Helmut Tack

Drei Wanderer


Скачать книгу

der beiden Bäume zu Boden gestürzt war, nein, es war die frische, die junge Pappel. Das interessierte mich sehr.»

      Ich klebte an seinen Lippen, als wäre ich dort festgefroren.

      «Jeder Mensch weiß wohl, wie hart das Holz dieses Gewächses ist. Warum brach eine junge, voll und satt grünende Pappel zusammen? Ich ließ mich von meinem Hochstand heruntergleiten und ging zum gerade gestorbenen Baum.» Wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht, von dem nur er wusste, was es zu bedeuten hatte.

      «An der gestürzten Pappel angekommen, bemerkte ich zunächst nichts Ungewöhnliches. Jedoch als ich mir den kaum über den Boden hinausragenden Stumpf ansah, stellte ich die Ursache für den frühen Tod des Baumes fest. Der Stamm war fast völlig ausgehöhlt, hatte im Inneren eine ungesunde grün - braune Farbe angenommen. Es wurde mir übel von dem fauligen Geruch, der dieser Ruine entströmte.» Der Alte rümpfte die Nase. Wedelte vor seinem Gesicht herum.

      «Es stank ekelerregend. Ich wusste nicht, dass Holz so riechen kann. Der Baum war trotz seiner äußerlichen Erscheinung schon sehr lange dem Tode geweiht, hätte sicherlich bald seine Blätter verloren, wäre ein langsames trauriges Ende gestorben.» Er nickte heftig in meine Richtung.

      «Ja, ich glaube, dass auch Bäume sterben. Und wenn schon nicht sie, dann doch die Tiere, die ihn als Nahrung brauchen. Bei diesem Gedanken blickte ich zu dem alten Baum. Was ich da sah, ließ mich alle Antworten finden, die ich jahrelang gesucht hatte.

      Am Fuß der alten Papel tummelte sich allerlei Getier, suchte Schutz und Nahrung. Dieser Baum hatte seine Daseinsberechtigung, war noch mit Sinn im Leben.» Das Lächeln des Alten wechselte in den Zustand tiefer Erkenntnis. Solche Erkenntnis, wie sie nur ein im Glauben ruhender Mensch haben kann.

      Ihr habt sicher alle schon einmal ein Bild Buddhas gesehen. Ein solches Lächeln meine ich.

      «Während der andere nur noch eine Hülle war, die über sein wirkliches Leiden hinwegtäuschte, war dieser ganz auf die bedacht, die ihn brauchten, und verschwendete nicht seine Kräfte an eine leere, zerfressene Hülle. Ich stand auf und ging aus dem Wald.» Er sank in sich zusammen, als wäre er bei etwas ertappt worden.

      «Ich war noch keine fünf Minuten gewandert, da fiel mir ein, dass ich meinen Strick hatte hängenlassen. Also ging ich zurück, um ihn zu holen. Ich wollte ihn wiederhaben. Nicht, weil ich ihn nicht entbehren kann, nein, er sollte mir Erinnerung sein, wenn ich mal wieder verzweifele.

      Und hol es der Teufel. Ich fand die Lichtung nicht mehr. Obwohl ich meinen Spuren folgte, blieb sie unauffindbar. Genau an der Stelle, wo sie noch zehn Minuten zuvor war, fand ich nur Unterholz und Gestrüpp. Ich begriff alles und ging leichten Herzens nach Hause.» Der Alte trank seinen inzwischen wohl kalt gewordenen Kaffee mit einem Zug aus.

      «Unterwegs überfiel mich die Sorge um Dich. Und ich schämte mich dafür, dass ich Dich bestimmt geängstigt hatte. Es muss schlimm gewesen sein, und es tut mir aufrichtig leid.»

      Ich verstand immer noch nicht, was der Alte mir mit der Geschichte sagen wollte.

      «Aber was hat denn nun die Pappel mit Deinem Leben zu tun?», wollte ich wissen.

      Der Alte wurde ganz still. Er drehte sein von Falten durchfurchtes Gesicht mir zu, und einen Augenblick lang glaubte ich meinen Vater in ihm wiederzuerkennen.

      «Genau das: Ein Leben hat solange Berechtigung, wie es auch nur eine einzige Aufgabe hat. Selbst wenn uns diese noch so nichtig erscheint, für einen anderen hat sie vielleicht allumfassende Bedeutung.» Er hob belehrend den Zeigefinger.

      «Und solange ein Mensch auch nur einen Gedanken an ein anderes Wesen hegt, ist diese Aufgabe schon erfüllt.

      Genau das hat ER mir damit gesagt. Nun habe ich Ruhe.»

      Ich verstand ihn.

      Sein Sohn kümmerte sich schon seit Jahren um keinen Menschen mehr, hatte jedes Quäntchen Menschlichkeit und Mitgefühl verloren. Seine Krankheit hat dem nur ein Ende bereitet.

      Die Frau des Alten war jahrelang auf den Tod krank gewesen. Doch sie hatte trotzdem die Sorge um den Hof und die Familie mit dem Alten geteilt. Erst als sie nichts mehr von dem mitbekam, was um sie und mit ihr geschah, starb sie.

      Der Alte hatte zumindest durch meine unregelmäßigen Besuche eine Erfüllung seiner Tage. Wenn er schon nicht mehr für seinen Sohn den Hof erhalten konnte, so doch wenigstens dafür, dass wir es gemütlich hatten, wenn ich kam.

      Hannibal kramte ein schmutzstarrendes Taschentuch aus der Hose und schnäuzte sich.

      Die anderen saßen mit betretenen Gesichtern da.

      Als wäre ein Damm gebrochen, sprudelten sie ihm die einzig offene Frage entgegen.

      «Aber was ist aus dem Alten geworden?», klang es mehrstimmig.

      Hannibal schnäuzte sich noch einmal. Kleine, bittere Tränen rannen über seine Wangen.

      «Ich nahm damals an, er wäre über seinem Leid verrückt geworden und ging nicht mehr hin. Als ich im darauffolgenden Jahr an seinem Hof vorbeikam, fand ich den Garten und das Gehöft völlig verwahrlost vor. Ich rief nach dem Alten, doch er antwortete nicht. Eine Nachbarin hörte die Rufe und kam auf den Hof.»

      «Da sind Sie ja endlich», rief sie, als hätte sie mich schon lange erwartet. Sie breitete die Arme aus, als würden wir uns kennen und immer so begrüßen.

      «Wo um Gottes willen wo waren Sie denn?»

      Als ich sie nach dem Alten fragte, erzählte sie.

      «Ach», seufzte sie, «der Arme. Ich habe ihn oft am Gartentor stehen sehen, wie er den Weg hinuntersah.»

      Sie wies mit dem Kinn den Weg entlang.

      «Als ich ihn einmal fragte, worauf er wartet, hat er mir gesagt: Auf einen lieben Freund. Dann hat er mich nur angebrummt.» Sie schnäuzte sich, als würde sie unter einen heftigen Sommerschnupfen leiden.

      «Irgendwann stand er nicht mehr am Gartentor. Es war mir seltsam vorgekommen, aber ich wollte ihn nicht behelligen. Er begann die Nachbarn, die Kirche und die Enkel mit Geld zu beschenken.» Sie tupfte sich die Augen und machte ein Gesicht, als würde sie gerade eine Todsünde gestehen.

      «Nicht, dass Sie denken wir hätten das erwartet oder vielleicht ihn dazu bewegt. Nein, er tat es einfach so. Ich glaube, es machte ihm Freude.» Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Kopftuch flatterte.

      «Natürlich erfuhren seine Kinder davon. Sie ließen ihn entmündigen. Nicht nur so ein bisschen.» Mit bebenden Fäusten zeigte sie ihren Zorn darüber. «Vollständig, sage ich. Was eine Schande!» Sie beruhigte sich und ließ die Arme hängen.

      «Das hat ihm dann endgültig das Herz gebrochen und er starb kurz darauf.» Tränen bahnten sich den Weg über ihre rosa Wangen.

      «Wir haben ihn gefunden. Der Pastor und ich, als wir ihm den Sonntagssegen bringen wollten.» Sie wies auf das Haus.

      «In der Küche saß er auf seinem Stuhl. In sich zusammengesunken und einsam. Der arme Alte!» Sie konnte nicht mehr an sich halten und lief laut schluchzend davon.

      «Der arme Alte! Was für ein Unglück!»

      *

      Hannibal trank seinen Becher aus und stellte ihn sanft, als wollte er ihn streicheln, auf den Tisch zurück.

      Der Gastwirt wischte sich die Tränen aus dem feisten Gesicht. Er sah sich um. Die Gaststube war leer. Alle waren gegangen.

      «Es ist früh am Morgen», durchbrach er die Ruhe.

      «Die Zeche geht auf meine Rechnung. Das ist mein Vorschlag: Wir gehen schlafen und treffen uns heute Abend wieder hier. Ich lasse Euch ein Zimmer richten, damit Ihr einen ruhigen Schlaf habt.» Sprach es und lud die drei Wanderer nach oben in die Pension ein.

      Es war ein schönes Zimmer. Es warm war und sauber. Das war alles, wonach sie sich sehnten, ein Zimmer, welches ein Zuhause ausstrahlte. Es waren nur drei Betten darin. Ein eigenes Bad hatten sie nicht.