausgestiegen waren, kamen die beiden Kollegen der Schutzpolizei angelaufen, die als erste vor Ort waren. Tim und Rainer begrüßten sie mit Handschlag. Tim fiel sofort auf, dass der Ältere der beiden sehr abgeklärt wirkte, obwohl das Auffinden eines Toten für sie alles andere als alltäglich sein musste. Der Jüngere dagegen sah blass und mitgenommen aus. Er vermied es konsequent, auch nur in die Richtung des Toten zu schauen. Tim konnte ihm das nicht verübeln, denn er erinnerte sich noch gut an den Anblick, als er das erste Mal einen Toten sah. „Gut, dass ihr endlich hier seid!“, meinte der ältere Polizist. Tim war voller Energie und konnte es kaum erwarten loszulegen. Daher übernahm er direkt die Gesprächsführung. „Wir haben uns beeilt, aber ihr kennt sicherlich den Weg von Brandenburg bis hierher. Es war ziemlich voll auf der Autobahn. Was habt ihr denn bisher herausgefunden?“ Der ältere Polizist nahm sein kleines Notizbuch hervor und berichtete, was sie wussten. „Also, heute Morgen gegen halb zehn hat ein Spaziergänger mit seinem Hund die leblose Person entdeckt und den Notruf gewählt. Wir wurden zusammen mit dem Rettungswagen und der Notärztin hergeschickt.“ Tim drehte sich in die Richtung, in die der ältere Polizist gezeigt hatte. Ein älterer Mann mit brauner Cordhose und weißem Hemd stand etwas hilflos wirkend mit seinem Hund am Straßenrand auf der gegenüberliegenden Seite. Er schätzte den Mann auf Mitte sechzig. Neben ihm saß angeleint ein schwarzer Labrador und ließ seinen Besitzer nicht aus den Augen. „Nachdem uns die Notärztin mitgeteilt hatte, dass sie bei der Person nur noch den Tod feststellen konnte, erklärte sie uns, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine unnatürliche Todesursache handelte. Danach haben wir um zehn Uhr zwölf die Zentrale verständigt und den Tatort abgesperrt. Selbstverständlich haben wir den Toten nicht angerührt und darauf geachtet, dass möglichst wenig Spuren verwischt werden.“, fuhr der ältere Kollege der Schutzpolizei fort. Tim nickte. Das war das nach Dienstvorschrift übliche Vorgehen. Auch das Befragen von Zeugen fiel eindeutig in den Aufgabenbereich der Kriminalpolizei. Sobald eine unnatürliche Todesursache festgestellt wurde, schaltete die Schutzpolizei die Kriminalpolizei ein und blieb am Tatort, bis die Kriminalpolizei eintraf und übernahm. „Braucht ihr uns noch oder können wir fahren?“, wollte jetzt der jüngere Polizist ungeduldig wissen. Mittlerweile hatte sein Gesicht wieder eine gesunde Gesichtsfarbe. Allerdings vermied er immer noch jeden Blick zu dem Toten. Tim hatte den Eindruck, als ob er gerne so schnell wie möglich wieder die Streifenfahrt fortsetzen wollte. „Ihr könnt gleich wieder los. Es würde