arbeitenden Menschen um seinen wohlverdienten Lohn prellen?»
Der Wirt wurde unsicher. Einerseits sagt keiner einem anderen gerne ins Gesicht, dass er ihn für einen Schwindler und Betrüger hält, andererseits konnte es sein, dass sie zahlungsfähig waren. Und außerdem bestand die Möglichkeit, dass sie sich zu Stammgästen entwickeln, und Stammgäste bedeuten einen regelmäßigen Umsatz.
«Worum geht es denn?», fragte er so desinteressiert, wie nur möglich.
«Wir streiten darüber, wer von uns die schönste Geschichte erzählen, wer die Herzen der anderen am besten rühren kann.»
Der das sagte, machte den Eindruck, als habe er schon viele Geschichten erzählt und erlebt.
Das Leben hatte Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Tiefe Furchen zogen von einer Augenbraue zur anderen. Die Augen waren schmal von der Sonne und wurden von wuchtigen Augenbrauen eingerahmt.
«Und was soll ich da machen?», wollte der Wirt wissen.
Der Alte ließ ein kaum merkliches Lächeln über sein Gesicht huschen.
«Sie brauchen sich nur zu uns setzen und urteilen.» Er machte eine umfassende Armbewegung. «Wir erzählen die Geschichten, Sie hören zu.»
Der Wirt überlegte. Eigentlich konnte nichts passieren. Die würden sich anstrengen und er hätte seinen Spaß.
«Und was soll dabei am Ende herauskommen?»
Der Alte machte eine vielsagende Mine.
«Derjenige, der die ihrer Meinung nach bester Geschichte erzählt hat, bekommt die Zeche erlassen.»
‹Aha!›, dachte der Wirt, ‹was soll’s›. Wanderer hatten schon zu Urzeiten das Recht, als Berichterstatter und Unterhalter zu fungieren. Dafür bekamen sie freie Kost und Unterkunft. Diesem ehernen Recht wollte er sich nicht widersetzen.
«Gut. Aber wenn mir keine der Geschichten gefällt. Was, wenn ich sogar über der Erzählung einschlafen sollte?»
«Sollte das geschehen, können Sie gerne die Polizei rufen und wir werden ohne zu murren dem Amtmann folgen.»
Das war deutlich. Der Wirt ging darauf ein. So nahm der Abend seinen Lauf.
Der Wanderer mit den buschigen Augenbrauen nannte sich Hannibal. Er richtete seinen Oberkörper auf und rückte sich auf dem Stuhl zurecht.
Er nahm sich sogar die Freiheit, sich aus der Tabakdose des Wirtes zu bedienen, krümelte den Schnupftabak auf seinen Handrücken und sog ihn langsam und genießerisch in die Nase.
«Bestimmt», begann er, «kann sich jeder von Euch an einen Menschen erinnern, der alt, sehr alt war oder ist. Nun ist es bei solch alten Menschen oft so, dass sie mit den Jahren nicht mehr wissen, warum sie noch leben.» Er nieste kurz und laut und wischte die Nase mit dem Jackenärmel ab.
«Sie haben alles Erleidbare erlitten, haben alles Erlebbare erlebt. Sie haben geliebt oder gehasst, haben gelebt und sich am Leben erfreut. Dann, am Abend ihrer Tage, wenn sich alle und alles zurückgezogen haben, sehen sie keinen Sinn mehr.»
Hannibal holte Atem und entzündete eine Pfeife. Der Rauch des schlecht glimmenden Tabaks biss in der Nase. Dicke Schwaden stiegen auf und sanken wie Nebel herab. Lange und ohne ein Wort zu sagen, versuchte er die Glut zu entfachen. Es kamen nur schmatzende Geräusche aus seinem faltigen Mund.
Als es ihm endlich gelungen war, trank er einen Schluck Wein. Er warf einen Blick auf den leeren Becher und der Wirt brachte einen neu gefüllten Krug.
Etwas Geisterhaftes erfüllte die Atmosphäre. Jedem lagen Fragen auf der Zunge, und doch sprach sie keiner aus.
«Tja, wie soll ich sagen. So einen Menschen kannte ich lange. Fast mein Leben lang.»
Er war alt und gebrechlich geworden. Doch seine Gebrechlichkeit bezog sich weniger auf den Körper, als auf den Willen zum Leben. Immer öfter sprach er davon, dass für ihn das Leben sinnlos geworden sei, dass er sein Leben gelebt, seine Tage und Erfüllungen, seine Ängste und Freuden gehabt habe.
Nun, da ihn die Kinder verlassen hätten, da er Tag um Tag allein in seinem Haus sei, da die Tage von ihm wie spröde gewordener Schmutz abbröckelten, wolle er nicht mehr leben. Er begriff nicht, weshalb er weiterleben sollte und andere, junge Menschen einen oftmals sinnlosen Tod sterben mussten. Und in tiefer Verzweiflung ging er eines Tages zu seinem Pfarrer.
«Warum Ehrwürden, warum muss ich leben?», fragte er. «Wozu soll ich noch da sein, wozu mich Tag um Tag über die Stunden quälen, ohne zu wissen, wofür?»
Der Geistliche war bestürzt über diese Frage.
Er sagte etwas von Bestimmung und Gottes Plan. Er sagte auch etwas über das Leben, das doch zu schön sei, um es einfach wegzuwerfen. Der Alte solle solche Gedanken gar nicht haben. Nicht nach einem erfüllten Leben.
Der Alte hörte nur mit halbem Ohr hin.
All das hatte er schon einmal gelesen, hatte es damals in der Schule im Katechismus vorgebetet bekommen, hatte es sogar seiner sterbenden Mutter als Trost ins Ohr geflüstert, als diese im Todeskampf am Glauben zu verzweifeln drohte. Sie wollte noch leben und durfte nicht.
«Mutter, wir wissen nicht, wozu es gut ist, aber wir müssen uns fügen.», hatte er ihr gesagt. Es war schon sehr lange her, zu lange, als dass er sich seiner Worte und ihrer heilenden Wirkung erinnern konnte. Die Mutter war damals in Frieden eingeschlafen.
Nun aber wollte er selbst einschlafen, für immer schlafen, doch dieses verdammte Herz in seiner Brust hämmerte Tag um Tag. Jeden Morgen trieb es ihn aus dem Bett, schien mit jedem Schlag ihm zuzurufen: Steh auf!
Und an jedem Morgen sagte er sich: Nein!
Er sagte sich immer öfter dieses Nein, doch es blieb ohne Wirkung.
Einmal versuchte der Alte, das Schicksal zu zwingen. Er blieb einfach liegen. Und als die Nachbarin an seine Tür klopfte, ihn im Bett liegend fand, sagte er: Ich muss sterben, und blieb liegen.
Er nahm es sich fest vor. Wenn er beim Sterben vergessen worden war, dann wolle er an sich erinnern. Denn, so hatte er auch gelernt: Gott sieht alles!
Der würde ihn schon sehen, hier im Bett.
Wenn er sich anstrengen würde, hätte Er vielleicht ein Einsehen und würde sich sagen, dass er viel zu krank und zu alt war zum Leben. Dann würde er sterben dürfen.
Das stellte er sich schön vor, wie eine wunderbare, ewig dauernde Wanderung. So wie in seiner Kinderzeit, als er mit dem Vater durch die sonntäglichen Wälder zog, rechts und links des Weges den Farn mit einer Gerte peitschend.
Und am Ende des Weges würde ein Licht sein, so groß, dass es alles zu verschlingen drohte. Er würde hineingehen in dieses Licht, würde selbst Licht werden.
Hannibal machte eine Pause, denn seine Pfeife war erkaltet und der Wein warm geworden. Er trank den sauren Rebensaft in einem Zug und fingerte in der Hosentasche nach einem Zündholz.
Beim Saugen am Mundstück entstand wieder das schmatzende Geräusch, welches der Schwäche seiner Lippen geschuldet war.
Auch seine Zuhörer nutzten die Pause zu derlei Dingen.
Der eine trank und rülpste danach wie ein Landsknecht, der andere reinigte seine vergilbten Zähne mit einem abgebrochenen Zündholz. Nur der Wirt saß da und konnte es kaum erwarten, bis es weiterging.
«Und was war nun mit dem Alten?»
Hannibal sagte nichts, doch einer seiner Kumpane wandte sich an den Wirt.
«Eine gute Geschichte will überlegt sein, Herr Wirt. Sie braucht, wie ein guter Wein, Pausen, um zu reifen. Und wie bei einem guten Mahl muss man sich zwischendurch den Nachgeschmack wegspülen, um das Aroma der gesprochenen Sätze nicht mit in die weitere Erzählung hineinzunehmen.»
Der Wirt schwieg betreten.
«Entschuldigt bitte die Ungeduld.»