A. F. Morland

Auswahlband 11 Top-Krimis Herbst 2018 - Thriller Spannung auf 1378 Seiten


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Schatten. Er spähte zu den Bussen hinüber, während er Pläne entwarf und seine Chancen abwog. Dann entschied er sich gegen eine Fortsetzung seiner Reise mit dem Bus. Wenn die Deputys erkannten, dass es einen zweiten Mann geben musste, der einen der ihren reingelegt hatte, würden sie die Greyhounds von der Highway Police anhalten und jeden Fahrgast überprüfen lassen, der in Xavier zugestiegen war.

      Die Straße nach Westen führte in die Indianer Reservation. Es gab mehrere Tankstellen und Autowerkstätten, die alle geschlossen waren. Roberto sah sich aufmerksam um. Er entschied sich für eine kleine Tankstelle mit einem angeschlossenen flachen Wohngebäude hinter dem Werkstattschuppen. Vor dem Schuppen stand ein verbeulter Chevrolet, der schon ziemlich alt sein musste, aber die Reifen waren in Ordnung. Vielleicht hatte der Besitzer dieses Altertums auch die Maschine gepflegt.

      Roberto ging um das kleine Wohnhaus herum. Es gab noch eine Seitentür, neben der sich leere Getränkekisten stapelten. Roberto hämmerte gegen die Tür.

      Hinter einem schmutzigen Fenster entstand eine Bewegung. Roberto machte einen Schritt zur Seite, so dass er vom Licht einer Lampe erfasst wurde. Er hielt die rechte Hand hoch. Zwischen den Fingern hielt er einen Fünfzig Dollar Schein.

      „Ich möchte mit Ihnen reden“, sagte Roberto halblaut. Er hielt die linke Hand so, dass der Mann sie sehen konnte.

      Der Besitzer der Tankstelle schob das Fenster in die Höhe. Roberto sah ein fleischiges, glänzendes Gesicht mit kleinen dunklen Augen. Über den weißen Zähnen wucherte ein schwarzer Schnurrbart. Der Mann trug nur ein schmuddeliges Unterhemd, das kräftige runde Schultern freiließ.

      „Was wollen Sie von mir, Señor?“, fragte der Mann mit dunkler, unsicherer Stimme.

      „Ich brauche jemanden, der mich ein Stück fährt und keine Fragen stellt.“

      „Ein Stück fährt? Wohin, Señor? In einer Stunde muss ich die Tankstelle öffnen!“

      „Ich muss nach Tucson, nicht weiter. In einer Stunde sind Sie längst zurück“, sagte Roberto. In Tucson, wusste er, gab es zwei größere und mehrere kleinere Flugplätze.

      „Jetzt?“

      „Ja, jetzt sofort.“ Roberto sah in die glitzernden Augen hinter den fleischigen Wülsten. Dann machte er einen langsamen Schritt auf das Fenster zu und streckte die Hand mit dem Geldschein aus.

      Der Mexikaner schnappte die Note und hielt sie an seine Augen.

      „Das sind ja fünfzig Dollar!“, rief er atemlos.

      „Yeah, und Sie bekommen nochmal fünfzig, wenn Sie mich in Tucson absetzen. Beeilen Sie sich.“

      „Si, Señor, sofort, Señor, ich komme.“

      Das Fenster fiel herab, und hinter der nahezu blinden Scheibe leuchtete eine Birne auf.

      Zwei Minuten später warf Roberto seinen Koffer hinten in den Chevy und stieg zu dem dicken Mexikaner in den Wagen. Der Mann hieß Andres Verdugo. Er war ein As am Steuer, und er kannte sich in Tucson aus. Er kannte sogar einen Piloten, der ein eigenes Sportflugzeug besaß und der es, ohne Fragen zu stellen, vercharterte.

      Roberto lächelte erleichtert. In Andres Verdugo hatte er den richtigen Griff getan.

      „Okay, Andres“, sagte er. „Fahren Sie mich zu dem Piloten.“ Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Ganz plötzlich wurde ihm bewusst, wie müde und erschöpft er war.

      17

      G-man Art Freed stellte seinen Leihwagen in der engen Lieferantendurchfahrt zwischen dem Strip und der Vine Street ab. Er schaltete die Scheinwerfer aus und zwängte sich aus dem Wagen.

      Deutlich war das Zischen der Reifen auf dem breiten Boulevard zu hören, und der Himmel glühte im Widerschein der Millionen Lichter. Doch hinter den Bluff Fassaden der Amüsierlokale herrschte Finsternis.

      Freed sah an den Mauern hinauf, deren Kronen mit Stacheldraht oder Glasscherben bestückt waren. Er drückte mit der Schulter gegen die eiserne Pforte, doch die Tür war verriegelt und ließ sich nicht bewegen.

      Freed sprang auf die Motorhaube und kletterte aufs Dach, wo er sich duckte und über die Mauer in den Hof hinter dem La Brace spähte.

      Viel war dort nicht zu erkennen. Durch zwei schmale vergitterte Fenster sickerte etwas Licht, das sich auf Gerümpel verlor.

      Freed zögerte noch einen Moment. Wenn er über die Mauer stieg, ließ er endgültig einen Abschnitt seines Lebens hinter sich, den er für unveränderbar gehalten hatte.

      Er versuchte sich klarzumachen, dass er in Notwehr handelte, wenn er diese Bar durch den verschlossenen Hintereingang betrat. In dem Lokal oder in dem Gebäude, in dem sich die Bar befand, hielt sich ein gesuchter Mörder auf. Der Vordereingang kam für Freed also nicht in Betracht. Die Monitorkamera über dem Eingang würde sein Bild ins Hinterzimmer übertragen, und Augie Orlando würde verschwinden denn der Gangster kannte Freed nur zu gut.

      Art Freed stieg auf die Mauerkrone hinüber, wo er sein Gewicht ausbalancierte, ohne sich mit den Händen abzustützen. Unter seinen Schuhsohlen knirschte Glas. Er starrte in die Finsternis unterhalb der Mauer, biss die Zähne zusammen und sprang.

      Sein rechter Fuß traf auf ebenen Boden, während der andere auf einem kantigen Stück Holz landete und umknickte. Der Aufprall schleuderte Freeds Körper halb herum. Er schrammte mit der Schulter an der Mauer entlang, ehe es ihm gelang, sich irgendwo festzuklammern. Ein stechender Schmerz ging von dem geprellten Fußgelenk aus. Freed atmete flach. Er spürte, wie sich sein Gesicht mit Schweiß überzog. Vorsichtig belastete er den Fuß, dann humpelte er zu der Metalltür in der Mauer.

      Freed fand den Riegel und fuhr seinen Umriss mit den Händen nach. Der Riegel bestand aus Flachstahl, der in einem gefetteten Schienenpaar lief. Behutsam schob er den Riegel zurück und versuchte, die Tür zu öffnen.

      Sie war zusätzlich abgeschlossen. Das Schloss vermochte Freed ohne Werkzeug nicht zu knacken. Er hätte gern den Weg über den Hof als Fluchtweg benutzt, aber es machte ihm nichts aus, seinen Plan zu ändern. Wenn er erst einmal in der Bar Taccani oder Orlando gegenüberstand, war der heiße Krieg eröffnet.

      Er bewegte sich über den Hof. Viel Zeit hatte er vermutlich nicht für seinen Angriff, denn jeden Augenblick konnte der Wagen entdeckt und Alarm geschlagen werden. Einmal stieß er gegen eine Kiste. Es gab ein ziemlich lautes Geräusch, und er zog unwillkürlich die Schultern hoch.

      Er fand die hintere Tür ebenfalls verschlossen. Draußen gab es nicht einmal einen Drehknauf oder ein Schlüsselloch. Der Spalt zwischen Tür und Rahmen war so schmal, dass nicht einmal das dünne elastische Material einer Kreditkarte hineinpasste.

      Mit jäher Deutlichkeit wurden ihm die Verwegenheit und Aussichtslosigkeit seines Vorhabens bewusst. Bis hierher und nicht weiter, das schien die verschlossene Tür auszusagen. Leute wie Taccani, Orlando und ihre Hintermänner wussten sich vor Überraschungen zu schützen. Er hätte es wissen müssen, dachte er niedergeschlagen. Er hätte wissen müssen, dass sie einen Außenstehenden nicht so einfach in eine ihrer Geldsammelstellen marschieren ließen.

      Oder?

      Wie oft hatte er sich über die scheinbare Sorglosigkeit der Mafiosi gewundert, über ihre Unbekümmertheit, mit der sie sich ihren potentiellen Feinden präsentierten. Bis er erkannt hatte, dass sie damit nur ihre Stärke demonstrierten. Sie fühlten sich so unsagbar sicher vor Angriffen aus allen nur denkbaren Richtungen.

      Die Behörden fürchteten sie am wenigsten. Deren Angehörige waren an Gesetze und Vorschriften gebunden. Bei Bedarf bedienten sie sich dieser Gesetze – aber nur bei Bedarf.

      Andere Gesetzlose hatten sie nicht zu befürchten. Kein noch so verwegener Unterweltler war so vermessen, gegen die Gesetze der Ehrenwerten Gesellschaft zu verstoßen oder auch nur ihre Kreise zu stören. Wer es dennoch tat, wurde erbarmungslos verfolgt, unerbittlicher, als es das Gesetz tat.

      Die Mauer der Furcht war sehr hoch.

      Aber für Art Freed hatte sie ihren Schrecken