bleibt, überlebt. Es sei denn er besitzt Flügel. Das kostet zwar Energie, das Problem wird aber lösbar. Geplapper, Geschrei und Gesummse in ohrenbetäubender Lautstärke kommt von den Delikatessläden, Restaurants und Straßencafés in dieser Etage. Hier geht es zu wie auf dem Viktualienmarkt an einem schönen Sommertag. Ein Gedränge an Käfern, Grillen, Vögeln, Affen, Bienen, Ameisen, Schlangen, Baumkatzen, die im Angebot der Blüten, Früchte und Beutetiere baden. Und natürlich kann man hier auch potenzielle Partner mit und ohne Sinn für Familiengründung kennenlernen.
Noch weiter höher, in der obersten Lebensraumetage, die bis erstaunliche 65 Meter reicht, wachsen solch Urwaldriesen wie die Paranussbäume. Man nennt sie auch Überständerbäume, weil man von ihnen, wie vom höchsten Hochhaus aus runter auf die Stadt, auf das Kronendach des Regenwaldes schauen kann. Diese exklusiven Büroetagen mit atemberaubendem Blick sind für besonders exaltierte Arten wie Orchideen und Orchideenbienen reserviert. Viele Orchideen sind von Haus aus Aufsitzerpflanzen, was so viel bedeutet, dass sie am liebsten in lichten Höhen der Astgabeln von Bäumen herumlungern. Und hier, in diesem obersten Lebensraum des Regenwaldes, finden wir die verzwickte Symbiose zwischen Orchideenbienen, Orchideen und Paranussbäumen (Details dazu in Kapitel 3).
Kein Wunder, dass in diesem Ökosystem die meisten noch unbekannten Insekten- und Bienenarten vermutet werden. Erstens paradiesisch für Insekten, zweitens nicht gerade paradiesisch für Menschen. Immerhin müssen sie sich durch unwegsamen Dschungel zwängen, bis zu 40 Meter am Seil in die Höhe klettern, um hinterher auch noch auf den Ästen dort oben herumzubalancieren. Dabei sollten sie unbedingt schwindelfrei sein, denn Gravitation hätte hier besonders ätzende Folgen. Das alles schaffen nur Besessene oder Forscher. Daher erscheint uns dieser Lebensraum immer noch unnahbar, unerforscht, unfassbar. Dennoch erobern zunehmend Mitarbeiter vieler Pharmafirmen diesen Lebensraum: logischerweise nicht wegen neuer Bienenhighlights, sondern wegen neuer Heilsubstanzen und das liebe Business.
Ökosysteme
Lebensräume, Habitate, Biotope, ökologische Nischen, Ökosysteme. Vom simplen Raum zum System. Ökosysteme stehen nach der genetischen Vielfalt, der Vielfalt der Arten und der Lebensräume für die höchste Organisationsstufe der Biodiversität. Wir befinden uns in der Königsdisziplin. Wer sich hier ein wenig auskennt, der hat es drauf. Wie dreidimensionale Zahnräder sind Organismen mit anderen Organismen und haufenweise abiotischen Faktoren wie Klima, Bodenbeschaffenheit und Stoffflüsse dynamisch verbunden. Dadurch entstehen Ökosysteme, deren Komplexität bisher nur zu ahnen ist. Ein System verdient nur dann diesen Namen, wenn hier die Zahnräder dieser vielfältigen Dimensionen nicht nur ineinandergreifen, sondern auch noch reibungslos funktionieren. Es sollte klar sein wer welche Position auf dem Fußballplatz des Ökosystems übernimmt, sonst gibt es ein Riesenkuddelmuddel und alle purzeln durcheinander oder rennen schlichtweg zum falschen Tor. Zugegebenermaßen hatten einige Ökosysteme bereits ein paar Milliönchen Jahre Zeit, sich nicht nur Gedanken darüber zu machen wie ein Miteinander am besten funktionieren könnte, sondern auch ein bisschen Muße, es einfach mal auszuprobieren und ständig nachzubessern.
Die Ökologie ist diejenige wissenschaftliche Disziplin, die versucht zu verstehen, wie Ökosysteme tatsächlich funktionieren. Ernst Haeckel lieferte als Vater der Ökologie 1866 eine erste Definition: „Unter Oecologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle Existenz-Bedingungen rechnen können. Diese sind theils organischer, theils anorganischer Natur … von der grössten Bedeutung für die Form der Organismen, weil sie dieselbe zwingen, sich ihnen anzupassen.“ Und Frederic Vester hat als Biokybernetiker mehr als hundert Jahre später das so richtig sichtbar gemacht. Seine nach ihm benannten „Vester-Netze“ visualisieren prägnant die Zusammenhänge, die Verknüpfungen und die daraus resultierende Stabilität eines Ökosystems. Vester war es auch, der daraufhin den Begriff des „vernetzten Denkens“, dem Denken in Kreisläufen und Zusammenhängen für uns, schuf. Als einer der Ersten machte er die Folgen des bis dahin oft egoistischen und planlosen Ausbeutens der Natur durch uns Menschen plakativ. Damit wurde er zu einem Vordenker der Umweltbewegung. Also statt eines „Ich kam, sah und siegte“, besser ein „Ich sehe, kapiere und handele als ein Teil des ganzen Systems“. Die Ökologie steht für eine Systemwissenschaft, da in ihr Erkenntnisse aus vielen anderen, naturwissenschaftlichen Disziplinen wie in einer Regentonne zusammenfließen. Das macht es nicht gerade einfacher.
Aber wie entstehen eigentlich Ökosysteme und wie sieht ein klassisches Start-Up dieser Branche aus? Zu Beginn werden erst mal wenige Beziehungen aufgebaut, weil nur ein paar versprengte Organismen zur Stelle sind, die Interesse an solch rohen Bedingungen haben könnten. Es ist eben alles noch ziemlich wüst und leer. Ein Vulkanausbruch oder eine Überschwemmung hat soeben stattgefunden. Pionierpflanzen sind die ersten Mutigen, die diesen neu entstandenen Lebensraum erobern. Das ein oder andere nützliche Bakterium sollte im Boden vorhanden sein und das ein oder andere Bienchen als Bestäuber vorbeikommen. Besonders stabil ist dieses Unternehmen allerdings nicht gerade. Falls trotz widriger Umstände die Start-Up Idee einschlägt, erfolgt in der zweiten Ausbaustufe ein reger Zuwachs. Alles wird vielfältiger und dichter. Neue Verknüpfungen und Verbindungen entstehen, neue Mitarbeiter ergänzen die kleine Start-Up-Truppe und lange Kontaktlisten potenzieller Geschäftspartner werden geführt. Aber die Qualität dieser Beziehungen ähnelt der von Teenagern, die sich schnell mit vielen Gleichaltrigen anfreunden. Superstabil und lebenslang halten diese vielen Bindungen selten. Später hingegen, in einem highend Ökosystem und in einem fortgeschrittenen Menschenleben, unterhält nicht jeder mit jedem eine Beziehung. Notwendigkeiten und Vorlieben bilden jetzt Vernetzungen, die über mal dicke und mal weniger dicke Knoten gebündelt sind. Knoten bringen richtig Stabilität ins System. Das neuronale Netzwerk im Gehirn des Homo Sapiens – es soll das komplexeste System des Universums sein - hat sich das abgeguckt und funktioniert auch über solch Knotenpunkte. Und selbst U-Bahn-Netze konnten nicht widerstehen beim Streber Ökosystem abzukupfern. Jeder kennt die Abbildungen von Nervensystemen oder U-Bahn-Netzen.
Somit sind einige Ökosysteme, die schon lange unter ähnlichen klimatischen Bedingungen existieren durften und viele Knoten bilden konnten, sehr stabil. Das bedeutet: je älter und betagter, desto elastischer, stabiler und resilienter. Auch deshalb beherbergen die Regenwälder der tropischen Zonen die artenreichsten und komplexesten Ökosysteme der Erde. Sie konnten immer wieder ausprobieren, verwerfen, weiterentwickeln. Tropenbewohner hatten eben viel Glück. Kaltzeiten gingen an ihnen ziemlich glimpflich vorbei. Alt sein ist hier prima und macht fit gegen Aussterben.
Normalerweise hält sich eine Art durchschnittlich ein bis zehn Millionen Jahre in einem stabilen Ökosystem. Dann jedoch ist die Zeit reif für den nächsten Schritt: Weiterentwickeln, Aufspalten oder Aussterben. In der Regel folgt das Aufspalten und somit eine Zunahme an Arten. Die jetzt gemäßigten Zonen der nördlichen Halbkugel mussten sich hingegen öfter mal mit einem fetten Eispanzer herumschlagen. Das fanden die meisten Lebewesen im echten Leben mitunter nicht ganz so lustig wie das Säbelzahn-Eichhörnchen aus „Ice Age“, das immerzu fröhlich plappernd hinter seiner Eichel her hüpfte.
Die Hauptschuld an der deutlich schlechteren Laune der Organismen während der Kaltzeiten trägt das Wasser. Es transportiert lebensnotwendige Nährstoffe nun mal in flüssigem und nicht in gefrorenem Zustand. Wasser gilt als der Logistikdienstleister des Lebens und Transport gehört zu seinen Kernkompetenzen im Erdsystem. Ständig schafft es alle möglichen wasserlöslichen Stoffe wie Mineralien, Zucker, Sauerstoff oder Hormone in alle möglichen Ecken der Organismen auf dieser Erde und wieder hinaus. Und es transportiert selbst Unlösliches als Baumaterial für Ökosysteme: Kies für Kiesbänke, Steinbrocken für Steinhaufen, Schlämme und Stäube für fruchtbare Böden. Alles hält es im Fluss und gestaltet und designt. Weil das Wasser aber in Mitteleuropa bis vor ungefähr 10.000 Jahre sehr lange als Gletschereis existierte, gibt es hier nur 2.700 Arten an Gefäßpflanzen, im indonesischen Regenwald hingegen 45.000. Zeit bedeutet hier Vielfalt.
Stabile und gesunde Ökosysteme können elastisch auf Störungen von außen reagieren. Sie verhalten sich nicht so starr wie die Gummimatte an der Eishockeybande, an der der Puck abprallt, sondern federn ab wie das superelastische Spinnennetzt oder der grob gestrickte Wollpullover.